Leo Trotzki: Was lehrt der Prozess gegen die Schädlinge? [Nach Der neue Mahnruf, Kampfblatt der Werktätigen. 2. Jahrgang, Nr. 38 (Dezember 1930) S. 3 f. Offensichtlich hatte Trotzki damals noch Illusionen in die Vertrauenswürdigkeit der Stalinschen „Justiz“. Er begann bald, diesen Fehler zu korrigieren, insbesondere im Lichte der Anschuldigungen gegen David Rjasanow. Aber unabhängig von ihrer Unrichtigkeit stellten die stalinistischen Anklagen eine schallende Ohrfeige für ihre Politik 1923-28 dar. Zum Hintergrund siehe z.B. Wadim Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, Essen 2006, 25. Kapitel (S. 217-224)] Die Anklageakten in der Frage des Schädlingszentrums („Industriepartei“) sind von außerordentlichem Interesse nicht allein wegen ihrer direkten politischen Bedeutung, sondern auch vom Standpunkte des Kampfes innerhalb der WKP. Die Opposition hatte behauptet und es auch in all ihren Dokumenten wiederholt, dass die minimalistische Einstellung der Jahre 1923-1928 auf dem Gebiete der Industrialisierung und Kollektivierung einerseits durch das Kulakentum, andererseits durch die ausländische Bourgeoisie vermittels der Sowjetbürokratie diktiert worden ist. Die zur Verantwortung gezogenen leitenden Sowjetspezialisten zeigen uns, welch einen zähen und erbitterten Kampf sie in der Vergangenheit für das Minimalprogramm auf dem Gebiete des Fünfjahresplanes führen mussten. So weist Ramsin insbesondere darauf hin, dass „die Verlangsamung des Industrialisierungstempos“, die besonders in dem alten Fünfjahresplan auftritt – er kam zustande unter dem Einflusse des Schädlingszentrums – die wichtigste Maßnahme der Schädlinge in Bezug auf alle Industriezweige war. Die Opposition hatte seinerzeit den alten Fünfjahresplan einer vernichtenden Kritik unterworfen. Es genügt, wenn man hier aus der Plattform die allgemeine Einschätzung des ersten Fünfjahresplan von Stalin-Ramsin anführt: „Die gewaltigen Vorteile der Nationalisierung von Grund und Boden, der Produktionsmittel, der Banken und der zentralisierten Leitung, d.h. die Vorteile der sozialistischen Revolution haben beim alten Fünfjahresplan fast keinerlei Widerspiegelung erhalten (S. 26, Plattform der Russischen Opposition, Deutsche Ausgabe) Das Zentralkomitee hat unsere Kritik des Fünfjahresplanes als parteifeindlich erklärt. Der 13. Parteitag bezeichnete uns als „Kleingläubige“, da wir von der angeblich unabwendbaren Verlangsamung des Tempos in der Rekonstruktionsperiode „erschrocken“ seien. Mit anderen Worten stellte das ZK im Laufe der Jahre 1923-1928, d.h. in der Periode der Entwicklung des Kampfes gegen die Opposition unbewusst das politische Sprachrohr der Spezialisten-Schädlinge dar, welche ihrerseits bezahlte Agenten der ausländischen Imperialisten und der russischen Emigranten-Kompradoren waren. Haben wir aber nicht schon immer behauptet, dass Stalin im Kampfe gegen die linke Opposition eine soziale Bestellung der Weltbourgeoisie ausführt, wenn er die proletarische Avantgarde entwaffnet? Das, was früher eine soziologische Verallgemeinerung war, das wird jetzt durch das unbestreitbare kritische Beweismittel der Anklageakte bekräftigt. Die Energetik bildet das Herz des Fünfjahresplans. Vom Herzschlag hängt das Tempo des Lebens des gesamten Organismus ab. Wer war es aber, der den Rhythmus des Herzens selbst bestimmte? Darauf gibt Ramsin eine genaue Antwort: „Die Verwirklichung der Grundlagen der Industriepartei (Partei der Schädlinge) auf dem Gebiete der Energetik wurde dadurch gesichert, dass die grundlegenden Organe, welche die betreffende Frage zu entscheiden hatten, sich vollständig in den Händen der Industriepartei befanden.“ Das also waren die Leute, die den Stalinschen Kampf gegen die Vertreter der angeblichen „Überindustrialisierung“ im Laufe einer Reihe von Jahren geleitet haben! Ist es nicht klar, dass die Anklageschrift Krylenkos gegen die Industriepartei zu gleicher Zeit auch ein Anklageakt gegen die Stalinsche Spitze ist, die in ihrem Kampfe gegen die Bolschewiki-Leninisten in Wirklichkeit nur eine politische Waffe in der Hand des internationalen Kapitals war? Allein mit dem alten Fünfjahresplan ist die Sache noch nicht erledigt. Dieselben Angeklagten sagen aus, dass von der zweiten Hälfte des Jahres 1928 an – man beachte die genaue Abgrenzung dieser beiden Perioden – ein weiteres Hinarbeiten auf die Verlangsamung des Tempos unmöglich wurde, weil, wie Ramsin sagt, die Generallinie der WKP, energisch durchgeführt werden sollte. Die zweiten Hälfte des Jahres 1928 ist gerade jene Zeit, in der das ZK auf jenen Fünfjahresplan verzichtete, für dessen Kritik die Oppositionellen nach Sibirien verbannt wurden. Allein, haben nur die Spezialisten seit dem Jahre 1928 ihre Schädigungen eingestellt? Nein. Seit jener Zeit haben sich jene besonders verschärft, nahmen aber, im Hinblick auf die erwartete Intervention, nach den Worten desselben Ramsin, einen anderen Charakter an: „Die grundlegenden Maßnahmen auf dem Gebiete der Industrie mussten nach der Seite einer Vertiefung der auch ohnedies schon unausbleiblichen Schwierigkeiten geführt werden.“ Hier spricht Ramsin etwas nicht ganz aus, oder Krylenko zitiert die Aussagen Ramsins nicht bis zu Ende. Dessen ungeachtet ist die Frage völlig klar. Die Methode der Spezialisten, die unter der Leitung Kritschanowskis gearbeitet hatten, bestand in der „Vertiefung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten“, d.h. in einer Verschärfung der Disproportionen in den einzelnen Zweigen der Industrie und der Wirtschaft überhaupt. Da man seit der zweiten Hälfte des Jahres 1928 dieses Ziel nicht mehr durch eine Verlangsamung des Tempos erreichen konnte, so blieb nur der entgegengesetzte Weg, der übermäßigen Beschleunigung der Tempi der einzelnen Industriezweige. Es ist ganz offenbar, dass die eine Methode genauso wirksam ist wie die andere. Wir bekommen auf diese Weise scheinbar eine ganz unerwartete, in Wirklichkeit aber eine völlig natürliche Erklärung dafür, warum der Gosplan (Staatliche Plankommission), dessen Grundkern die Schädlinge bildeten, die ihren „Leiter“ Krischanowski ohne jede Schwierigkeiten an der Nase herumführten, so leicht von den minimalistischen zu den maximalistischen Tempi übergehen konnte und ohne jeden Widerstand die Verwandlung des noch nicht überprüften Fünfjahresplans in einen Vierjahresplan billigen konnten. Die Spezialisten verstanden recht wohl, dass die unaufhaltsame Beschleunigung der einzelnen Industriezweige ohne eine Überprüfung, ohne Voraussicht, ohne verständnisvolle Regulierung einerseits eine Disproportion erzeugen musste und andererseits die Qualität der Produktion vermindern und so die Sprengung des Fünfjahresplans in der nächsten Etappe vorbereiten musste. Aus den Anklageakten geht somit mit völliger Klarheit hervor, dass sowohl in der Periode des wirtschaftlichen Chwostismus (Schwanzpolitik) – bis zum Jahre 1928 – wie auch in der Periode des wirtschaftlichen Abenteurertums – seit der zweiten Hälfte des Jahres 1928 – die Stalinsche Wirtschaftsführung unter dem Diktate des Schädlingszentrums, d.h. also einer Bande von Agenten des internationalen Kapitals handelte. Für ihren Kampf gegen diese „Führung“ wurden die Bolschewiki-Leninisten ins Gefängnis gesperrt, verbannt und sogar erschossen. Das ist die nackte Wahrheit, die keinerlei Verdrehungskünste widerlegen können! Die Anklageakten, welche uns ein Bild der Wirtschaft der Schädlinge im Gosplan und in dem obersten Volkswirtschaftsrat geben, sind in der „Prawda“ vom 11. November veröffentlicht worden. Einen Tag vorher schreibt aber dasselbe Blatt in ihrem Feuilleton unter der völlig neuen Überschrift. „Schonungsloses Feuer gegen den Rechts-Links-Block“ über die „Machenschaften der Opposition“: „Das bedeutet aber einen gewöhnlichen traditionellen Trick: Indem man z.B. den Gosplan und die Kontrollzahlen, den Bürokratismus der Wirtschaftsorgane angreift, führt man die Attacke gegen das ZK, gegen die Parteipolitik, gegen die Parteiführung.“ Dieses Zitat erscheint völlig unglaublich. Die „Prawda“ identifiziert hier selbst eine Kritk des Gosplans – der im Laufe einer Reihe von Jahren ein Spielzeug in den Händen bürgerlicher Schädlinge war – mit der Kritik am ZK und erklärt dadurch eine solche Kritik für eine „Todsünde“. Hat nicht vielleicht hier jemand mit der „Prawda“ einen Trick versucht? Bei der nächsten Krise werden wir aber aus einem zweiten Anklageakt erfahren, dass die Stalinschen Über-Tempi, vor denen wir rechtzeitig gewarnt hatten, von den Kompradoren-Schädlingen bestellt werden. So ist die Logik des Stalinschen Regimes. |
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