Leo Trotzki: Gegen den Nationalkommunismus [Nach der Broschüre, III. Auflage, März 1932, Herausgeber Linke Opposition der KPD, Verlag A. Grylewitz, S. 1-17] Lehren des „roten“ Volksentscheids Wenn diese Zeilen den Leser erreichen, werden sie stellenweise vielleicht veraltet sein. Durch die Bemühungen des Stalinschen Apparates unter freundschaftlicher Mithilfe aller bürgerlichen Regierungen lebt der Autor unter Bedingungen, die es ihm nicht ermöglichen, auf politische Ereignisse anders als mit einer Verspätung von einigen Wochen zu reagieren. Es muss hinzugefügt weiden, dass er gezwungen ist, sich auf weitaus unvollständige Informationen zu stützen. Der Leser muss dies berücksichtigen. Aber auch der äußerst unvorteilhaften Lage muss man mindestens einen gewissen Vorteil abzugewinnen suchen. Der Möglichkeit beraubt, auf die Ereignisse tagein tagaus in ihrer gesamten Konkretheit zu reagieren, ist der Autor gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die Kernpunkte und Knotenfragen zu konzentrieren. Darin liegt die Rechtfertigung dieser Arbeit. Wie alles auf den Kopf gestellt wird Die Fehler der deutschen Kommunistischen Partei in der Frage des Volksentscheids gehören zu jenen Fehlern, die je weiter, umso klarer werden und am Ende in die Lehrbücher der revolutionären Strategie hineingehen als Muster dafür, was man nicht tun darf. An dem Verhalten des Zentralkomitees der deutschen Kommunistischen Partei ist alles fehlerhaft: Falsch die Einschätzung der Situation, falsch das nächste Ziel gestellt, falsch die Wahl der Mittel zu seiner Erreichung. Nebenbei hat es die Parteileitung verstanden, alle jene «Prinzipien» umzustülpen, die sie während der letzten Jahre predigte. Am 21. Juli wandte sich das Zentralkomitee an die preußische Regierung mit der Forderung demokratischer und sozialer Zugeständnisse und drohte andernfalls, für den Volksentscheid einzutreten. Ihre Forderungen stellend, wandte sich die Stalinsche Bürokratie faktisch an die Spitzen der sozialdemokratischen Partei mit dem Vorschlag, unter bestimmten Bedingungen eine Einheitsfront gegen den Faschismus zu bilden. Als die Sozialdemokratie die ihr angebotenen Bedingungen ablehnte, schufen die Stalinisten eine Einheitsfront mit den Faschisten gegen die Sozialdemokratie. Mithin wird die Politik der Einheitsfront nicht nur von «unten», sondern auch von «oben» verfolgt. Mithin ist es Thälmann erlaubt, sich an Brüning und an Severing zu wenden mit einem «offenen Brief» über gemeinsame Verteidigung der Demokratie und soziale Gesetzgebung gegen die Banden Hitlers. So stürzten diese Leute, sogar ohne es zu merken, was sie tun, ihre Metaphysik der Einheitsfront «nur von unten» durch den sinnlosesten Versuch einer Einheitsfront «nur von oben», überraschend für die Massen und gegen den Willen der Massen. Ist die Sozialdemokratie nur eine Abart des Faschismus, wie kann man dann Sozialfaschisten offiziell die Forderung der gemeinsamen Verteidigung der Demokratie stellen? Den Weg des Volksentscheids betretend, hat die Parteibürokratie den Nationalsozialisten keinerlei Bedingungen gestellt. Weshalb? Wenn Sozialdemokraten und Nationalsozialisten nur Schattierungen des Faschismus sind, warum darf man dann den Sozialdemokraten Bedingungen stellen, und warum darf man sie nicht den Nationalsozialisten stellen? Oder bestehen zwischen diesen zwei «Abarten» irgendwelche wichtigen qualitativen Unterschiede in Bezug auf die soziale Basis und die Methoden des Massenbetruges? Dann aber nennt man doch nicht sowohl die einen wie die anderen Faschisten, denn Bezeichnungen dienen in der Politik, um zu unterscheiden, nicht aber um alles auf einen Haufen zu werfen. Stimmt es aber, dass Thälmann in eine Einheitsfront mit Hitler eingetreten ist? Die kommunistische Bürokratie bezeichnete Thälmanns Volksentscheid als den «roten» zum Unterschiede von Hitlers schwarzem oder braunem Volksentscheid. Dass es um zwei todfeindliche Parteien geht, steht selbstverständlich außer Zweifel, und die ganze Lüge der Sozialdemokratie kann die Arbeiter nicht zwingen, dies zu vergessen. Doch bleibt die Tatsache bestehen: in einer bestimmten Kampagne hat die Stalinsche Bürokratie die revolutionären Arbeiter in eine Einheitsfront mit den Nationalsozialisten gegen die Sozialdemokratie hinein gezerrt. Hätte man wenigstens auf den Stimmzetteln die Parteizugehörigkeit angeben dürfen, der Volksentscheid hätte mindestens die (in diesem Falle politisch völlig unzureichende) Rechtfertigung gehabt, dass er gestattete, die eigenen Kräfte zu berechnen und damit allein sie gegen die Kräfte des Faschismus abzugrenzen. Doch hat die deutsche «Demokratie» seinerzeit keine Vorsorge getroffen, dass die Teilnehmer eines Volksentscheids das Recht haben, ihre Parteizugehörigkeit zu vermerken. Alle Abstimmenden verschmelzen zu einer ungegliederten Masse, die auf eine bestimmte Frage die gleiche Antwort gibt. Im Rahmen dieser Frage ist die Einheitsfront mit den Faschisten eine unbezweifelbare Tatsache. So war über Nacht alles auf den Kopf gestellt. «Einheitsfront», aber mit wem? Welches politische Ziel verfolgte die Parteileitung mit ihrer Schwenkung? Je mehr offizielle Dokumente und Reden von den Führern man liest, umso weniger begreift man dieses Ziel. Die preußische Regierung, sagt man uns, bahne dem Faschismus den Weg. Das ist vollkommen richtig. Die Brüning-Regierung, fügen die Führer der Kommunistischen Partei hinzu, verwandle die Republik faktisch in eine faschistische und habe bereits ein großes Stück Arbeit in dieser Richtung geleistet. Ganz richtig, antworten wir darauf. Aber ohne den preußischen Braun könnte sich Brüning nicht halten, sagen die Stalinisten. Auch das ist richtig, antworten wir. Bis zu diesem Punkt herrscht völlige Übereinstimmung. Doch welche politischen Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Wir haben nicht die geringste Veranlassung, die Regierung Brüning zu stützen oder auch nur den Schatten der Verantwortung für sie vor den Massen zu übernehmen oder um ein Jota unseren politischen Kampf gegen die Regierung Brüning und ihre preußische Agentur abzuschwächen. Aber noch weniger Veranlassung haben wir, den Faschisten zu helfen, die Stelle Brüning-Braun einzunehmen. Wenn wir mit vollem Recht die Sozialdemokraten beschuldigen, dem Faschismus den Weg zu bahnen, so kann unsere eigene Aufgabe am allerwenigsten darin bestehen, dem Faschismus diesen Weg abzukürzen. Der Offene Brief der Zentrale der KPD vom 27. Juli an die Zellen enthüllt besonders unbarmherzig die Unzulänglichkeit der Leitung, da er das Produkt einer kollektiven Untersuchung der Frage darstellt. Das Wesen dieses Briefes, von Wirrwarr und Widersprüchen befreit, besteht darin, dass letzten Endes kein Unterschied zwischen den Sozialdemokraten und den Faschisten besteht, d. h., es besteht kein Unterschied zwischen dem Feind, der, die Langmut der Arbeiter ausnutzend, sie betrügt und verrät, und dem Feind, der sie einfach abschlachten will. Den Unsinn einer solchen Identifizierung fühlend machen die Autoren des Offenen Briefes plötzlich eine