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Leo Trotzki 19310205 Brief an Alfonso Leonetti

Leo Trotzki: Brief an Alfonso Leonetti

5. Februar 1931

[eigene Übersetzung nach der englischen Übersetzung in Writings of Leon Trotsky, Vol. 13. Supplement (1929-1933), New York 1979, S. 60-62, Titel: „To Alfonso Leonetti on the French Section“, „An Alfonso Leonetti über die Französische Sektion"]

Werter Genosse,

Sie haben lange Zeit nicht auf meinen letzten Brief geantwortet, was mich, wie ich gestehe, etwas überrascht hat.

Ich beeile mich, auf Ihren Brief vom 28. Januar zu antworten. Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen: „Das [Internationale] Bulletin könnte, gedruckt auf einer Vervielfältigungsmaschine, regelmäßig alle fünfzehn Tage erscheinen, ohne dass man einen festen Mitarbeiterstab braucht. Mit ein wenig gutem Willen und Initiative könnte es in mehreren Ausgaben erscheinen (französisch, deutsch, englisch, italienisch)." Ich für meinen Teil bin erstaunt, dass bis heute z.B. die italienische Ausgabe nicht erschienen ist. Ich finde auch keinen Artikel von Ihnen (vielleicht irre ich mich) im Bulletin Nr. 3. In meinem Brief an Sie habe ich vor allem auf der Notwendigkeit bestanden, dass die Neue Italienische Opposition unserer internationalen Organisation unter die Arme greift. Noch einmal gebe ich zu, dass ich nicht verstehe, wen Sie in dieser Angelegenheit um „ein bisschen guten Willen und Initiative" bitten. Ich wünsche nichts mehr als die engste Zusammenarbeit mit Ihnen persönlich und mit Ihrer ganzen Gruppe in unserer internationalen Organisation. Die Genossen in Prinkipo sind durchaus bereit, bei der Erstellung eines zweimal monatlich erscheinenden Bulletins effektiv mitzuarbeiten (durch das Beitragen von Artikeln, Übersetzungen, Nachrichten usw.). Es wäre auch sehr gut, das Internationale Sekretariat mit Genossen zu erweitern, die in der Lage sind, zumindest moralisch die eine oder andere nationale Sektion zu vertreten und die einen nützlichen Beitrag zur gemeinsamen Arbeit leisten können. Was halten Sie von dem archio-marxistischen Genossen, den ich nicht persönlich kenne? Aber sie könnten einen Genossen provisorisch mit beratender Stimme aufnehmen, um ihm eine Chance zu geben, zu lernen und von den anderen gesehen zu werden. Machen Sie Ihre Vorschläge und beteiligen Sie sich vor allem persönlich an der Arbeit des Sekretariats, dessen Mitglied Sie sind.

Die soziale Zusammensetzung der [französischen] Liga ist nicht zufriedenstellend – da haben Sie ganz recht. In meiner Korrespondenz mit den französischen Genossen habe ich oft auf der Notwendigkeit bestanden, eine Politik und Methoden anzuwenden, die Arbeiter wirklich um die Liga gruppieren könnten. Aber ich glaube, es erfordert auch eine richtige und höchst energische Orientierung auf die jungen Arbeiter. Die Tatsache, dass sie nicht durch die Partei gegangen sind, ist kein Einwand – wir müssen sie erziehen. Das muss Seite an Seite mit unseren auf die Partei gerichteten Bemühungen gehen.

