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Leo Trotzki 19310215 Interview des Manchester Guardian

Leo Trotzki: Interview des Manchester Guardian

[eigene (Rück-)Übersetzung des englischen Textes in Writing of Leon Trotsky, Vol. 3, 1930-1931, New York 1973, p. 171-179]

Der Fünfjahresplan und die Welt

Die Weltmeinung über den Fünfjahresplan bestand bis vor kurzem aus zwei grundlegenden Behauptungen, die absolut widersprüchlich sind: erstens, dass der Fünfjahresplan utopisch sei und dass der Sowjetstaat am Rande des wirtschaftlichen Scheiterns stehe; zweitens, dass der sowjetische Exporthandel Dumping beinhaltee, das die Säulen der kapitalistischen Ordnung zu erschüttern drohe. Jede dieser beiden Behauptungen kann als Waffe benutzt werden, mit der man den Sowjetstaat angreift, aber zusammen haben sie den großen Nachteil, dass sie einander radikal entgegengesetzt sind. Die kapitalistische Wirtschaft zu stören, indem man Waren zu niedrigen Preisen anbietet, würde eine noch nie dagewesene Entwicklung der Produktivkräfte erfordern. Wenn der Fünfjahresplan einen Rückschlag erlitten hat und die sowjetische Wirtschaft schrittweise zerfällt, auf welchem wirtschaftlichen Schlachtfeld kann die Sowjetunion dann eine Dumpingoffensive gegen die mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt eröffnen?

Welche dieser beiden widersprüchlichen Behauptungen ist also richtig? Beide sind falsch. Der Fünfjahresplan hat keinen Rückschlag erfahren; das zeigen die Bemühungen, ihn in einen Vierjahresplan umzuwandeln. Persönlich halte ich diesen Beschleunigungsversuch für verfrüht und unklug. Aber die bloße Tatsache, dass es möglich ist, die Tatsache, dass Hunderte von sowjetischen Ökonomen, Ingenieuren, Betriebsdirektoren und Gewerkschaftern die Möglichkeit einer solchen Umwandlung zugegeben haben, zeigt, dass der Plan weit davon entfernt ist, der Misserfolg zu sein, für den er von jenen Beobachtern in Paris, London und New York erklärt wird, die gewohnt sind, die russischen Angelegenheiten durch ein Teleskop zu studieren.

Aber angenommen, wir geben zu, dass dieser gigantische Plan Wirklichkeit werden kann, sollten wir dann nicht auch die Möglichkeit von Dumping in naher Zukunft zugeben? Ziehen wir die Statistik zu Rate. Die Industrialisierung in der UdSSR nimmt mit einer Rate von 20 bis 30 Prozent pro Jahr zu – ein in der Wirtschaftsgeschichte beispielloses Phänomen. Aber diese Prozentsätze bedeuten einen Aufstieg von dem wirtschaftlichen Niveau, das die Sowjetunion von der ehemaligen Eigentümerklasse geerbt hat, einem Niveau erschreckender Rückständigkeit. In den wichtigsten Zweigen ihrer Wirtschaft wird die Sowjetunion auch nach der Verwirklichung des Fünfjahresplans weit hinter den fortgeschritteneren kapitalistischen Staaten zurückbleiben. Zum Beispiel wird der durchschnittliche Kohleverbrauch pro Person in der UdSSR achtmal geringer sein als heute in den USA. Andere Zahlen sind mehr oder weniger analog. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt – d.h. im dritten Jahr des Fünfjahresplans - machen die sowjetischen Exporte etwa 1½ Prozent des Weltexporthandels aus. Welcher Prozentsatz würde nach Meinung derjenigen, die Dumping befürchten, ausreichen, um das Gleichgewicht des Welthandels zu stören? Fünfzig Prozent, vielleicht, 25 Prozent, 10 Prozent? Um auch nur die letzte Zahl zu erreichen, müssten die sowjetischen Exporte um das Sieben- oder Achtfache steigen, was den sofortigen Ruin der russischen Binnenwirtschaft zur Folge hätte. Allein diese Überlegung, die sich auf unbestrittene Statistiken stützt, beweist die Falschheit der Philippika solcher Männer wie der Locker-Lampsons in England und des Repräsentantenhausabgeordneten Fish in Amerika. Es kommt nicht darauf an, ob solche Philippiken das Produkt böser Absicht oder aufrichtiger Panik sind; in jedem Fall täuschen sie die Öffentlichkeit, wenn sie behaupten, dass die sowjetische Wirtschaft versagt, und gleichzeitig behaupten, dass genug russische Waren ins Ausland unter dem Selbstkostenpreis verkauft werden können, um den Weltmarkt zu bedrohen.