Wendung und schildern den roten Volksentscheid als «eine entschiedene Anwendung der Einheitsfrontpolitik (!) von unten in Bezug auf die sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeiter». Auf welche Weise die Beteiligung am Volksentscheid Schulter an Schulter mit den Faschisten gegen Sozialdemokratie und Zentrum die Anwendung der Einheitsfront-Politik in Bezug auf die sozialdemokratischen und christlichen Arbeiter ist – das wird kein proletarischer Schädel begreifen können. Vielleicht ist die Rede von jenen sozialdemokratischen Arbeitern, die sich von ihrer Partei getrennt hatten und am Volksentscheid teilnahmen. Wie viele sind ihrer? Unter der Politik der Einheitsfront wäre doch jedenfalls gemeinsames Auftreten nicht mit jenen Arbeitern zu verstehen, die der Sozialdemokratie den Rücken gekehrt haben, sondern mit jenen, die in ihren Reihen noch verbleiben. Unglücklicherweise gibt es ihrer noch sehr viele. Die Frage des Kräfteverhältnisses Der einzige Satz in Thälmanns Rede vom 24. Juli, der einigermaßen einer ernstlichen Begründung der Schwenkung ähnlich sieht, lautet: «Darum stellt der rote Volksentscheid unter Ausnutzung der Möglichkeiten einer legalen parlamentarischen Massenaktion einen Schritt vorwärts in der außerparlamentarischen Massenmobilisierung dar.» Wenn diese Worte irgend einen Sinn haben, so nur den: Wir nehmen zum Ausgangspunkt unseres revolutionären Generalangriffs die parlamentarische Abstimmung, um auf legalem Wege die Regierung der Sozialdemokratie und der mit ihr verbundenen Parteien der goldenen Mitte zu stürzen, und um später, unter dem Druck der revolutionären Massen, den Faschismus zu stürzen, der bemüht ist, der Erbe der Sozialdemokratie zu werden. Mit anderen Worten: Der preußische Volksentscheid spielt hier die Rolle eines Schwungbretts für einen revolutionären Sprung. Jawohl, als Schwungbrett wäre der Volksentscheid vollauf gerechtfertigt. Ob neben den Kommunisten auch Faschisten stimmen oder nicht, würde jede Bedeutung verlieren in dem Augenblick, wo das Proletariat durch seinen Vorstoß die Faschisten niederwirft und die Macht in seine Hände nimmt. Für das Schwungbrett kann man jedes Brett benutzen, auch das Brett des Volksentscheids. Man muss nur die Möglichkeit haben, den Sprung tatsächlich, nicht in Worten, sondern in der Tat auszuführen. Das Problem läuft folglich auf das Kräfteverhältnis hinaus. Auf die Straße gehen mit der Parole «Nieder die Regierung Brüning-Braun!», wenn nach dem Kräfteverhältnis diese nur die Regierung Hugenberg-Hitler ablösen kann, ist reinstes Abenteurertum. Die gleiche Parole bekommt jedoch einen ganz anderen Sinn, wenn sie die Einleitung zum unmittelbaren Kampfe des Proletariats um die Macht ist. Im ersten Falle wären die Kommunisten in den Augen der Masse Helfershelfer der Reaktion; im anderen Falle würde die Frage, wie die Faschisten gestimmt haben, bevor sie vom Proletariat zerdrückt wurden, jegliche politische Bedeutung verlieren. Die Frage des Zusammentreffens der Abstimmung mit den Faschisten betrachten wir somit nicht vom Standpunkte irgendeines abstrakten Prinzips, sondern vom Standpunkte des realen Kampfes der Klassen um die Macht und des Kräfteverhältnisses im gegebenen Stadium dieses Kampfes. Blick auf die russische Erfahrung Es ist unbestreitbar, dass im Augenblick des proletarischen Aufstandes der Unterschied zwischen der sozialdemokratischen Bürokratie und den Faschisten tatsächlich minimal, wenn nicht gleich Null sein wird. In den Oktobertagen haben die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre Hand in Hand mit den Kadetten, mit den Kornilows und den Monarchisten gegen das Proletariat gekämpft. Die Bolschewiki gingen im Oktober aus dem Vorparlament auf die Straße, um die Massen zum bewaffneten Aufstand aufzurufen. Würde in jenen Tagen gleichzeitig mit den Bolschewiki irgendeine Gruppe des Vorparlaments, sagen wir eine Gruppe der Monarchisten, hervorgetreten sein, es wäre ohne jegliche politische Bedeutung gewesen, denn die Monarchisten wären gestürzt worden zusammen mit den Demokraten. Zum Oktoberaufstand ist aber die Partei über eine Reihe von Stufen gekommen. Während der Aprildemonstration im Jahre 1917 hatte ein Teil der Bolschewiki die Parole aufgestellt: «Nieder mit der provisorischen Regierung!». Das Zentralkomitee wies die Ultralinken sofort zurecht: Gewiss müssen wir die Notwendigkeit des Sturzes der Provisorischen Regierung proklamieren; aber unter dieser Parole die Massen auf die Straße rufen können wir noch nicht, denn wir sind in der Arbeiterklasse die Minderheit. Würden wir unter diesen Bedingungen die Provisorische Regierung stürzen, wir könnten sie nicht ablösen und würden folglich der Konterrevolution helfen. Man müsse die Massen über den volksfeindlichen Charakter dieser Regierung geduldig aufklären, bevor die Stunde gekommen ist, sie zu stürzen. Das war die Position der Partei. In der darauf folgenden Periode lautete die Parteiparole: «Nieder mit den Minister-Kapitalisten!». Das war eine an die Sozialdemokratie gerichtete Forderung, die Koalition mit der Bourgeoisie zu zerreißen. Im Juli leiteten wir die Demonstration der Arbeiter und Soldaten unter der Parole: «Alle Macht den Sowjets!», was im damaligen Augenblick bedeutete: Alle Macht den Menschewiki und Sozialrevolutionären! Menschewiki und Sozialrevolutionäre aber hatten gemeinsam mit den Weißgardisten uns niedergeschlagen. Nach zwei Monaten erhob sich Kornilow gegen die Provisorische Regierung. Im Kampfe gegen Kornilow bezogen die Bolschewiki unverzüglich die vordersten Positionen. Lenin war in jener Zeit illegal. Tausende Bolschewiki saßen in Gefängnissen. Arbeiter, Soldaten und Matrosen forderten die Befreiung ihrer Führer und der Bolschewiki überhaupt. Die Provisorische Regierung lehnte das ab. Hätte sich da das bolschewistische Zentralkomitee mit einem Ultimatum an die Regierung Kerenski wenden sollen: Sofort die Bolschewiki zu befreien und die gegen diese gerichtete niederträchtige Beschuldigung, im Dienste der Hohenzollern zu stehen, zurückzunehmen, – und im Falle der Weigerung Kerenskis sich weigern, gegen Kornilow zu kämpfen? So würde wahrscheinlich das Zentralkomitee Thälmann-Remmele-Neumann gehandelt haben. Anders aber handelte das Zentralkomitee der Bolschewiki. Lenin schrieb damals: «Ein grober Fehler wäre es, zu glauben, das revolutionäre Proletariat sei fähig, sozusagen aus «Rache» gegen die Sozialrevolutionäre und Menschewiki für deren Unterstützung bei der Niederschlagung der Bolschewiki, der Erschießungen an der Front und der Entwaffnung der Arbeiter ihnen die Unterstützung gegen die Konterrevolutionäre zu «verweigern». Eine solche Fragestellung würde erstens bedeuten, die spießbürgerlichen Moralbegriffe auf das Proletariat zu übertragen (zum Nutzen der Sache wird das Proletariat stets nicht nur die schwankende Kleinbourgeoisie, sondern auch die Großbourgeoisie unterstützen); zweitens – und was die Hauptsache ist – wäre das ein spießbürgerlicher Versuch, durch «Moralisieren» den politischen Kern der Sache zu verdunkeln. Hätten