Leo Trotzki: Brief an K. Michalec 3. Januar 1930 [Eigene Übersetzung nach dem russischen Text im Архив Л. Д. Троцкого. Том 5] Werter Genosse Michalec! Heute habe ich Ihren Brief und gleichzeitig den Brief von meinen Freunden der sogenannten Prager Fraktion erhalten. In letzterem Brief, wird mir im Namen des Genossen Neurath mitgeteilt, dass er bereit ist, sich direkt an den sozialdemokratischen Minister Meissner mit der Frage zu meiner Einreise in die Tschechoslowakei zu wenden. Genosse Neurath bittet mich durch Vermittlung des Genossen Pollak um „Vollmacht", dies zu tun. Soweit ich verstehe, ist die Rede nicht von einer juristischen Vollmacht, die kaum notwendig ist. Es genügt, dass ich mit diesem Brief durch Ihre Vermittlung den Genossen Neurath bitte, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Visumfrage zu klären. Nur für den Fall, dass die Regierung es nicht für möglich hält, mir auf allgemeiner Grundlage ein Visum zu erteilen, würde ich darum bitten, für die Dauer der Behandlungssaison in den Kurort kommen zu dürfen. Ich könnte zwei oder drei Monate inkognito leben, ohne, natürlich, am politischen Leben des Landes teilzunehmen oder gar in Kontakt mit der Presse zu kommen. Am Ende der Behandlungssaison würde ich, wenn die tschechoslowakische Regierung es verlangte, in die Türkei zurückkehren. Womöglich gibt es noch einen weiteren Einwand wegen meiner „Sicherheit". Verweise auf die Bedenken der Regierung bezüglich meiner Sicherheit werden am häufigsten verwendet, um die Ablehnung eines Visums zu rechtfertigen. Hiermit ermächtige ich den Gen. Neurath, der Regierung gegenüber zu erklären, dass, so weit mein Leben in Gefahr sein könnte, nicht ein vernünftiger Mensch die Verantwortung dafür der Regierung der Tschechoslowakischen Republik aufbürden würde. Wenn es überhaupt eine Regierung gibt, die in dieser Angelegenheit moralische Verantwortung trüge, dann ist es die Regierung, die mich ausgewiesen hat, und nicht die Regierung, die mir vorübergehendes Asyl gewährt. Abschließend halte ich es für notwendig hinzuzufügen, dass die Vorsichtsmaßnahmen, die ich selbst unter Beteiligung meiner Familie und engster Freunde übernehme, ausreichen, um die tschechoslowakische Regierung von der Notwendigkeit zu befreien, irgendwelche Maßnahmen zu meinem Schutz zu ergreifen. Der Behandlungsbedarf in einem Kurort für mich und meine Frau kann jederzeit durch die autoritativsten ärztlichen Atteste bestätigt werden. Das ist alles, was ich Sie bitte, wenn möglich wörtlich, dem Genossen Neurath weiterzuleiten. Ich habe Ihnen über das Visum auf einem separaten Blatt geschrieben. Hier möchte ich auch kurz auf Ihren Brief eingehen, der mir viele wertvolle Informationen gegeben hat, wofür ich Ihnen herzlich danke. Zunächst einmal muss man ein Missverständnis aus der Welt schaffen. Sie scheinen Lenorovic zur Prager Fraktion zuzurechnen, die Sie Studenten nennen. Soweit ich weiß, besteht die Prager Fraktion wirklich aus Studenten, die unter dem Einfluss des Gen. A. Pollak stehen. Was den Gen. Lenorovic betrifft, so ist er ein alter professioneller Arbeiter [Gewerkschaftsarbeiter?], überhaupt kein Student, und ist nicht organisatorisch mit der Prager Fraktion verbunden. Lenorovic hat in seinem Briefwechsel mit mir die Stärke seiner Gruppe nicht übertrieben. All dies ist zum Zwecke der rein faktenmäßiger Informationen. Ich habe