Die jüngste Form des Angriffs, der durch den Fünfjahresplan hervorgerufen wurde, erschien in der französischen Zeitung Le Temps, die die gleichen Ziele wie die britischen Betonköpfe verfolgt und ohne Übertreibung als eine der reaktionärsten Zeitungen der Welt bezeichnet werden kann. Vor nicht allzu langer Zeit machte dieses Blatt auf den raschen Fortschritt in der Industrialisierung der UdSSR aufmerksam und forderte alle westlichen Staaten auf, ihre Wirtschaft zu koordinieren, um den sowjetischen Handel zu boykottieren. In diesem Fall war nicht von Dumping die Rede; die Schnelligkeit, mit der die wirtschaftliche Entwicklung voranschreitet, wurde an sich schon als eine Bedrohung angesehen, der man mit energischen Maßnahmen entgegentreten muss. Eines muss betont werden: Eine Wirtschaftsblockade müsste, um wirksam zu bleiben, immer schärfer werden, und das würde schließlich zum Krieg führen. Aber selbst wenn eine Blockade errichtet würde und es zu einem Krieg käme, und selbst wenn das Sowjetsystem durch einen solchen Krieg gestürzt würde – was ich keinen Augenblick für möglich halte –, selbst dann würde das neue ökonomische Prinzip der staatlichen Planung, das sich im Sowjetsystem bewährt hat, nicht zerstört. Ein solcher Kurs würde nur dazu führen, dass viele Menschenleben geopfert und die Entwicklung Europas auf Jahrzehnte aufgehalten würde.

Aber um auf unsere frühere Frage zurückzukommen: Wird der Fünfjahresplan verwirklicht werden? Zunächst müssen wir wissen, was wir unter „Verwirklichung" verstehen, und das ist keine Angelegenheit, die sich wie ein sportlicher Rekord minutiös bestimmen lässt. Ich sehe den Fünfjahresplan als eine Arbeitshypothese, die als Grundlage für ein gigantisches Experiment dient, von dem nicht erwartet werden kann, dass die Ergebnisse genau mit der Hypothese übereinstimmen. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Verästelungen einer Wirtschaft über einen Zeitraum von Jahren lassen sich nicht a priori exakt festlegen. Kompensatorische Korrekturen müssen im Verlaufe der Arbeit selbst vorgenommen werden. Ich bin aber durchaus der Meinung, dass unter Berücksichtigung notwendiger Korrekturen und Änderungen der Fünfjahresplan realisierbar ist.

Sie fragen, worin sich meine Meinung in dieser Frage von derjenigen der gegenwärtigen Sowjetregierung unterscheidet. Lassen wir die politische Frage und die Frage der Kommunistischen Internationale ganz beiseite, denn diese Dinge haben keinen Einfluss auf die Anwendung großer hypothetischer Perspektiven in der Wirtschaftsplanung. Im Gegenteil, ich habe diese Methode mehrere Jahre lang gegen diejenigen verteidigt, die sie jetzt anwenden. Ich bin der Meinung, dass der Fünfjahresplan früher hätte in Angriff genommen werden müssen. Es sollte hier erwähnt werden, dass die ersten Entwürfe für den Plan eine jährliche Steigerung, beginnend mit 9 Prozent und allmählich sinkend auf 4 Prozent, vorsahen. Gegen die Senkung, die damals von der Stalin-Rykow-Gruppe gefördert wurde, erhob die Opposition vehementen Protest. Deshalb wurde ihr der Vorwurf der Superindustrialisierung gemacht. Als Ergebnis unserer Kritik sah der zweite Entwurf, das 1927 ausgearbeitet wurde, eine durchschnittliche jährliche Steigerung von 9 Prozent vor. Die Opposition fand diese Zahl angesichts der Möglichkeiten einer verstaatlichten Wirtschaft völlig unzureichend. Die kapitalistische Industrie im zaristischen Russland erbrachte im Durchschnitt fast 12 Prozent Profit, wovon die eine Hälfte von den Eigentümern konsumiert wurde, während die andere Hälfte zur Steigerung der Produktion verwendet wurde. Jetzt, unter der Verstaatlichung, können fast die gesamten 12 Prozent zur Steigerung der Produktion verwendet werden. Dazu kommen die Einsparungen, die durch die Abwesenheit von Konkurrenz, die Zentralisierung der Arbeiten nach einem einheitlichen Plan, die Einheitlichkeit der Finanzierung und andere Faktoren bewirkt werden. Wenn ein gut organisierter Trust einen enormen Vorteil gegenüber isolierten Industriebetrieben genießt, welchen Vorteil muss dann eine verstaatlichte Industrie, ein regelrechter Trust von Trusts, haben? Deshalb habe ich ab 1922 den möglichen jährlichen Zuwachs der Industrie mit über 20 Prozent angesetzt. Dieser Prozentsatz hat sich schließlich als Grundlage des Fünfjahresplans durchgesetzt, und die Erfahrung hat nicht nur die Richtigkeit dieser hypothetischen Berechnung bewiesen, sondern auch gezeigt, dass sie wahrscheinlich übertroffen werden wird.