Ich sehe die Rettung der Liga auch nicht in einer „Säuberung". Wir müssen alles tun, um die Möglichkeit der kollektiven Arbeit wiederherzustellen, aber auf einer korrekteren Grundlage als vorher. Trotz meiner schlechten Erfahrungen mit der Naville-Gruppe bin ich keineswegs gezwungen, sie als „unverbesserlich" zu betrachten. Aber es reicht eben nicht aus, zu diesem und jenem Zeitpunkt die Fehler in der Gewerkschaftsfrage „anzuerkennen", damit alles wieder in Ordnung gebracht wird. Das ist nicht der einzige Fehler, obwohl er vielleicht der folgenschwerste ist. Auf der formalen Basis der Linken Opposition war die Politik von Naville nur eine Reihe von Fehlern. Das wesentliche Merkmal dieser Fehler habe ich in sehr milder Form in meinen Briefen an Naville erklärt. Da Naville sich offiziell über die Härte meiner Briefe und ihre Ungerechtigkeit beschwerte, schickte ich einige Kopien davon, die ich hatte, für die Genossen der Liga, die daran interessiert sein könnten. Wenn Sie es wünschen, können Sie Genosse Molinier in meinem Namen bitten, diese Briefe für Sie zu besorgen. Schon die Tatsache, dass ich Zeit für diese reichhaltige Korrespondenz aufgewendet habe, zeigt, dass ich anderthalb Jahre lang versucht habe, Naville und seine Freunde zu überzeugen, ohne dabei auf eine offene Diskussion zurückzugreifen. Ich stieß immer auf ein taubes Ohr und eine Mentalität, die weit von dem entfernt ist, was ich als revolutionär betrachte. Der „Prinkipo-Friedenspakt" war mein letzter Versuch, zumindest in einen Teil der Diskussion wieder etwas Zivilheit herzustellen. Dieser Versuch hatte wegen Naville keinen Erfolg. Jetzt muss die Liga das ganze Netzwerk der begangenen Fehler verstehen und begreifen, welche Art von politischer Mentalität etwas „anerkennen" kann, um sich dann umzudrehen und praktisch das Gegenteil zu tun. Naville „erkennt" die syndikalistischen Fehler „an“ (er hat sie sogar in meinem Zimmer in Prinkipo „anerkannt“ – nur um am nächsten Tag das Gegenteil zu tun), aber er unterstützt in der Liga und in anderen Ländern die Genossen, die sich der richtigen Politik widersetzen, und er kämpft gegen die Genossen, die gegen diese Fehler gekämpft hatten. Die jüngste Erklärung der Naville-Gruppe über „Die Lage in der Liga" ist ein wahrhaft beklagenswertes Dokument: Sie hat keine politische Einschätzung der Spitzfindigkeiten der „halb-parlamentarischen", halb-souvarinistischen „Opposition". Gourget verteidigt seine Ideen, die falsch sind. Und was verteidigt Naville? Er weicht aus, er manövriert, er spielt ein „parlamentarisches" Spiel in einer Organisation, die revolutionär sein soll. Während er formal seinen Fehler anerkennt, beeilt er sich zu zeigen, dass er nichts gelernt hat. Das ist eine große Gefahr – für ihn. Er sollte zumindest lernen, dass seine Einschätzung der anderen Genossen nicht nur herablassend, sondern völlig falsch war.

Was Ihre Kritik an zwei Artikeln in „La Vérité“ betrifft, so glaube ich, dass Sie wirklich eine Schwachstelle getroffen haben. Ich habe den Redakteuren in diesem Punkt bereits geschrieben. Ich glaube, man könnte unsere Politik für diese Übergangszeit vielleicht wie folgt formulieren: (a) Verteidigung des Lebensstandards, der vor der [Wirtschafts-]Krise bestand (zumindest), durch die Politik der Einheitsfront; (b) Nutzung der Politik der Einheitsfront für eine Offensive gegen die Reformisten, deren Lage durch die Krise prekär wird und die die wichtigste Stütze des kapitalistischen Regimes bleiben; (c) systematische, kämpferische und offensive Agitation und Propaganda gegen das kapitalistische Regime, um die offensive Aktion vorzubereiten, wenn die Umstände es erlauben. Das ist ein bisschen zu allgemein und zu abstrakt, aber als Ausgangspunkt wird es genügen.

Gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob Sie einen guten Weg gewählt haben, indem Sie Ihre Einwände gleich zu Beginn in Form eines polemischen Artikels vorbringen. Ich glaube, dass zumindest die verantwortlichsten Genossen erst dann gegeneinander polemisieren sollten, wenn andere Möglichkeiten der Klärung ausgeschöpft sind. Warum erklären Sie der Redaktion nicht persönlich oder brieflich Ihren Standpunkt? Das ist um so vernünftiger, als Sie jetzt im Sekretariat ein Mitglied der Redaktion haben. Ich habe mich zu offener Kritik an bestimmten Genossen erst entschlossen, nachdem ich über einen langen Zeitraum immer wieder versucht habe, mich mit ihnen zu verständigen. Sie sind Mitglied des administrativen Sekretariats, das jetzt de facto an die Stelle des Internationalen Büros (das es kaum noch gibt) tritt. Es ist eine Position von großer Bedeutung, die es Ihnen ermöglicht, viele Angelegenheiten durch rechtzeitige Interventionen zu regeln.

Meine besten Wünsche und meine stärkste Hoffnung, mit Ihnen eine Verständigung über die zu verfolgende Politik zu erreichen.

L. Trotzki

P.S. Was [Carlo] Sforza betrifft, so können Sie ihn getrost seinem Schicksal überlassen; da er nicht von der berühmten Familie abstammt, kann ich auf genealogische Nachforschungen gut verzichten. Haben Sie ein Exemplar des Buches „Die Dritte Internationale nach Lenin" erhalten?

L.T.

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