in letzter Zeit die „Arbeiterpolitik1" erhalten. Offensichtlich schickt sie mir Gen. Neurath auf Ihren Vorschlag. Sagen Sie ihm dafür meinen aufrichtigen Dank. Ich verfolge die Zeitung sehr sorgfältig. Natürlich werde ich sehr bereitwillig mit dem Gen. Neurath in Briefwechsel treten. Ich muss jedoch von Anfang an sagen, dass ich mich der taktischen Linie, die Sie in Ihrem Brief vertreten, nicht anschließen kann: der allgemeinen Organisation der Rechten beizutreten und sie hinter den Kulissen nach links zu schieben. Und wo ist Ihre eigene Position? Präsentieren Sie sie offen den Massen? Nein. Folglich existiert sie politisch nicht. In den letzten Jahren ging es nur um „Trotzkismus". Indessen bin ich bei jedem Schritt davon überzeugt, dass die junge Generation der Komintern keine Vorstellung davon hat, worin der Fehler des sogenannten „historischen" Trotzkismus bestand. Keineswegs in der permanenten Revolution, sondern in der innerparteilichen Politik. Ich setzte zu jener Zeit zu große Hoffnungen auf die objektive Logik der Dinge, der man nur hinter den Kulissen helfen sollte, indem man die Rechte nach links schob. Ich habe die Notwendigkeit der täglich-prinzipientreuen Einflussnahme auf die Arbeiteravantgarde und die tägliche, unermüdliche Auslese revolutionärer Elemente auf der Grundlage bestimmter Prinzipien und Losungen ungenügend eingeschätzt. Ohne das gibt es keinen Bolschewismus. Was Sie jetzt tun, ist die Fortsetzung der Fehler des „Trotzkismus" in einer neuen Umgebung, in der die Schwere dieses Fehlers sich noch verschärft. Konkreter gesagt, wiederholen Sie den Fehler des „Augustblocks“ (1912). Das Resultat kann im Voraus genau vorhergesagt werden: Sie helfen den Rechten, eine Partei zu zimmern, indem Sie deren linke Flanke schützen, und schließlich werden Sie doch gezwungen sein mit ihnen zu brechen, und mit leeren Händen dastehen. Die Führung der tschechoslowakischen Opposition entwickelte eine programmatische Resolution, die von Anfang bis Ende vom Geist des Opportunismus durchdrungen ist. Die kommunistische Phraseologie spielt in dieser Resolution die Rolle eines dünnen Films, der kaum den opportunistischen Inhalt verdeckt. Ich wollte über die Resolution einen speziellen Artikel schreiben. Sich in diesem Geist äußern können nur Leute, die auf die Reihen der Sozialdemokratie brennen. Eine solche Resolution tolerieren können nur Zentristen, die am meisten Angst davor haben, von der morgigen Sozialdemokratie isoliert zu sein. Wie verfährt mit dieser Resolution die „Arbeiterpolitik“? Sie druckt die opportunistische Resolution ohne ein einziges Wort der Kritik. Erst nachdem die offizielle Führung die Resolution angegriffen hat, hat die Arbeiterpolitik erklärt, dass die Resolution zur Diskussion bestimmt sei und dass es zwar gewisse Mängel in der Resolution gebe, sie aber zweifellos als Ergebnis der Diskussion korrigiert würden. Das sind solche „Ausflüchte", gegen die Lenin immer auf Leben und Tod gekämpft hat. Sie wissen, was Lenin über diese ganze Episode gesagt hätte: „Hier habt ihr ein weiteres Beispiel, wie ein linker Zentrist, der Angst hat, mit den Opportunisten zu brechen, sich zu ihrem Anwalt macht, sie vor den Massen schützt, ihre wahren Absichten maskiert und dann von ihnen statt Dankbarkeit einen Nasenstüber bekommt.