wir im August Kornilow keinen Widerstand geleistet und ihm dadurch den Sieg ermöglicht, er würde zuallererst die Blüte der Arbeiterklasse ausgerottet und uns folglich verhindert haben, zwei Monate später den Sieg über die Versöhnler zu erringen und sie nicht mit Worten, sondern mit Taten für ihr historisches Verbrechen zu bestrafen. Gerade die Thälmann und Co. beschäftigen sich mit spießbürgerlichem «Moralisieren», wenn sie zur Begründung ihrer Schwenkung die zahllosen Abscheulichkeiten, begangen von den Führern der Sozialdemokratie, aufzählen! Mit gelöschten Lichtern Historische Analogien sind nur Analogien. Von einer Gleichheit der Bedingungen und Aufgaben kann nicht die Rede sein. Doch dürfen wir in der bedingten Sprache der Analogien fragen: Stand in Deutschland im Augenblick des Volksentscheids die Verteidigung gegen eine Kornilowiade in Frage oder tatsächlich der Sturz des bürgerlichen Regimes durch das Proletariat? Diese Frage wird nicht durch bloße Prinzipien und polemische Formeln entschieden, sondern durch das Kräfteverhältnis. Wie sorgfältig und gewissenhaft haben die Bolschewiki an jeder neuen Revolutionsetappe das Kräfteverhältnis studiert, berechnet und bemessen! Hat die Leitung der deutschen KP, bevor sie in den Kampf ging, auch nur versucht, eine Bilanz der kämpfenden Kräfte zu ziehen? Weder in Artikeln, noch in Reden finden wir eine solche Bilanz. Gleich ihrem Lehrer Stalin verfolgen seine Berliner Schüler eine Politik mit gelöschten Lichtern. Thälmann beschränkte seine Erwägungen in der entscheidenden Frage über das Kräfteverhältnis auf zwei bis drei Gemeinplätze. «Wir leben nicht mehr 1923», sagte er in seinem Referat, «Die Kommunistische Partei von heute ist eine Partei von vielen Millionen, die rasend wächst». Das war alles! Thälmann hätte nicht krasser sagen können, in welchem Maße ihm das Verständnis für den Unterschied in der Situation von 1923 und 1931 fremd ist! Damals fiel die Sozialdemokratie in Stücke auseinander. Die Arbeiter, die die sozialdemokratischen Reihen noch nicht verlassen hatten, richteten ihre Blicke hoffnungsvoll zur Kommunistischen Partei. Damals bildete der Faschismus mehr eine Vogelscheuche im Garten der Bourgeoisie als eine ernste politische Realität. Der Einfluss der Kommunistischen Partei auf Gewerkschaften und Betriebsräte war 1923 unvergleichlich stärker als heute. Die Betriebsräte erfüllten damals faktisch Funktionen von Sowjets. Unter den Füßen der sozialdemokratischen Bürokratie in den Gewerkschaften schwand der Boden mit jedem Tag mehr und mehr. Die Tatsache, dass die Situation des Jahres 1923 von der opportunistischen Leitung der Komintern und der KPD nicht ausgenutzt worden ist, lebt bis jetzt im Bewusstsein der Klassen und Parteien, wie in ihren gegenseitigen Beziehungen. Die Kommunistische Partei, sagt Thälmann, ist heute eine Partei von Millionen. Wir freuen uns darüber und sind darauf stolz. Doch vergessen wir nicht, dass auch die Sozialdemokratie noch eine Partei von Millionen ist. Wir vergessen nicht, dass infolge der erschreckenden Kette von Fehlern der Epigonen von 1925 bis 1931 die heutige Sozialdemokratie eine viel stärkere Widerstandskraft bekundet als die Sozialdemokratie von 1923. Wir vergessen nicht, dass der heutige Faschismus, großgenährt und großgezogen durch den Verrat der Sozialdemokratie und die Fehler der Stalinschen Bürokratie, ein gewaltiges Hindernis auf dem Wege zur Machteroberung durch das Proletariat darstellt. Die Kommunistische Partei ist eine Partei von Millionen. Doch dank der vorangegangenen Strategie der «dritten Periode», der Periode der konzentrierten bürokratischen Dummheit, ist die Kommunistische Partei heute in Gewerkschaften und Betriebsräten noch immer äußerst schwach. Den Kampf um die Macht kann man nicht führen gestützt allein auf die Stimmen des Volksentscheides. Man muss Stützpunkte in Betrieben, Gewerkschaften und Betriebsräten besitzen. Das alles vergisst Thälmann, der eine Analyse der Situation durch starke Worte ersetzt. Behaupten, die deutsche Kommunistische Partei sei im Juli-August 1931 so mächtig gewesen, um den offenen Kampf mit der bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt ihrer beiden Flügel, der Sozialdemokratie und des Faschismus, aufzunehmen, – das könnte nur ein Mensch, der vom Monde gefallen ist. Die Parteibürokratie glaubt das selbst nicht. Wenn sie zu einem solchen Argument greift, so nur, weil der Volksentscheid durchgefallen ist und sie folglich kein weiteres Examen zu bestehen hat. In dieser Verantwortungslosigkeit, in dieser Blindheit, in dieser unwählerischen Jagd nach Effekten findet eben die abenteuerliche Hälfte der Seele des Stalinschen Zentrismus ihren Ausdruck. «Volksrevolution» statt proletarischer Revolution Der auf den ersten Blick so «jähe» Zickzack des 21. Juli ist keinesfalls wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen, sondern durch den gesamten Kurs der letzten Periode vorbereitet gewesen. Dass die KPD von dem aufrichtigen und heißen Bestreben geleitet wird, die Faschisten zu besiegen, die Massen ihrem Einfluss zu entreißen, den Faschismus niederzuwerfen und zu vernichten, darüber kann natürlich kein Zweifel bestehen. Das Unglück aber ist, dass die Stalinsche Bürokratie je weiter umso mehr bestrebt ist, gegen den Faschismus mit dessen Waffen zu operieren: sie entlehnt die Farben seiner politischen Palette und will ihn auf der Auktion des Patriotismus überschreien. Das sind nicht Methoden prinzipieller Klassenpolitik, sondern Kniffe kleinbürgerlicher Konkurrenz. Es lässt sich schwer eine beschämendere prinzipielle Kapitulation denken, als die Tatsache, dass die Stalinsche Bürokratie die Parole der proletarischen Revolution durch die Parole der Volksrevolution ersetzt hat. Keine Spitzfindigkeiten, kein Spiel mit Zitaten, keine historischen Fälschungen können an der Tatsache ändern, dass es sich um einen prinzipiellen Verrat am Marxismus zum Zwecke einer bestmöglichen Anpassung an die Scharlatanerie der Faschisten handelt. Ich bin gezwungen, hier zu wiederholen, was ich darüber vor einigen Monaten geschrieben habe: «Selbstverständlich ist jede große Revolution eine Volksrevolution oder nationale Revolution in dem Sinne, dass sie alle lebendigen und schöpferischen Kräfte der Nation um die revolutionäre Klasse vereinigt und die Nation um eine neue Achse baut. Doch ist dies keine Parole, sondern eine soziologische Beschreibung einer Revolution, die noch präziser und konkreter Erläuterungen bedarf. Als Parole jedoch ist es ein Nichts und Scharlatanerie, eine marktschreierische Konkurrenz mit den Faschisten, bezahlt mit dem Preise des Hineintragens von Verwirrung in die Köpfe der Arbeiter … Der Faschist Strasser sagt: 95% der Bevölkerung sind an der Revolution interessiert, folglich ist es keine Klassen-, sondern eine Volksrevolution. Thälmann stimmt mit ein. In Wirklichkeit hätte ein kommunistischer Arbeiter einem faschistischen Arbeiter sagen müssen: Gewiss, 95%, wenn nicht 98% der Bevölkerung werden vom Finanzkapital ausgebeutet. Doch ist diese Ausbeutung