Unter dem Einfluss dieses Erfolges, auf den die gegenwärtige Führung selbst nicht vorbereitet war, gab es eine Tendenz, in das entgegengesetzte Extrem zu gehen. Obwohl Russland nicht ausreichend darauf vorbereitet ist, wird die Verwirklichung des Plans in vier Jahren angestrebt, und die Aufgabe wird fast wie ein sportliches Problem verfolgt. Ich bin ganz und gar gegen dieses Übermaß an bürokratischem Maximalismus, der die groß angelegte Steigerung der verstaatlichten Industrie gefährdet. Im Laufe des letzten Jahres habe ich mehrmals davor gewarnt, die Kollektivierung der Landwirtschaft zu sehr zu beschleunigen. So scheinen jetzt die Rollen vertauscht zu sein: Die linke Opposition, die jahrelang für die Industrialisierung und Kollektivierung gekämpft hat, fühlt sich jetzt in der Pflicht, die Bremse zu ziehen. Im Übrigen halte ich die Haltung jener Funktionäre, die so reden, als sei Russland bereits mit dem dritten Jahr des Fünfjahresplans in den Sozialismus eingetreten, für falsch und geeignet, ihrem Ruf zu schaden. Nein, die russische Wirtschaft befindet sich noch in einem Übergangsstadium und birgt in sich große Widersprüche, die möglicherweise zu Wirtschaftskrisen und vorübergehenden Rückschlägen führen können. Davor die Augen zu verschließen, wäre unverzeihlich. Ich kann hier nicht näher auf diese komplizierte Frage eingehen, aber man sollte erkennen, dass alle diese Widersprüche, Schwierigkeiten, möglichen Krisen und Rückschläge die epochale Bedeutung dieses gigantischen Experiments der Wirtschaftsplanung in keiner Weise schmälern, das bereits bewiesen hat, dass eine verstaatlichte Industrie, selbst in einem rückständigen Land, in einem Tempo wachsen kann, das keine der alten zivilisierten Nationen auch nur annähernd erreichen könnte. Dies allein verwandelt die Lehre der Vergangenheit und eröffnet eine völlig neue Perspektive.

Zur Veranschaulichung dessen, was ich meine, wollen wir ein hypothetisches Beispiel nehmen. In England wirbt Mr. Lloyd George für einen Plan öffentlicher Unternehmungen, der von liberalen Ökonomen mit dem doppelten Ziel ausgearbeitet wurde, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und die Industrie zu reorganisieren und zu rationalisieren. Nehmen wir nun zu Demonstrationszwecken an, die britische Regierung würde sich mit der Regierung der UdSSR an einen runden Tisch setzen, um einen Plan der wirtschaftlichen Zusammenarbeit über eine Reihe von Jahren auszuarbeiten. Nehmen wir an, dieser Plan umfasse alle wichtigen Wirtschaftszweige beider Länder und die Konferenz führe im Gegensatz zu vielen anderen zu konkreten gegenseitigen Vereinbarungen und Verpflichtungen: Für soundso viele Traktoren, elektrotechnische Anlagen, Textilmaschinen usw. würde England eine entsprechende Menge Getreide, Holz, vielleicht später auch Rohbaumwolle erhalten – alles natürlich nach den aktuellen Weltmarktpreisen. Dieser Plan würde bescheiden beginnen, sich aber wie ein umgekehrter Kegel entwickeln und im Laufe der Jahre eine immer größere Zahl von Unternehmungen umfassen, so dass schließlich die wichtigsten Wirtschaftszweige beider Länder wie die Knochen des Schädels ineinander greifen würden. Kann man auch nur einen Augenblick daran zweifeln, dass einerseits der jetzt von der sowjetischen Regierung ins Auge gefasste Steigerungskoeffizient mit Hilfe der britischen Technik gewaltig erhöht werden würde, und dass andererseits die Sowjetunion Großbritannien in die Lage versetzen würde, seine lebenswichtigsten Importbedürfnisse unter den günstigsten Bedingungen zu befriedigen? Es ist unmöglich zu sagen, unter welchen politischen Vorzeichen eine solche Zusammenarbeit möglich wäre. Aber wenn ich das Prinzip eines zentralisierten Wirtschaftsplans, wie er heute in einem armen und rückständigen Land durchgeführt wird, nehme und es in der Fantasie auf die gegenseitigen Beziehungen der fortgeschrittenen Nationen mit der Sowjetunion und untereinander anwende, sehe ich darin einen weiträumigen Ausblick für die Menschheit.

