Leo Trotzki: Antworten auf Fragen eines Vertreters von ASSOCIATED PRESS AMERICA1 [eigene Übersetzung des russischen Textes, verglichen mit der amerikanischen Zeitungsveröffentlichung] Sie stellten mir eine Reihe sehr verwickelter Fragen, die die innere Entwicklung der Sowjetunion berühren. Um diese Fragen ernsthaft und gewissenhaft zu beantworten, wäre es nötig, einige Artikel zu schreiben. Im Rahmen eines Interviews gibt es keine Möglichkeit, eine Analyse jener verwickelten Prozesse zu geben, welche den Inhalt der derzeitigеn Übergangswirtschaft der UdSSR ausmachen, die die Brücke zwischen Kapitalismus und Sozialismus bildet. Sie wissen, dass ich gewöhnlich Interviews gerade deshalb ausweiche, weil sie sogar unter der Bedingung voller Loyalität bei der Übermittlung leicht Anlass für Missverständnisse geben. Es stimmt, dass, wie die frische Erfahrung zeigt, auch die Enthaltsamkeit von Interviews nicht vor den unwahrscheinlichsten Missverständnissen und Entstellungen schützt. Im Verlauf der letzten Woche verbreitete sich ein Telegramm von Reuters aus Warschau in der Weltpresse, das mir Ansichten zuschrieb, die denen geradewegs entgegengesetzt sind, welche ich darlegte und verteidigte. Die Feinde des Sowjetregimes, zumindest die erbittertsten und am wenigsten scharfsichtigen, bauten nach meiner Ausweisung aus der UdSSR auf feindselige Handlungen von meiner Seite in Beziehung auf das ihnen verhasste Regime. Sie täuschten sich, und ihnen bleibt in diesem Gebiet nichts, als zur Hilfe von Fälschungen überzugehen, die auf Leichtgläubigkeit oder bösen Willen berechnet sind. Ich gebrauche die von Ihnen gestellten Fragen, um noch einmal zu erklären, dass meine Beziehung zum Sowjetregime nicht um ein Jota erschüttert wurde seit jenen Tagen, als ich an seiner Erschaffung teilnahm. Der Kampf, den ich zusammen mit meinen Freunden und nächsten Gleichgesinnten innerhalb der kommunistischen Reihen führe, berührt nicht allgemeine Fragen des Sozialismus, sondern Methoden der Durchführung der von der Oktoberrevolution gestellten Aufgaben. Wenn sie in Warschau oder in Bukarest darauf hoffen, dass die inneren Schwierigkeiten in der UdSSR die von mir vertretene Strömung ins Lager der „Defätisten“ der Sowjetunion werfen können, dann verrechnen sie sich grausam, so wie auch ihre mächtigeren Anreger. In der Minute der Gefahr werden die sogenannten „Trotzkisten“ (linke Opposition) höchste Kampfposten einnehmen, wie jene in der Periode des Oktoberumsturzes oder in den Jahren des Bürgerkriegs. Sie fragen, ob der in der kürzlichen Rede Stalins ausgerufene neue Kurs eine Wendung auf den Weg zum Kapitalismus bedeute? Nein, für diese Schlussfolgerung sehe ich keine Grundlage. Wir haben einen Zickzack auf dem Wege vom Kapitalismus zum Sozialismus vor uns. Einzeln genommen ist es ein Zickzack des Rückzugs. Aber der Rückzug behält dennoch taktischen Charakter. Die strategische Linie kann dabei die alte bleiben. Die Notwendigkeit des Umschwenkens und seine Schärfe wurden durch Fehler der Stalinschen Führung in der letzten Periode hervorgerufen. Auf diese Fehler, wie auch auf die Unausbleiblichkeit des Umschwenkens selbst habe ich im Verlauf der zwei letzten Jahre zig Mal in Artikeln des im Ausland (Paris-Berlin) herausgegebenen Bulletin der russischen Opposition hingewiesen. Das Umschwenken war auf diese Weise am allerwenigsten eine Überraschung für die Linke Opposition. Aus Anlass dieses Umschwenkens von einer Ablehnung der sozialistischen Ziele zu reden, bedeutet folglich Unsinn zu reden! Der neue Kurs Stalins kann jedoch nicht nur gewissen leichtsinnigen Feinden Hoffnung machen, sondern auch gewisse nicht sehr tief denkende Freunde der Sowjetunion entmutigen. Die ersten