hierarchisch organisiert: es gibt Ausbeuter, Unterausbeuter, Unter-Unterausbeuter usw. Nur dank dieser Hierarchie können die Oberausbeuter sich die Mehrheit der Nation unterwerfen. Damit sich die Nation in der Tat um die Klassenachse umorganisieren kann, muss sie sich vorher geistig umorganisieren, was nur dann zu erreichen ist, wenn das Proletariat, ohne sich im «Volke», in der «Nation» aufzulösen, das Programm seiner, der proletarischen Revolution, entfaltet und die Kleinbourgeoisie zwingt, zwischen den beiden Regimes zu wählen… Dagegen verwischt die Parole der «Volksrevolution» unter den heutigen Verhältnissen in Deutschland die ideologischen Grenzen zwischen Marxismus und Faschismus, versöhnt einen Teil der Arbeiter und die Kleinbourgeoisie mit der Ideologie des Faschismus, indem sie ihnen zu glauben erlaubt, es bestehe keine Notwendigkeit, sich zu entscheiden, denn hier wie dort gehe es ja um die Volksrevolution». «Volksrevolution» als Mittel «nationaler Befreiung» Ideen haben ihre Logik. Die «Volksrevolution» wird eingestellt als Hilfsmittel zur «nationalen Befreiung». Diese Fragestellung hat rein chauvinistischen Tendenzen den Eingang in die Partei geöffnet. Es kann selbstverständlich nichts Schlimmes daran sein, dass sich der Partei des Proletariats verzweifelte Patrioten aus dem Lager des kleinbürgerlichen Chauvinismus nähern: zum Kommunismus kommen die verschiedensten Elemente auf verschiedenen Wegen und Pfaden. Aufrechte und ehrliche Elemente – neben ausgesprochenen Karrieristen und hochstapelnden Pechvögeln – befinden sich zweifellos auch in den Reihen jener weißgardistischen und Schwarzhundert-Offiziere, die allem Anschein nach in den letzten Monaten sich dem Kommunismus zuwandten. Die Partei kann natürlich auch solche individuellen Verwandlungen ausnutzen als ein Hilfsmittel zur Zersetzung des faschistischen Lagers. Das Verbrechen der Stalinschen Bürokratie – ja, das direkte Verbrechen – besteht jedoch darin, dass sie sich mit diesen Elementen solidarisiert, ihre Stimmen mit der Stimme der Partei identifiziert, auf die Entlarvung ihrer nationalistischen und militaristischen Tendenzen verzichtet, die durch und durch kleinbürgerliche, reaktionär-utopische und chauvinistische Broschüre Scheringers in ein neues Evangelium des revolutionären Proletariats verwandelt. Aus dieser minderwertigen Konkurrenz mit dem Faschismus erwuchs der scheinbar plötzliche Entschluss des 21. Juli: ihr habt die Volksrevolution, wir haben auch die Volksrevolution; ihr habt nationale Befreiung als höchstes Kriterium, wir auch; ihr habt Krieg gegen den Westkapitalismus, wir versprechen das gleiche; ihr habt Volksentscheid, auch wir haben Volksentscheid, einen noch besseren, einen durch und durch «roten». Es ist Tatsache, dass der ehemals revolutionäre Arbeiter Thälmann heute aus allen Kräften bestrebt ist, nicht hinter dem Grafen Stenbock-Fermor zurückzustehen. Der Bericht über die Versammlung der Parteiarbeiter, in der Thälmann die Schwenkung zum Volksentscheid proklamiert, ist in der «Roten Fahne» unter der prätentiösen Überschrift «Unter dem Banner des Marxismus» abgedruckt. Indes gipfeln die Schlussfolgerungen Thälmanns in dem Gedanken, dass «Deutschland heute ein Spielball in den Händen der Entente ist.» Es geht also vor allem um die «nationale Befreiung». Aber in gewissem Sinne sind auch Frankreich und Italien und sogar England «Bälle» in den Händen der Vereinigten Staaten. Europas Abhängigkeit von Amerika, die sich im Zusammenhang mit Hoovers Vorschlag so klar gezeigt hat (morgen wird sich diese Abhängigkeit noch schroffer und brutaler offenbaren) ist von tieferer Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Revolution als die Abhängigkeit Deutschlands von der Entente. Aus diesem Grunde – nebenbei gesagt – ist die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa und keinesfalls allein die bloße Parole «nieder mit dem Versailler Frieden» die proletarische Antwort auf die Zuckungen des europäischen Kontinents. Doch stehen diese Fragen immerhin in zweiter Linie. Unsere Politik wird nicht davon bestimmt, dass Deutschland ein «Ball» in den Händen der Entente ist, sondern vor allem davon, dass das zerspaltene, entkräftete und erniedrigte deutsche Proletariat ein Ball in den Händen der deutschen Bourgeoisie ist. «Der Hauptfeind steht im eigenen Lande!» lehrte ehemals Karl Liebknecht. Oder habt ihr das vergessen, Freunde? Oder vielleicht taugt diese Lehre nicht mehr? Für Thälmann ist sie offensichtlich veraltet. Karl Liebknecht ist durch Scheringer ersetzt worden. Deshalb klingt wie eine bittere Ironie die Überschrift: «Unter dem Banner des Marxismus!» Die Schule des bürokratischen Zentrismus als Schule der Kapitulation Vor einigen Jahren warnte die Linke Opposition, die «echtrussische» Theorie des Sozialismus in einem Lande müsse unabwendbar zur Entfachung sozialpatriotischer Tendenzen in den übrigen Sektionen der Komintern führen. Damals schien es Fantasie, böswillige Erfindung, «Verleumdung!» Doch haben Ideen nicht nur ihre Logik, sondern auch ihre explosive Kraft. Die deutsche Kommunistische Partei hat sich in kurzer Zeit vor unseren Augen in die Sphäre des Sozialpatriotismus hineingestürzt, d. h. in jene Stimmungen und Parolen, denen die Komintern bei ihrer Gründung Todfeindschaft erklärte. Ist das erstaunlich? Nein, nur gesetzmäßig! Die Methode der geistigen Anpassung an den Gegner und Klassenfeind – eine der Theorie und Psychologie des Bolschewismus direkt entgegengesetzte Methode – ergibt sich organisch aus dem Wesen des Zentrismus, aus seiner Prinzipienlosigkeit, Inhaltslosigkeit und geistigen Leere. So hat die Stalinsche Bürokratie eine Reihe von Jahren die thermidorianische Politik verfolgt, um den Anhängern des Thermidors den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Erschrocken über die Linke Opposition, begann die Stalinsche Bürokratie, die linke Plattform stückweise nachzuahmen. Um die englischen Arbeiter der Macht des Trade-Unionismus zu entreißen, wandten die Stalinisten statt der marxistischen die tradeunionistische Politik an. Um den chinesischen Arbeitern und Bauern zu helfen, den selbständigen Weg zu finden trieben die Stalinisten sie in die bürgerliche Kuomintang hinein. Diese Aufzählung lässt sich endlos fortsetzen. In großen wie in kleinen Fragen sehen wir stets die gleiche Mimikry, die gleiche Anpassung an den Gegner, das Bestreben, gegen den Feind nicht die eigenen Waffen anzuwenden – die man leider nicht besitzt! – sondern die aus dem Arsenal des Gegners gestohlenen. In gleicher Richtung wirkt sich auch das gegenwärtige Parteiregime aus. Wir haben mehr als einmal gesagt und geschrieben, dass die Selbstherrlichkeit des Apparates die führende Schicht der Komintern demoralisiert, indem sie die fortgeschrittenen Arbeiter erniedrigt und unselbständig macht, revolutionäre Charaktere zermürbt und verdirbt, die proletarische Avantgarde vor dem Angesicht des Feindes unvermeidlich schwächt. Wer den Kopf vor jedem Befehl von oben gehorsam beugt, ist als revolutionärer Kämpfer unbrauchbar. Die