Leo Trotzki: Fünfjahresplan in vier Jahren? [Veröffentlicht als Punkt 6 in der deutschen Fassung des Artikels „Erfolge des Sozialismus und Gefahren des Abenteurertums“, der in der „Aktion“, 21. Jahrgang, Heft 1/2 (April 1931) Spalte 1-16 erschien] Das Sonderquartal hat sehr hohe Tempos in der Entwicklung der Industrie gezeigt. Aber gleichzeitig zeigte es, dass die Umwandlung des Fünfjahresplans in einen Vierjahrplan ein leichtfertiges Abenteuer war, das den Kernplan gefährdet. Das Wirtschaftsjahr begann bei uns im Gegensatz zum Kalenderjahr nicht am 1. Januar, sondern am 1. Oktober. Das war bedingt durch die Notwendigkeit, die wirtschaftlichen Berechnungen und Operationen dem landwirtschaftlichen Zyklus anzupassen. In wessen Namen wurde nun dieser Brauch, der, wie gesagt, ernsten Erwägungen entsprach, plötzlich umgestoßen? Im Namen des Triumphs des bürokratischen Prestiges. Da schon das letzte Quartal des zweiten Jahres des Fünfjahresplans die Unmöglichkeit ergeben hatte, den Plan in vier Jahren zu verwirklichen, so wurde beschlossen, ein Sonderquartal einzulegen, das heißt, den vier Jahren drei Extramonate zuzugeben. Man mutmaßte, in dieser Zeit könnte es mit Hilfe eines verdoppelten Druckes auf Muskeln und Nerven der Arbeiter gelingen, dem Fetisch der Unfehlbarkeit der Leitung Hilfe zu leisten. Da aber das Sonderquartal keine besonderen Wunderkräfte offenbarte (es wird ja dadurch nicht wärmer, dass man die Null am Thermometer verschiebt), so stellte sich am Ende des Quartals heraus, was vorauszusehen war und was wir vorausgesagt haben: trotz der Arbeit unter den drei Knuten: der Partei, der Sowjets und der Gewerkschaften war das Übertempo nicht zu verwirklichen. Die Roheisenindustrie im Süden und im Zentrum erfüllte den Plan des Sonderquartals zu 84 Prozent. Die Eisenindustrie insgesamt blieb um etwa 20 Prozent hinter dem Plan zurück („Prawda" vom 16. Januar 1931). Das Donezbecken lieferte 10 Millionen Tonnen Kohle statt der programmgemäßen 16 Millionen Tonnen, d. h. nicht mehr als 62 Prozent. Die 'Superphosphatfabriken lösten die Produktionsaufgabe gleichfalls nur zu 62 Prozent. In den anderen Industriezweigen ist das Zurückbleiben hinter dem Programm nicht ganz so groß (vollständige Berichte besitzen wir nicht), immerhin ist der sogenannte „Durchbruch" des Planes sehr bedeutend, insbesondere und hauptsächlich im Kapitalaufbau. Schlimmer jedoch verhält es sich bei den Qualitätsausweisen. Von der Kohlenindustrie sagt die Zeitung „Sa Industrialisaziu".: „Die Ausweise über Qualität offenbaren einen tieferen Durchbruch als die über Quantität." (8. Januar). Von dem Kriworoger Eisenerz schreibt das gleiche Blatt: „Die Qualitätsausweise haben sich verschlechtert" (7. Januar). Verschlechtert! Wir wissen aber, dass sie schon vorher auf einem sehr tiefen Niveau standen. Bezüglich der sonstigen Metalle und des Goldes stellt diese Zeitung fest: „Statt Senkung der Gestehungskosten – Steigerung." Gleichartige Urteile könnte man eine lange Reihe "anführen. Was die Verschlechterung der Kohlenqualität für das Transportwesen bedeutet, darüber sagt unser Korrespondent: Verringerung der durchlaufenen Wegstrecken, Beschädigung der Lokomotiven, Anwachsen der Unfälle, überhaupt Desorganisation des Transports ist die automatische Antwort auf die Verschlechterung der Qualität des Heizmaterials. Gleichzeitig schlägt die Desorganisierung des Eisenbahntransports, der, was wir hier gleich feststellen wollen, während des Sonderquartals besonders zurückgeblieben ist, schwer auf alle übrigen Wirtschaftszweige. Die Sportmethode, durch die die Leitung Umsicht, sachliche und elastische Planierung ersetzt, bedeutet eine immer größere Anhäufung von Rückständen nicht selten in verschleierter und darum um so gefährlicherer Form, die mit besonders scharfen Krisenausbrüchen droht. Das Tempo des Sonderquartals ist an sich sehr hoch und bildet eine glänzende Demonstration der unermesslichen Vorteile, die in der Planwirtschaft enthalten sind. Bei einer richtigen Leitung, die den realen ökonomischen Prozessen Rechnung trägt und die notwendigen Änderungen im Plan im Verlaufe des Prozesses seiner Erfüllung vornimmt, könnten die Arbeiter ein berechtigtes Gefühl des Stolzes über die erreichten Erfolge empfinden. Jetzt jedoch wird direkt das entgegengesetzte Resultat erreicht: Wirtschaftler und Arbeiter sehen dauernd nur die Undurchführbarkeit der Pläne, dürfen aber nichts laut aussprechen, arbeiten unter Druck und fühlen sich im Geheimen verletzt; ehrliche und sachliche Administratoren wagen nicht, dem Arbeiter in die Augen zu blicken. Alle sind unzufrieden. Die Berichterstattung wird den Aufgaben künstlich angepasst, die Qualität der Erzeugnisse wird der Berichterstattung angepasst – alle Wirtschaftsprozesse werden in einen Dunst von Unwahrhaftigkeit gehüllt. So wird die Krise vorbereitet. In wessen Namen? Im Namen des bürokratischen Prestiges, das endgültig den Platz des bewussten und kritischen Vertrauens der Partei zur Leitung eingenommen hat. Man muss gleich sagen, dass dieser Götze – das Prestige – nicht nur verteufelt anspruchsvoll und zynisch ist, sondern auch reichlich dumm: er trägt keine Bedenken, zum Beispiel offen zuzugeben, dass die Pläne durch Schädlinge ausgearbeitet wurden, – wobei weder Krschischanowski noch Kuibyschew noch Molotow noch Stalin sich fähig zeigten, diese Schädlingsarbeit an ihren ökonomischen Anzeichen zu erkennen. Andererseits will dieser gleiche Götze keinesfalls eingestehen, dass die Vierjahresfrist, entsprungen der Vermengung von Schädlingstendenzen und analphabetischem Abenteurertum, falsch ist. Wir wollen nochmals daran erinnern, dass der Troubadour des Prestiges, Jaroslawski, als wir von Anfang an vor dem leichtfertigen, unmotivierten und unvorbereiteten Schritt warnten, in allen Sprachen verlauten ließ, unsere Warnung sei nur ein neuer Beweis für das Konterrevolutionäre des „Trotzkismus".
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