fürchteten, aber die zweiten erhofften, dass im Verlauf einiger Jahre in der UdSSR der Kulak verschwinden würde, die Bauernschaft völlig kollektiviert würde und der Sozialismus den Thron besteigen würde. Der Frage des Fünfjahresplans wurde obendrein der unzulässige Charakter eines Galoppwettrennens verliehen. Die Linke Opposition warnte entschieden vor dieser Politik, insbesondere vor der vorzeitigen und hastigen Verwandlung des Fünfjahresplans in einen Vierjahresplan. Selbstverständlich muss man alles für die Beschleunigung der Industrialisierung machen. Aber falls sich bei Nachprüfung erweisen würde, dass der Plan nicht in 4, sondern in 5, sogar in 6 oder in 7 Jahren durchführbar wäre, dann wäre auch das ein riesiger Erfolg. Die kapitalistische Gesellschaft entwickelt sich unermesslich langsamer, mit einer viel größeren Zahl an Zickzacks, Umschwenkungen und Erschütterungen. Zweifellos bedeutet der durch die vorherigen Fehler der Führung herbeigerufene derzeitige Zickzack nach rechts unausbleiblich eine zeitweilige Stärkung der bürgerlichen Tendenzen und Kräfte. Jedoch bei Beibehaltung des Staatseigentums am Boden und allen grundlegenden Produktionsmitteln bedeutet das auf keinen Fall schon die Wiedergeburt des Kapitalismus. Letzterer ist allgemein undenkbar ohne den gewaltsamen Wiederaufbau des Privateigentums an den Produktionsmitteln, was den Sieg der Konterrevolution verlangen würde. Damit will ich ganz und gar nicht gewisse politische Gefahren leugnen, die mit der neuen Umschwenkung verbunden sind. Der Kampf gegen diese Gefahren muss darin bestehen, die politische Selbsttätigkeit der Massen wiederzubeleben, die vom bürokratischen Regime Stalins unterdrückt wird. Gerade entlang dieser Linie werden jetzt die Hauptbemühungen der linken Opposition gerichtet sein. Bei einer Wiedergeburt der Sowjets, Gewerkschaftsverbände und Partei wird die linke Opposition natürlich auch unausbleiblich ihren Platz in den allgemeinen Reihen einnehmen. Sie fragen nach meinen eigenen Plänen und Perspektiven. Ich arbeite jetzt am zweiten Band der „Geschichte der russischen Revolution“. Wenn meine politischen Ferien weiter gehen, will ich noch ein Buch über das Jahr 1918 schreiben, welches genau einen solchen Platz in der russischen Revolution einnahm wie 1793 in der französischen. Dies war ein Jahr grandioser Schwierigkeiten, Gefahren, Entbehrungen, größter Anspannung der revolutionären Massen, das Jahr des Angriffs der Deutschen, des Anfangs der Intervention der Länder der Entente, innerer Verschwörungen, Aufstände, terroristischer Anschläge, das Jahr der Schaffung der Roten Armee und der Anfang des Bürgerkriegs, dessen Front bald mit einem Ring das Moskauer Zentrum umgab. In diesem Buch will ich – zum Zwecke eines Vergleichs – den Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten Amerikas einer Analyse unterziehen. Ich nehme an, dass amerikanische Leser viele Analogien finden werden, wie sie mich selbst beim Studium des Bürgerkriegs in den Vereinigten Staaten überraschten. Unnötig zu sagen, dass ich mit größtem Interesse den Entwicklungen der Ereignisse in Spanien folge. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten Leroux äußerte sich in dem Sinne, dass er keine Gründe sehe, mir ein Visum zu verweigern. Jedoch die von Zamora geleitete provisorische Regierung hielt es für behutsamer, die Entscheidung der Frage bis zur Einberufung der Cortes und Bildung der neuen Regierung aufzuschieben. Ich werde selbstverständlich nicht unterlassen, mein Gesuch zu erneuern, sobald nur die letztere gebildet wird. L. Trotzki. 