zentristischen Bürokraten waren Anbeter Sinowjews unter Sinowjew, Anbeter Bucharins unter Bucharin, Anbeter Stalins und Molotows, als deren Zeit gekommen war. Sie haben ihr Haupt sogar vor Manuilski, Kuusinen und Losowski gebeugt. Sie wiederholten an jeder zurückgelegten Etappe die Worte, Intonationen und Gesten des jeweiligen «Führers», sagten sich auf Kommando heute von dem los, was sie gestern beschworen hatten, und pfiffen mit zwei Fingern im Munde jeden in Ungnade gefallenen Vorgesetzten aus, den sie gestern auf Händen trugen. In solchem katastrophalem Regime wird die revolutionäre Männlichkeit kastriert, das theoretische Bewusstsein verwüstet, das Rückgrat gebrochen. Nur jene Bürokraten, welche durch die Sinowjew-Stalinsche Schule gegangen waren, konnten mit solcher Leichtigkeit die proletarische Revolution gegen die Volksrevolution vertauschen und die Bolschewiki-Leninisten als Renegaten erklärend, Chauvinisten vom Typus des Scheringer auf den Schultern hochheben. «Revolutionärer Krieg» und Pazifismus Die Sache der Kommunistischen Partei betrachten die Scheringer und Stenbock-Fermor gnädig als eine direkte Fortsetzung des Hohenzollernschen Krieges. Die Opfer der niederträchtigsten imperialistischen Schlächterei bleiben für sie Helden, die für die Freiheit des deutschen Volkes fielen. Sie sind bereit, einen neuen Krieg um Elsass-Lothringen und Ostpreußen als «revolutionären» Krieg zu bezeichnen. Sie sind gewillt – vorläufig in Worten – die «Volksrevolution» zu akzeptieren, wenn sie als Mittel dient, für ihren «revolutionären» Krieg die Arbeiter zu mobilisieren. Ihr ganzes Programm besteht im Revanchegedanken, – wenn es ihnen morgen möglich erscheinen sollte, das gleiche Ziel auf einem anderen Wege zu erreichen, werden sie hinterrücks auf revolutionäre Proletarier schießen. Nicht verschweigen, entlarven muss man das. Nicht einschläfern darf man die Wachsamkeit der Arbeiter, sondern wecken. Und was tut die Partei? In der kommunistischen «Fanfare» vom 1. August, auf dem Höhepunkt der Agitation für den roten Volksentscheid, ist neben einem Porträt Scheringers eine seiner neuen apostolischen Botschaften abgedruckt. Darin steht wörtlich folgendes: «Die Sache der Toten des Weltkrieges, die ihr Leben für eine freies Deutschland gelassen haben, verrät jeder, der heute gegen die Volksrevolution auftritt, gegen den revolutionären Befreiungskrieg». Man traut seinen Augen nicht, liest man diese Offenbarungen auf den Seiten einer Presse, die sich kommunistisch nennt. Und das alles wird mit dem Namen von Liebknecht und Lenin gedeckt! Welch lange Peitsche würde Lenin in die Hand nehmen, um mit einem solchen Kommunismus polemisch abzurechnen! Und er würde sich mit polemischen Artikeln nicht begnügen. Er würde auf die Einberufung eines außerordentlichen internationalen Kongresses drängen, um die Reihen der proletarischen Avantgarde erbarmungslos von der Krankheit des Chauvinismus zu befreien. «Wir sind keine Pazifisten», erwidern uns stolz die Thälmann, Remmele usw. «Wir sind prinzipiell für einen revolutionären Krieg». Zum Beweis sind sie bereit, einige Zitate aus Marx und Engels anzuführen, die die analphabetischen «roten Professoren» in Moskau für sie ausgesucht haben. Man könnte tatsächlich glauben, Marx und Lenin wären Verkünder des nationalen, nicht des proletarischen Krieges gewesen! Als habe der Begriff des revolutionären Krieges bei Marx und Lenin etwas gemein mit der nationalistischen Ideologie faschistischer Offiziere und zentristischer Unteroffiziere. Durch die billige Phrase vom revolutionären Krieg gewinnt die Stalinsche Bürokratie ein Dutzend Abenteurer, stößt aber Hunderttausende und Millionen sozialdemokratischer, christlicher und parteiloser Arbeiter ab. «Ihr empfehlt also, dass wir uns dem Pazifismus der Sozialdemokratie anpassen», wird irgendein besonders tiefsinniger Theoretiker des neuesten Kurses einwenden. Nein, wir sind am allerwenigsten geneigt, uns anzupassen, sogar nicht den Stimmungen der Arbeiterklasse; doch damit zu rechnen, ist unbedingt notwendig. Nur wenn man richtig die Stimmungen der breiten Massen des Proletariats einschätzt, kann man es zur Revolution führen. Die Bürokratie dagegen, die sich der Phraseologie des kleinbürgerlichen Nationalismus anpasst, ignoriert die wirklichen Stimmungen der Arbeiter, die keinen Krieg wollen, ihn nicht wollen können und die abgestoßen werden von der kriegerischen Prahlerei der neuen Firma: Thälmann, Scheringer, Graf Stenbock-Fermor, Heinz Neumann u. Co. Selbstverständlich muss der Marxismus im Falle der Machteroberung durch das Proletariat mit der Möglichkeit eines revolutionären Krieges rechnen. Das ist aber noch sehr weit davon entfernt, eine historische Wahrscheinlichkeit, die uns durch den Gang der Ereignisse nach der Machteroberung aufgezwungen werden kann, vor der Machteroberung in eine politische Kampfparole zu verwandeln. Der revolutionäre Krieg als eine unter gewissen Bedingungen aufgezwungene Folge des proletarischen Sieges – ist Eines, die «Volks»revoIution als Mittel für den revolutionären Krieg – ist etwas Anderes, ja geradezu völlig Entgegengesetztes. Trotz der prinzipiellen Anerkennung des revolutionären Krieges unterschrieb bekanntlich die Regierung Sowjetrusslands den schweren Brest-Litowsker Frieden. Weshalb? Weil die Bauern und Arbeiter mit Ausnahme einer kleinen revolutionären Schicht einen Krieg nicht wollten. Die gleichen Bauern und Arbeiter haben dann heldenhaft die Sowjetrevolution gegen unzählige Feinde verteidigt. Als wir jedoch versuchten, den uns von Pilsudski aufgezwungenen schweren Verteidigungskrieg in einen Angriffskrieg zu verwandeln, erlitten wir eine Niederlage, und dieser aus falscher Kräfteberechnung entstandene Fehler hat die Entwicklung der Revolution sehr schwer getroffen. Die Rote Armee besteht bereits das 14. Jahr. «Wir sind keine Pazifisten.» Aber weshalb erklärt die Sowjetregierung bei jeder Gelegenheit ihre friedliche Politik? Weshalb macht sie Entwaffnungsvorschläge und schließt Nichtangriffspakte ab? Weshalb wendet sie die Rote Armee nicht als Mittel der proletarischen Weltrevolution an? Es genügt wohl nicht, im Prinzip für den revolutionären Krieg zu sein. Man muss außerdem noch den Kopf auf den Schultern haben. Man muss der Situation, dem Kräfteverhältnis, der Stimmung der Masse Rechnung tragen. Wenn das für eine Arbeiterregierung verbindlich ist, die über einen mächtigen staatlichen Zwangsapparat verfügt, umso aufmerksamer muss eine revolutionäre Partei, die nur durch Überzeugung, nicht aber durch Zwang wirken kann, mit den Stimmungen der Arbeiter und der Werktätigen überhaupt rechnen. Die Revolution ist für uns kein Hilfsmittel für einen Krieg gegen den Westen, sondern im Gegenteil ein Mittel, um einen Krieg zu vermeiden, um mit dem Krieg für alle Ewigkeiten Schluss zu machen. Wir kämpfen gegen die Sozialdemokratie nicht auf die Weise, dass wir das allen Werktätigen eigene Streben nach Frieden verlachen, sondern dadurch, dass wir die Lüge ihres Pazifismus entlarven; denn die kapitalistische Gesellschaft, die