“ Im Feuilleton über mein Buch macht Gen. Neurath eine strenge und vollkommen korrekte Unterscheidung zwischen seinem Vorkriegszentrismus und dem Bolschewismus (revolutionärer Marxismus). Aber, leider, ist die „Arbeiterpolitik" als Ganzes verkörperter Zentrismus. Nicht nur das. Es gibt Epochen, in denen sich der Zentrismus nach links entwickelt und versucht, mit dem Bolschewismus einen Block zu bilden. Es gibt Epochen, in denen der Zentrismus nach Verbündeten rechts sucht und sich ihnen anpasst. Die Linie der „Arbeiterpolitik" stellt Zentrismus dieses zweiten Typs dar. Sie mögen mir Folgendes sagen. Es gibt viele gut gestimmte, wenn auch nicht bewusste, revolutionäre Arbeiter in den Reihen der Opposition, die man vor dem Einfluss von Opportunisten retten muss. Dies ist ein häufiges Argument in solchen Fällen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Ihr „Augustblock" viele revolutionäre Arbeiter umfasst. Aber daraus ergibt sich nur, dass Revolutionäre das revolutionäre Banner erheben müssen, statt ihren Kopf vor den Opportunisten zu beugen. Ihr Verbleib in der gleichen Organisation mit Opportunisten könnte für eine gewisse Zeit gerechtfertigt sein, wenn Sie der opportunistischen Resolution der Führung eine kämpferische und unversöhnliche Resolution im Geiste des Leninismus entgegenstellten und die „Arbeiterpolitik" zu einem Werkzeug des unversöhnlichen Kampfes für diese Resolution machen würden. Natürlich würde diese Politik unweigerlich zu einer Spaltung mit den Opportunisten führen. Aber für einen Bolschewiken ist eine solche Spaltung völlig unvermeidlich. Aber Sie würden von ihnen den besten Teil der Arbeiter losreißen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen helfen Sie Opportunisten, in ihrer Organisation revolutionäre Arbeiter zu halten, das Bewusstsein dieser Arbeiter einzuschläfern und ihnen beizubringen, die Führung von Opportunisten zu dulden. Das ist die größte Sünde, die man sich vorstellen kann. Das ist das Hauptsächliche, das ich Ihnen über die prinzipielle Seite der Sache sagen wollte. Sie haben völlig Recht, wenn Sie schreiben, dass „Politik keine Frage persönlicher Reminiszenzen ist". Ich denke, dass unsere Gruppe (1923) ihre Freiheit von jeglichen persönlichen Erinnerungen und Vorurteilen deutlich gezeigt hat, als sie mit Sinowjew auf der Grundlage einer bestimmten prinzipiellen Plattform in einen Block eintrat. Es versteht sich von selbst, dass ich auch heute noch bereit bin, mit jeder Gruppe, mit jedem Genossen Hand in Hand zu arbeiten, unabhängig davon, ob sie gestern gegen den Trotzkismus gekämpft haben oder nicht, wenn ich nur heute eine gemeinsame prinzipielle Position mit ihnen habe. Deshalb frage ich auch: Wo ist Ihre Position? In der Resolution der vereinten Opposition? Nein, denn die Arbeiterpolitik distanziert sich von dieser Resolution zaghaft. Das ist nicht genug. Man muss ihr seine eigene Position entgegenstellen. Sie schreiben über die Unannehmlichkeiten des Handelns durch „Beauftragte“ mit Mandaten und verweisen auf Scholems Brief in Bezug auf den Genossen Landau. All dies, nicht wahr, ist völlig unernst. Und die Analogien mit den Emissären des stalinistischen Apparats sind überhaupt nicht angebracht. Dort haben wir einen Staatsapparat und eine grobe finanzielle Abhängigkeit der Partei von der bürokratischen Spitze. Der Emissär hat ein Mandat, kraft dessen er dem Zentralkomitee jeder Partei den Hahn zudrehen2 kann. Gibt es