14. Juli 19312 1 Einleitung der amerikanischen Zeitungsveröffentlichung The New York Times, 19. Juli 1931. Trotzki bekräftigt Loyalität zum Sowjet Im ersten Interview seit fast zwei Jahren leugnet er, dass er dem Regime jemals feindlich gesinnt war. Analysiert die neue Politik Exilant in seinem Haus in der Türkei – sagt, Stalin zieht sich zurück, aber wendet sich nicht dem Kapitalismus zu. Copyright, 1931, von The Associated Press. Moda, Türkei, 18. Juli (AP) - Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren hat Leo Trotzki die eisernen Tore seines Rückzugsortes geöffnet, um einen Interviewer zu empfangen. Er empfing einen Korrespondenten der Associated Press in seiner kleinen Holzvilla in Moda, einem asiatischen Vorort von Istanbul und einer beliebten Sommerfrische der anglo-amerikanischen Kolonie. Das Haus, das der Exilant hier gemietet hat, nachdem ein Feuer seine Residenz auf der Insel Prinkipo zerstört hatte, ist ein bescheidenes, unbemaltes Acht-Zimmer-Gebäude, das in einem vernachlässigten Garten steht. Hohe Mauern und verschlossene Stacheldrahttore umgeben es auf drei Seiten. Herr Trotzki würde kaum als der Mann wiedererkannt werden, der vor drei Jahren aus dem Halbgefängnis der sowjetischen Botschaft entschlüpfte. Er ist rötlicher und agiler und sein Gesicht spiegelt eher Humor als Bitterkeit wider. Die Schwere und Blässe sind verschwunden. Zeigt immer noch Kraft. Das Sportkostüm, das er trägt, ein weißes, am Hals offenes Hemd, eine weiße Hose und eine blaue Jacke, trägt zur Atmosphäre der Vitalität um ihn herum bei. Sein dünnes, spitzes Gesicht ist sonnenverbrannt vom stundenlangen Angeln auf dem Marmarameer – seine einzige Freizeitbeschäftigung. Sein struppiges Haar und sein spitzer Bart sind fast weiß. Trotz wiederkehrender Malariaanfälle ist er ein Mann von solcher Kraft, dass die Luft um ihn herum prickelt. Herr Trotzki schoss herzliche Grüße auf Französisch heraus, mit einigen englischen "How are you's" und "All right's" dazwischen. Er liest leicht Englisch, zieht es aber vor, es nicht zu sprechen. Zunächst legte er fest, dass seine Erklärungen entweder wortwörtlich oder gar nicht veröffentlicht werden sollten, dann griff er die Fragen an, die auf seine Bitte hin im Voraus geschickt worden waren. 2 Schlussbemerkungen der amerikanischen Zeitungsveröffentlichung: Herr Trotzki beendete das Gespräch mit einem plötzlichen Lächeln und einem nachdrücklichen letzten Nicken. Als er sich erhob, hob er ein Buch auf, das auf dem Tisch lag, und fragte: „Haben Sie das gelesen? Nein? Nehmen Sie es mit. Es ist ein zusätzliches Exemplar." Der Interviewer ging mit einem kürzlich in Amerika erschienenen Buch über Stalin davon. Unten, in den kühlen, ruhig eingerichteten Räumen der alten türkischen Villa, ging ein braungebranntes Mädchen mit großer Brille vorbei. Es war die Tochter von Herrn Trotzki. Sie leidet an einem schweren Halsleiden und wird wahrscheinlich noch in diesem Winter zu einer Operation nach Europa geschickt werden müssen. Damit bleiben Herr Trotzki und seine Frau, die selbst krank ist, allein. Der Sohn Iwan [sic!], der mit ihnen aus Russland kam, ist jetzt in Deutschland und kümmert sich dort um die Veröffentlichungen seines Vaters. Durch den Garten, in dem ein türkischer Geheimdienstmann mit einem Revolver an der Hüfte schlenderte, führte Herrn Trotzkis österreichischer Sekretär den Korrespondenten über steile Stufen hinunter zu einem kleinen Steg und in dasselbe Ruderboot, in dem der Exilant seine langen Fischereistunden zur Erholung vom Schreiben nimmt. Wenn man zurückschaute, als das Boot wegfuhr, war es schwer zu begreifen, dass ein so ruhiges, bröckelndes Haus in einem so friedlichen Garten mit Blick auf ein so ruhiges Meer den Mann beherbergte, der eine so feurige Rolle in der Weltgeschichte gespielt hat. |
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