Tag für Tag von der Sozialdemokratie gerettet wird, ist ohne Krieg undenkbar. Die «nationale Befreiung» Deutschlands liegt für uns nicht in einem Krieg mit dem Westen, sondern in der proletarischen Revolution, die Zentral- und Westeuropa erfasst und es als Vereinigte Sowjetstaaten mit Osteuropa verbündet. Nur eine solche Fragestellung kann die Arbeiterklasse zusammenschweißen und sie zum Anziehungspunkt für verzweifelte Kleinbürgermassen machen. Damit das Proletariat der heutigen Gesellschaft seinen Willen diktieren kann, hat seine Partei sich nicht zu schämen, eine proletarische Partei zu sein und deren eigene Sprache zusprechen: nicht die Sprache der nationalen Revanche, sondern die Sprache der internationalen Revolution. Wie müssten Marxisten urteilen? Der rote Volksentscheid fiel nicht vom Himmel; er erwuchs aus der weit zurückreichenden ideologischen Entartung der Partei. Aber deswegen hört er nicht auf, das böseste Abenteuer zu sein, das man sich vorstellen kann. Der Volksentscheid wurde durchaus nicht zum Ausgangspunkt des Kampfes um die Macht. Er verblieb gänzlich im Rahmen eines parlamentarischen Hilfsmanövers. Mit seiner Hilfe versetzte sich die Partei eine selbstausgeklügelte kombinierte Niederlage: die Sozialdemokratie stärkend und folglich die Regierung Brüning, die Niederlage der Faschisten verdeckend, die sozialdemokratischen Arbeiter und einen bedeutenden Teil ihrer eigenen Wähler vor sich abstoßend, fand sich die Partei am Tage nach dem Volksentscheid bedeutend schwächer als tags zuvor. Einen besseren Dienst konnte man dem deutschen und dem Weltkapitalismus nicht erweisen Die kapitalistische Gesellschaft in Deutschland befand sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten einige Mal am Vorabend des Zusammenbruches, aber jedes Mal arbeitete sie sich aus der Katastrophe heraus. Die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen allein genügen nicht zur Revolution. Nötig sind auch politische Voraussetzungen d.h. ein solches Kräfteverhältnis, welches, wenn es auch nicht den Sieg von vornherein sichert – eine solche Situation existiert nicht in der Geschichte – ihn doch möglich und wahrscheinlich macht. Die strategische Berechnung, die Kühnheit und Entschlossenheit verwandelt sich alsdann mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Wirklichkeit. Aber keine Strategie kann Unmögliches in Mögliches verwandeln. Anstelle der allgemeinen Phrasen über die Vertiefung der Krise und «die Veränderung der Situation» war das Zentralkomitee verpflichtet, genau aufzuzeigen, welches Kräfteverhältnis im gegenwärtigen Moment im deutschen Proletariat, in den Gewerkschaften, den Betriebsräten herrscht, welche Verbindungen die Partei mit den Landarbeitern u. a. hat. Diese Daten lassen eine genaue Überprüfung zu und bilden kein Geheimnis. Wenn Thälmann den Mut gehabt hätte, alle Elemente der politischen Lage aufzuzählen und abzuwägen, dann wäre er gezwungenermaßen zu der Schlussfolgerung gekommen: ungeachtet der ungeheuerlichen Krisis des kapitalistischen Systems und des bedeutenden Wachstums des Kommunismus in der letzten Periode ist die Partei noch immer zu schwach, um eine forcierte revolutionäre Lösung anzustreben. Umgekehrt, diesem Ziele streben die Faschisten zu. Dazu haben sie die bereitwillige Hilfe aller bürgerlichen Parteien, eingerechnet die Sozialdemokratie. Denn die Kommunisten fürchten sie alle mehr als die Faschisten. Mit Hilfe der preußischen Volksabstimmung wollen die Nationalsozialisten das erzunbeständige staatliche Gleichgewicht zertrümmern, um die schwankenden Schichten der Bourgeoisie zu zwingen, sie – die Faschisten – zu unterstützen bei dem Blutgericht über die Arbeiterschaft. Den Faschisten dabei zu helfen, wäre von unserer Seite die größte Dummheit. Darum sind wir gegen die faschistische Volksabstimmung. – So hätte Thälmann sein Referat schließen müssen, wenn ihm nur ein Körnchen marxistischen Gewissens geblieben wäre. Danach wäre die Eröffnung einer möglichst breiten und aufrichtigen Diskussion nötig gewesen, weil für die Herren Führer, auch solche unfehlbaren wie Heinz Neumann und Remmele, es nötig ist, aufmerksam zu horchen auf alle Schwankungen der Stimmung der Masse. Es ist notwendig, sich nicht nur hinein zu hören in die offiziellen Worte, die mitunter der Kommunist spricht, sondern in die tieferen, echten Massen-Gedanken, die sich unter seinen Worten verstecken. Notwendig ist, die Arbeiter nicht zu kommandieren, sondern von ihnen lernen zu können. Wenn die Diskussion eröffnet worden wäre, dann hätte wahrscheinlich einer der Teilnehmer folgende ungefähre Rede vorgetragen: Thälmann hat Recht, wenn er beweist, dass wir ungeachtet der zweifellosen Veränderung der Lage nach dem Kräfteverhältnis eine Forcierung der revolutionären Lösung nicht anstreben dürfen. Aber namentlich darum – wie wir sehen – treiben unsere entschiedensten und schärfsten Feinde zur Lösung. Können wir in diesem Falle voraussehen, wie viel Zeit wir nötig haben, um eine Verschiebung im Kräfteverhältnis durchzuführen, d. h. die grundlegenden proletarischen Massen dem Einfluss der Sozialdemokratie zu entreißen und die verzweifelnden Schichten der Kleinbourgeoisie zu veranlassen, sich mit dem Gesichte dem Proletariat zuzuwenden und mit dem Rücken dem Faschismus? Gut, wenn das gelingt. Aber was, wenn die Faschisten die Sache gegen unseren Willen in kürzester Zeit bis zur Entscheidung treiben? Erweist sich dann die proletarische Revolution aufs Neue einer schweren Niederlage geweiht? Darauf würde Thälmann, wäre; er ein Marxist, ungefähr Folgendes antworten: Selbstverständlich, die Auswahl des Momentes für den entscheidenden Kampf hängt nicht nur von uns, sondern auch von unseren Feinden ab. Wir sind alle damit einverstanden, dass die Aufgabe unserer Strategie im gegenwärtigen Moment ist. unserem Feinde die Forcierung der Entscheidung zu erschweren und nicht zu erleichtern. Wenn uns die Feinde nichtsdestoweniger den Kampf aufzwingen, nehmen wir ihn selbstverständlich an, denn es gibt keine schwerere, verderblichere, vernichtendere, demoralisierendere Niederlage, als die Übergabe großer historischer Positionen ohne Kampf. Wenn die Faschisten die Initiative zur Entscheidung – den Volksmassen offenkundig – auf sich nehmen, dann stoßen sie unter den heutigen Bedingungen breite Schichten der Arbeitenden auf unsere Seite. In diesem Falle werden wir umso mehr Chancen haben, den Sieg davonzutragen, je klarer wir heute den Arbeiter-Millionen zeigen und beweisen, dass wir uns ganz und gar nicht anschicken, ohne sie oder gegen sie den Umsturz zu vollziehen. Wir müssen deshalb offen den sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeitern sagen: die Faschisten, eine kleine Minderheit, wollen die gegenwärtige Regierung stürzen, um die Macht zu ergreifen; wir, die Kommunisten, betrachten die gegenwärtige Regierung als einen Feind des Proletariats: aber diese Regierung stützt sich auf euer Vertrauen und eure Stimmen; wir wollen diese Regierung stürzen im Bunde mit euch, aber nicht vermittelst eines Bündnisses mit