Amerika entdeckt die Welt

Das auffälligste Merkmal des amerikanischen Lebens während des letzten Vierteljahrhunderts war das beispiellose Wachstum der wirtschaftlichen Macht und die ebenso beispiellose Schwächung des politischen Mechanismus angesichts dieser Macht. Zwei Episoden – eine aus der Vergangenheit, die andere aus der Gegenwart – sollen veranschaulichen, was ich meine. Die vielleicht wichtigste und sicherlich energischste Aktivität von Theodore Roosevelt, der zu den bemerkenswertesten Präsidenten der jüngeren Vergangenheit zählt, war sein Kampf gegen die Trusts. Was bleibt von dieser Aktivität heute? Vage Erinnerungen bei der älteren Generation. Auf den Kampf Roosevelts und die Verabschiedung restriktiver Gesetze folgte die gegenwärtige gewaltige Expansion der Trusts.

Betrachten wir nun Präsident Hoover. Für ihn sind die Trusts ein fast so natürlicher Teil des sozialen Systems wie die materielle Produktion selbst. Hoover, dem man den Besitz eines Ingenieurverstandes zuschreibt, glaubte, dass die mächtigen Trusts einerseits und die Standardisierung der Produktion andererseits Instrumente sein würden, die eine ununterbrochene wirtschaftliche Entwicklung, frei von jeder Krise, gewährleisten könnten. Sein Geist des technischen Optimismus durchdrang, wie bekannt, die Hoover-Kommission, die die jüngsten wirtschaftlichen Veränderungen in den Vereinigten Staaten untersuchte. Der Bericht der Kommission, der von siebzehn anscheinend kompetenten amerikanischen Ökonomen, darunter Hoover selbst, unterzeichnet war, erschien 1929. Nur wenige Monate vor der größten Krise in der amerikanischen Geschichte zeichnete Hoovers Bericht ein Bild des ungetrübten wirtschaftlichen Fortschritts.

Roosevelt versuchte, die Trusts zu beherrschen; Hoover versuchte, die Krise zu beherrschen, indem er den Trusts, die er als den höchsten Ausdruck des amerikanischen Individualismus betrachtete, die Zügel in die Hand gab. Die Bedeutung dieser beiden Misserfolge ist unterschiedlich, aber sowohl die Ingenieursumsicht Hoovers als auch die aufmüpfige Impulsivität Roosevelts offenbaren einen hilflosen Empirismus in den grundlegenden Problemen des gesellschaftlichen Lebens.

Das Herannahen einer akuten Krise war lange Zeit leicht wahrnehmbar. Die Hoover-Kommission hätte vielleicht gewichtige wirtschaftliche Ratschläge in der russischen Presse finden können, wenn sie nicht so sehr mit Selbstgenügsamkeit belastet gewesen wäre. Ich selbst schrieb im Sommer 1928: „Es versteht sich von selbst, dass unserer Meinung nach die Unvermeidlichkeit einer Krise völlig außer Zweifel steht; auch halten wir es angesichts der gegenwärtigen Weltausdehnung des amerikanischen Kapitalismus nicht für ausgeschlossen, dass die nächste Krise eine äußerst große Tiefe und Schärfe erreichen wird. Aber es gibt keinerlei Rechtfertigung für den Versuch, daraus zu schließen, dass die Hegemonie Nordamerikas eingeschränkt oder geschwächt werden wird. Ein solcher Schluss kann nur zu den gröbsten strategischen Irrtümern führen.