in der Stellung der linken Opposition irgendetwas Ähnliches? Unser Einfluss kann nur ideologischen Charakter haben. Landau hatte kein Mandat und konnte keines haben. Er ging, um als junger Gleichgesinnter, die Lage im Leninbund herauszufinden, die von Urbahns sorgfältig verborgen wurde, der mit den alten sinowjewistischen Methoden geschult wurde – Intrige und Fälschung. Die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den sowjetisch-chinesischen Konflikt hatten äußerst akuten Charakter angenommen. Es war nicht möglich, die Sache auch nur um eine Stunde zu verschieben: Die Stalinisten bürdeten die Verantwortung für die monströse Position Urbahns' der russischen Opposition auf. Ich selbst konnte nicht nach Berlin gehen. Persönliche Verbindungen zu Gleichgesinnten in Berlin hatte ich nicht. Auf die Loyalität von Urbahns hoffen konnte ich leider nicht. Was hätte ich tun können, außer den Gen. Landau zu bitten, nach Berlin zu gehen und dort meine Broschüre zu veröffentlichen? Wie könnte man es anders machen? Wie handelte die linke Zimmerwalder Opposition während des Krieges? Menschen wie Scholem klammern sich umso mehr an die äußere Form, je weniger in ihrer Seele ein revolutionäres Wesen ist. Was ist die Position von Scholem, Ruth Fischer, Maslow? Niemand weiß das. Die Leute brachten sich in eine solche Lage, dass ihrer eigenen Meinung nach die Interessen des Proletariats verlangen, dass sie schweigen. Das ist schließlich Lähmung. Sie trösten sich, dass, wenn sie auf der einen Seite Geduld zeigen, und auf der anderen Seite in privaten Gesprächen und Briefen über Trotzkismus tratschen, sie die Herzen Stalins und Molotows rühren und zusammen mit Sinowjew an die Macht gerufen werden. Sind das Revolutionäre? Kann man mit solchen Methoden den Respekt und das Vertrauen der fortgeschrittenen Arbeiter gewinnen? Und ohne sittlichches Vertrauen ist die Führung revolutionärer Arbeiter undenkbar. Diese Menschen verrechnen sich auch praktisch. Stalin mag Sinowjews Halbteilnahme an halb führender Halbarbeit zulassen, aber er wird es Sinowjew nie erlauben, eine persönliche Unterstützung gegen ihn, Stalin, in den Sektionen der Komintern zu schaffen. Leute in einer hoffnungslosen und beschämenden Lage wie Scholem nehmen ihre Seele, um intrigante Briefe über Emissäre mit Mandaten zu schreiben. Aber zur Frage des sowjetisch-chinesischen Konflikts, wie auch zu allen anderen Fragen, schweigen sie. Sie fragen nach Perewersew. Wenn ich mich nicht irre, hat er Abbitte geleistet. Es wäre sehr gut, wenn Arbeiterpolitik in einen Austausch mit den Publikationen „La Verité“ und „Militant“ in New York treten würde. Dies sind unsere beiden besten Publikationen. Das Bulletin wird Ihnen sorgfältig zugesandt: Er erscheint einmal im Monat. Sie schreiben, dass Sie möchten, dass ich den Gen. Neurath für die Linie in der Sache erobere. Ich bin bereit, alles dafür zu tun und weder Zeit noch Kraft zu sparen. Der revolutionäre Flügel ist jetzt auf ein mikroskopisches Minimum reduziert, und wir müssen um jeden einzelnen Genossen kämpfen, vor allem für diejenigen mit so ernsthafter Erfahrung. Deshalb bin ich bereit, diesen Briefwechsel vorzuschlagen und zu entwickeln. L. D. Trotzki 1Im Brief ist das deutsche Wort in kyrillischen Buchstaben geschrieben 2Wörtlich: „Feuer und Wasser entziehen“ |
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