den Faschisten gegen euch. Wenn die Faschisten einen Aufstand versuchen, dann werden wir Kommunisten bis zum letzten Blutstropfen gegen sie kämpfen, nicht um Braun-Brüning zu verteidigen, sondern um zu schützen die Blüte des Proletariats vor Erdrosselung und Ausrottung, die Arbeiterorganisationen, die Arbeiterpresse, nicht nur unsere, die kommunistische, sondern auch eure, die sozialdemokratische. Wir sind bereit, zusammen mit euch jedes beliebige Arbeiterheim, jede beliebige Druckerei von Arbeiterzeitungen zu verteidigen gegen den Angriff der Faschisten. Und wir fordern von euch, dass ihr euch verpflichtet, uns zu Hilfe zu kommen, falls Gefahr droht unseren Organisationen. Wir schlagen euch vor die Einheitsfront der Arbeiterklasse gegen die Faschisten. – Je fester und nachdrücklicher wir diese Politik durchführen werden, sie auf alle Fragen anwendend, desto schwerer wird es den Faschisten, uns unerwartet zu überrumpeln, umso weniger Chancen haben sie, uns zu schlagen im offenen Kampfe. – So würde unser angenommener Thälmann antworten. Aber nun ergreift das Wort ein Redner, durchdrungen durch und durch von den großen Ideen Heinz Neumanns. – Aus einer solchen Politik, sagt er, kommt nichts heraus. Die sozialdemokratischen Führer sagen den Arbeitern: glaubt nicht den Kommunisten, sie sind gar nicht besorgt um die Rettung der Arbeiterorganisationen, sie wollen einfach die Macht ergreifen; sie bezeichnen uns als Sozialfaschisten, und Unterschiede zwischen uns und den Nationalisten machen sie nicht. Diese Politik, die Thälmann vorschlägt, macht uns nur lächerlich in den Augen der sozialdemokratischen Arbeiter. Darauf müsste Thälmann so antworten: Die Sozialdemokraten Faschisten zu nennen – das ist, selbstverständlich, eine Dummheit, welche uns selber in jedem kritischen Moment verwirrt und uns stört, den Weg zu den sozialdemokratischen Arbeitern zu finden. Diese Dummheit abzulehnen, ist das Beste was wir machen können. Was aber das betrifft, als ob wir unter dem Vorwand der Verteidigung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen einfach die Macht ergreifen wollen, sagen wir den sozialdemokratischen Arbeitern: ja, wir Kommunisten erstreben die Erkämpfung der Macht, aber dazu haben wir die unbedingte Mehrheit der Arbeiterklasse notwendig. Der Versuch gestützt auf eine Minderheit die Macht zu ergreifen, wäre verächtliches Abenteurertum, mit dem wir nichts Gemeinsames haben. Wir können die Mehrheit der Arbeiter nicht zwingen, mit uns zu gehen, wir können sie nur überzeugen. Wenn die Faschisten die Arbeiterklasse zertrümmern würden, dann könnte von einer Eroberung der Macht durch die Kommunisten auch nicht die Rede sein. Die Arbeiterklasse und ihre Organisationen vor den Faschisten zu schützen, bedeutet für uns, die Möglichkeit zur Überzeugung der Arbeiterklasse zu sichern und sie zu uns zu führen. Darum können wir nicht anders zur Macht kommen als alle Elemente der Arbeiterdemokratie im kapitalistischen Staate schützend, nötigenfalls mit der Waffe in der Hand. Thälmann könnte da noch hinzufügen: Um das feste, unzerstörbare Vertrauen der Mehrheit der Arbeiterschaft zu erobern, müssen wir uns vor allem hüten, ihr Sand in die Augen zu streuen, unsere Kräfte zu übertreiben, die Augen vor den Tatsachen zu schließen oder – was noch schlechter ist – sie zu entstellen. Man muss aussprechen, was ist. Die Feinde täuschen wir nicht, sie haben tausende Organe zur Überprüfung. Die Arbeiterschaft betrügend, betrügen wir uns selbst. Uns als stärker ausgebend, schwächen wir uns nur selbst. Darin, Freunde, ist keinerlei «Unglauben», keinerlei «Pessimismus». Wir sollten Pessimisten sein? Vor uns haben wir gigantische Möglichkeiten. Wir haben eine unermessliche Zukunft. Das Schicksal Deutschlands, das Schicksal Europas, das Schicksal der ganzen Welt hängt von uns ab. Und gerade der, der fest vertraut auf die revolutionäre Zukunft, hat keine Illusionen nötig. Ein marxistischer Realismus ist die Voraussetzung eines revolutionären Optimismus. So hätte Thälmann geantwortet, wenn er ein Marxist wäre. Aber, zum Unglück, er ist kein Marxist. Weshalb schwieg die Partei? Wie konnte die Partei aber schweigen? Thälmanns Rede, die in der Frage des Volksentscheids eine Schwenkung um 180 Grad bedeutete, wurde ohne Diskussion hingenommen. So war es von oben empfohlen worden: und empfehlen heißt befehlen. Alle Berichte der «Roten Fahne» bezeugen, dass der Volksentscheid in allen Parteiversammlungen «einstimmig» angenommen wurde. Diese Einstimmigkeit wird als Beweis besonderer Stärke der Partei hingestellt. Wo und wann ist in der Geschichte einer revolutionären Bewegung solche Einhelligkeit je vorgekommen? Die Thälmann und Remmele schwören auf den Bolschewismus. Doch ist die Geschichte des Bolschewismus eine Geschichte eines gespannten inneren Kampfes, in dem die Partei sich ihre Ansichten eroberte und ihre Methoden schmiedete. Die Chronik des Jahres 1917, des größten Jahres in der Parteigeschichte, wie auch der ersten fünf Monate nach der Machtergreifung ist voll des gespannten inneren Kampfes, und dabei kein Fall einer Spaltung, kein wesentlicher Ausschluss aus der Partei aus politischen Motiven. Und dabei standen doch immerhin an der Spitze der bolschewistischen Partei Führer von anderem Format, von anderer Stählung und anderer Autorität als Thälmann, Remmele und Neumann. Woher aber diese erschreckende Einhelligkeit, die jede Wendung der unglückseligen Führer in ein absolutes Gesetz für die gigantische Partei verwandelt? «Ohne Diskussion»! Denn, wie «Die Rote Fahne» erklärt, «man braucht in dieser Situation nicht Reden, sondern Taten». Ekelhafte Heuchelei! Die Partei muss «Taten» vollbringen, darauf verzichtend, vorher über sie zu diskutieren. Von welchen Taten ist in diesem Falle die Rede? Um auf dem viereckigen Staatszettel ein Kreuz zu machen, wobei nicht die Möglichkeit besteht, bei der Stimmenzählung die proletarischen Kreuze von den Hakenkreuzen zu trennen. Akzeptiere ohne Zweifel, ohne Überlegung, ohne Fragen, sogar ohne einen sorgenvollen Ausdruck in den Augen den neuen Bocksprung der gottgewollten Führer, andernfalls bist du Renegat und Konterrevolutionär! Das ist das Ultimatum, das die internationale Stalinsche Bürokratie wie einen Revolver an die Schläfe des fortgeschrittenen Arbeiters hält. Äußerlich mag es scheinen, dass die Masse sich mit diesem Regime abfindet und alles herrlich geht. Doch nein! Die Masse ist kein Lehm, den man nach Belieben modellieren kann. Auf ihre Art, langsam, aber sehr eindringlich reagiert sie auf die Fehler und Widersinnigkeiten der Leitung. Sie hat sich auf ihre Art der Theorie der «dritten Periode» widersetzt, indem sie die unzähligen roten Tage boykottierte. Sie verlässt die französischen unitären Gewerkschaften, wenn sie sich nicht auf normalem Wege den Experimenten Losowski-Montmousseaux widersetzen kann. Die «Idee» des roten Volksentscheids ablehnend, beteiligten sich hunderttausende und Millionen Arbeiter nicht daran. Das ist der Lohn für die Verbrechen der zentristischen Bürokratie, die sich dem