Genau das Gegenteil ist der Fall. In der Zeit der Krise wird die Hegemonie der Vereinigten Staaten vollständiger, offener und rücksichtsloser wirken als in der Zeit des Booms. Die Vereinigten Staaten werden versuchen, ihre Schwierigkeiten und Gebrechen in erster Linie auf Kosten Europas zu überwinden und zu beseitigen..."

Es muss zugegeben werden, dass sich nur der Teil dieser Voraussage erfüllt hat, der sich mit dem Herannahen einer Krise befasst, nicht aber der Teil, der eine aggressive Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Europa prophezeit. Dazu kann ich nur sagen, dass das transatlantische Imperium langsamer reagiert, als ich es 1928 erwartet habe. Ich erinnere mich, dass ich während einer Sitzung des Rates für Arbeit und Verteidigung im Juli 1924 einige kurze Notizen mit dem verstorbenen Leonid Krassin austauschte, der damals gerade aus England zurückgekehrt war. Ich schrieb ihm, dass ich auf keinen Fall Vertrauen in die so genannte angelsächsische Solidarität haben würde, die nur ein verbales Überbleibsel der Kriegskooperation sei und in Kürze von der wirtschaftlichen Realität zerrissen werden würde. Er antwortete mir wie folgt (ich habe die Notiz noch – ein aus einem Notizbuch herausgerissenes Blatt): "Ich halte zunehmende Reibungen zwischen England und Amerika in der nächsten Zeit für unwahrscheinlich. Sie können sich nicht vorstellen, wie provinziell die Amerikaner in Bezug auf die Weltpolitik sind. Noch auf Jahre hinaus werden sie es nicht wagen, mit England zu streiten." Ich antwortete: „Mit einem Scheckbuch in der Tasche wird auch ein Provinzler bald genug Gelegenheit finden, sich wie ein Mann von Welt zu benehmen."

Gewiss kann man nicht bestreiten, dass die Amerikaner keine Erfahrung oder Ausbildung in „Weltpolitik"1 haben; sie sind zu schnell gewachsen, und ihre Ansichten haben nicht mit ihren Bankkonten Schritt gehalten. Aber die Geschichte der Menschheit, und besonders die englische Geschichte, hat reichlich illustriert, wie die Welthegemonie erlangt wird. Der Provinzler besucht die Hauptstädte der Alten Welt, und er denkt nach. Nun hat die materielle Basis der Vereinigten Staaten ein bis dahin unbekanntes Ausmaß. Das potentielle Übergewicht der Vereinigten Staaten auf dem Weltmarkt ist weit größer als das tatsächliche Übergewicht Großbritanniens in den blühendsten Tagen seiner Weltherrschaft – sagen wir im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts. Diese potentielle Stärke muss sich unweigerlich in kinetische Form übertragen, und die Welt wird eines Tages Zeuge eines großen Ausbruchs von Yankee-Wut in jedem Sektor unseres Planeten werden. Der Historiker der Zukunft wird in seinen Büchern vermerken: „Die berühmte Krise von 1930-3-? war ein Wendepunkt in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten, da sie eine solche Neuorientierung der geistigen und politischen Ziele hervorrief, dass die alte Monroe-Doktrin ,Amerika für die Amerikaner' durch eine neue Doktrin ,Die ganze Welt für die Amerikaner' abgelöst wurde."

Der stürmische Militarismus der deutschen Hohenzollern am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, der mit der Hefe der raschen Entwicklung des Kapitalismus aufstieg, wird vor dem, der die wachsende kapitalistische Tätigkeit der Vereinigten Staaten begleitet, wie ein Kinderspiel erscheinen. Von Wilsons Vierzehn Punkten, die selbst im Augenblick ihrer Formulierung keinen wirklichen Inhalt besaßen, wird, wenn das möglich ist, noch weniger übrig bleiben als von Roosevelts Kampf gegen die Trusts. Das heute herrschende Amerika hat sich noch nicht aus der durch die Krise verursachten verwirrenden Situation befreit, aber dieser Zustand wird vorübergehen. Ihm wird eine Anstrengung seinerseits folgen, in jedem Winkel der Welt Positionen zu sichern, die als Sicherheitsventile gegen eine neue Krise wirken werden. Das Kapitel seiner wirtschaftlichen Expansion mag vielleicht mit China beginnen, aber das wird sie keineswegs daran hindern, in andere Richtungen zu expandieren.