Klassenfeind anpasst, dafür aber die eigene Partei fest an der Gurgel hält. Was sagt Stalin? Hat Stalin tatsächlich im Voraus den neuen Zickzack sanktioniert? Das weiß niemand, wie auch niemand Stalins Ansicht über die spanische Revolution kennt. Stalin schweigt. Wenn bescheidenere Führer, von Lenin angefangen, Einfluss auf die Politik einer Bruderpartei ausüben wollten, hielten sie Reden oder schrieben sie Artikel. Sie hatten eben etwas zu sagen. Stalin hat nichts zu sagen. Er wendet in Bezug auf einen historischen Prozess List an, wie er gegen einzelne Personen List anwendet. Er macht sich keine Gedanken, wie man dem deutschen oder dem spanischen Proletariat helfen könnte, einen Schritt vorwärts zu machen, er denkt nur daran, wie er sich von vornherein einen politischen Rückzug sichern kann. Ein unübertreffliches Beispiel Stalinscher Zweideutigkeit in den Kernfragen der Weltrevolution ist sein Verhalten zu den deutschen Ereignissen im Jahre 1923. Wir wollen daran erinnern, was er im August des betreffenden Jahres an Sinowjew und Bucharin schrieb: «Sollen die Kommunisten (im gegebenen Stadium) die Machtergreifung ohne die SPD anstreben, sind sie dafür schon reif – das ist meiner Ansicht nach die Frage. Als wir die Macht übernahmen, hatten wir in Russland folgende Reserven: a) Frieden, b) Land für die Bauern, c) Unterstützung seitens einer gewaltigen Mehrheit der Arbeiterklasse, d) die Sympathie der Bauernschaft. Das alles haben die deutschen Kommunisten gegenwärtig nicht. Gewiss haben sie in der Nachbarschaft ein Sowjetland, was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen in diesem Augenblick geben? Wenn jetzt in Deutschland die Macht sozusagen fällt, und die Kommunisten sie auffangen, werden sie mit Krach durchfallen. Das «im besten Falle». Im schlimmsten wird man sie kurz und klein schlagen und zurückwerfen… Meiner Ansicht nach muss man die Deutschen zurückhalten, keinesfalls aber ermuntern.» Stalin stand folglich rechts von Brandler, der im August-September 1923 im Gegenteil der Ansicht war, die Machteroberung in Deutschland würde keine Mühe bereiten, aber die Schwierigkeiten würden erst beginnen am Tage nach der Machtergreifung. Die offizielle Meinung der Komintern ist heute, dass die Brandlerianer im Herbst 1923 eine ausnahmsweise günstige revolutionäre Situation versäumt haben. Oberankläger der Brandlerianer ist… Stalin. Hat er sich jedoch mit der Komintern wegen seiner eigenen Position von 1923 auseinandergesetzt? Nein, dafür besteht auch nicht die geringste Notwendigkeit: es genügt, den Sektionen der Komintern zu verbieten, diese Frage zu stellen. Nach dem gleichen Muster wird Stalin zweifellos versuchen, auch die Frage des Volksentscheids zu behandeln. Thälmann* würde ihn nicht überführen können, auch wenn er es wagen sollte. Stalin hat durch seine Agenten das deutsche ZK angespornt und ist selbst zweideutig beiseite getreten. Im Falle eines Erfolges der neuen Politik würden alle Manuilskis und Remmeles verkündet haben, die Initiative gehöre Stalin. Im Falle eines Misserfolges aber wird Stalin die restlose Möglichkeit behalten, einen Schuldigen zu finden. Darin besteht ja die Quintessenz seiner Strategie. Auf diesem Gebiete ist er stark. Was sagt die «Prawda»? Und was sagt nun die «Prawda», das Hauptblatt der Hauptpartei der Kommunistischen Internationale? Die «Prawda» hat es nicht versucht, auch nur einen ernsten Artikel, auch nur den Versuch einer Analyse der Lage in Deutschland zu bringen. Aus Thälmanns großer Programmrede druckte sie verschämt ein halbes Dutzend hohler Phrasen ab. Was könnte die heutige kopflose, rückgratlose, in Widersprüchen verirrte diensteifrige Bürokratie der «Prawda» auch sagen? Worüber kann die «Prawda» in Anbetracht des schweigenden Stalin sprechen? Am 24. Juli erklärte die «Prawda» die Berliner Wendung auf folgende Weise: «Die Nichtbeteiligung am Volksentscheid würde bedeuten, die Kommunisten seien für den heutigen reaktionären Landtag». Die ganze Sache läuft hier auf ein einfaches Misstrauensvotum hinaus. Warum aber haben dann die Kommunisten zum Volksentscheid nicht die Initiative ergriffen, warum haben sie monatelang gegen diese Initiative gekämpft und warum sind sie plötzlich am 24. Juli vor ihr niedergekniet? Das Argument der «Prawda» ist ein verspätetes Argument des parlamentarischen Kretinismus, nichts weiter. Am 11. August, nach dem Volksentscheid, ändert die «Prawda» die Argumentation: «Der Sinn der Beteiligung am Volksentscheid bestand für die Partei in der außerparlamentarischen Mobilisierung der Massen». Aber gerade für diesen Zweck, für die außerparlamentarische Mobilisierung der Massen, war ja der 1. August bestimmt. Wir wollen hier nicht bei der Kritik der roten Kalendertage verweilen. Jedenfalls hatte am 1. August die Kommunistische Partei die Massen unter eigenen Parolen und unter eigener Leitung mobilisiert. Aus welchem Grunde erwies sich acht Tage später eine neue Mobilisierung nötig, und zwar eine, bei der die Mobilisierten einander nicht sehen können, keiner sie nachzuzählen vermag, wo weder sie selbst, noch ihre Freunde, noch ihre Feinde in der Lage sind, sie von ihren Todfeinden zu unterscheiden? Am nächsten Tage, in der Nummer vom 12. August, erklärt die «Prawda» nicht mehr und nicht weniger als: «die Resultate der Abstimmung bedeuten… den größten aller Schläge, die die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie bis jetzt zugefügt hat». Wir wollen keine Zahlen der Volksentscheid-Statistik hier anführen. Sie sind allen (außer den Lesern der «Prawda») bekannt und sie schlagen der widersinnigen und beschämenden Prahlerei der «Prawda» ins Gesicht. Den Arbeitern etwas vorlügen, ihnen Sand in die Augen streuen, ist für diese Menschen ganz in der Ordnung. Der offizielle Leninismus ist vom bürokratischen Epigonentum mit den Stiefelabsätzen zertreten und zerstampft worden. Aber der inoffizielle Leninismus lebt. Mögen die entfesselten Bürokraten nur nicht glauben, dass ihnen alles straflos durchgeht. Die wissenschaftlich begründeten Ideen der proletarischen Revolution sind stärker als der Apparat, stärker als jede Kasse, stärker als die wütendsten Repressalien. An Apparat, Kasse und Repressalien sind unsere Klassenfeinde unermesslich stärker als die heutige Stalinsche Bürokratie. Nichtsdestoweniger haben wir sie auf dem Territorium Russlands besiegt. Wir haben gezeigt, dass man sie besiegen kann. Das revolutionäre Proletariat wird sie überall besiegen. Dazu braucht es eine richtige Politik. Im Kampfe gegen den Stalinschen Apparat wird sich die proletarische Avantgarde ihr Recht erkämpfen, die Politik von Marx und Lenin zu verfolgen. 25. August 1931. L. Trotzki. * Die Frage ob Thälmann tatsächlich gegen die letzte Wendung gewesen war und sich nur Remmele und Neumann, die eine Stutze in Moskau gefunden hatten, unterwarf, interessiert uns als rein persönliche und episodische Frage hier nicht: es handelt sich um das System. Thälmann hat es nicht gewagt, an die Partei zu appellieren und trägt somit die gesamte Verantwortung. |
Leo Trotzki > 1931 >