Die sogenannte „Rüstungsbeschränkung" steht in keinem wie auch immer gearteten Widerspruch zu den oben skizzierten Prognosen, schon gar nicht zu den direkten Interessen Amerikas. Es ist ganz offensichtlich, dass eine Reduzierung der Rüstung vor einem Konflikt zwischen zwei Nationen dem Stärkeren weit mehr nützt als dem Schwächeren. Der letzte Krieg hat gezeigt, dass Feindseligkeiten zwischen Industrienationen nicht Monate, sondern Jahre dauern und dass Krieg nicht so sehr mit vorher vorbereiteten Waffen geführt wird, sondern mit solchen, die während des Kampfes geschmiedet werden. Folglich hat die wirtschaftlich stärkere von zwei Nationen ein Interesse daran, die militärische Vorbereitung des potentiellen Gegners zu begrenzen. Das Übergewicht der standardisierten und „vertrusteten" Industrie in den Vereinigten Staaten ist in der Lage, wenn sie auf die Kriegsproduktion umgelenkt wird, diesem Land während eines Krieges eine solche Vormachtstellung zu verschaffen, wie wir sie uns heute kaum vorstellen können.

Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Parität der Seestreitkräfte in Wirklichkeit keine Parität. Es ist eine Vorherrschaft, die demjenigen von vornherein zugesichert ist, der sich auf die stärkere Industrie stützt. Ganz abgesehen von allen möglichen Doktrinen, politischen Programmen, Sympathien und Antipathien, glaube ich, dass die nackten Tatsachen und die kalte Logik uns davon abhalten, Vereinbarungen über die Parität von Flotten oder irgendwelche Vereinbarungen ähnlicher Art als Garantien für den Frieden zu betrachten, oder, in der Tat, als irgendeine Verminderung der Kriegsgefahr. Wenn ein Paar Duellanten oder ihre Sekundanten sich vorher über das Kaliber der Revolver einigen, verhindert das in keiner Weise, dass einer von ihnen getötet wird.

Herr MacDonald schätzt die auf seiner Amerikareise erzielten Ergebnisse als den erhabensten Triumph der Friedenspolitik. Da ich hier in einem Interview spreche, in dem man seine Meinung nicht so sehr erklärt als vielmehr verkündet, erlaube ich mir, auf eine Rede einzugehen, die ich im Jahre 1924 über die Beziehungen zwischen Amerika und Europa gehalten habe. Damals war Curzon, wenn ich mich recht erinnere, Außenminister und betrieb ein Säbelrasseln gegen Sowjetrussland. In einer Polemik gegen Lord Curzon (die jetzt natürlich jegliches politische Interesse verloren hat) bemerkte ich, dass er Russland nur in Folge der unbefriedigenden Lage, in die England durch die wachsende Macht der Vereinigten Staaten und durch die Weltlage im Allgemeinen versetzt wurde, auf die Fersen trat. Seine Proteste gegen Sowjetrussland seien als Ergebnis seiner Unzufriedenheit darüber zu deuten, mit den Vereinigten Staaten Abkommen aushandeln zu müssen, die nicht für beide Seiten von gleichem Vorteil seien. „Wenn es zur Sache geht", sagte ich, „wird es nicht Lord Curzon sein, der diese unangenehme Aufgabe ausführen wird; er ist zu temperamentvoll. Nein, sie wird MacDonald anvertraut werden. Die ganze fromme Beredsamkeit von MacDonald, Henderson und den Fabiern wird nötig sein, um diese Kapitulation akzeptabel zu machen."

Sie fragen mich, was meine Schlussfolgerungen sind? Aber ich fühle mich nicht verpflichtet, in diesem Interview welche zu ziehen. Schlussfolgerungen sind eine Sache der praktischen Politik und hängen daher von dem eigenen Programm und den dahinter stehenden sozialen Interessen ab. In diesen Punkten unterscheiden sich Ihre Zeitung und ich sehr stark. Deshalb habe ich mich peinlich genau auf Fakten und Prozesse beschränkt, die, da sie unbestreitbar sind, von jedem Programm, das realistisch und nicht fantastisch ist, berücksichtigt werden müssen. Diese Fakten und Vorgänge sagen uns, dass sich die nächste Epoche im Schatten einer mächtigen kapitalistischen Aggression seitens der Vereinigten Staaten entwickeln wird. Im dritten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts hat Europa Amerika entdeckt; im zweiten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts wird Amerika die Welt entdecken. Ihre Politik wird die der offenen Tür sein, die sich in Amerika bekanntlich nicht nach innen, sondern nur nach außen öffnet.

1Im englischen Text auf deutsch

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