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Leo Trotzki 19290225 Wie kam es?

Leo Trotzki: Wie kam es?

[Nach New Yorker Volkszeitung, 2. März 1929, S. 1 und 15

Dort erschienen mit den Überschriften

Stalin der Totengräber der Partei, sagt Trotzki

Schildert ihn als einen mittelmäßigen Politiker.

Aber die Revolution wird triumphieren".“

und der Einführung „Dies ist der dritte Artikel einer Serie von vier Artikeln, in denen Leon Trotzki, aus der UdSSR deportiert, die Situation in der Sowjet-Union und die Gründe seiner Ausweisung nach Konstantinopel schildert. Die Artikel sind aus dem Russischen übersetzt]

KONSTANTINOPEL, 27. Febr. „Wie kam es? Das ist die Frage. Die Antwort kann auf zwei Arten gegeben werden: entweder einer Schilderung des inneren Mechanismus des Ringens zwischen den herrschenden Gruppen, oder aber Enthüllung der tieferen zu Grunde liegenden sozialen Kräfte. Die beiden Methoden ergänzen sich und schließen sich gegenseitig nicht aus. Wenn der Leser natürlich genau wissen will, was sich ereignete, wie sporadische Änderungen in der Leitung zu Wege kamen; wie es Stalin gelang, sich der Regierungsmaschine zu bemächtigen und dieselbe gegen andere zu richten, so ist es notwendig, auf beiderlei Weise zu antworten. Im Vergleich mit der wesentlichen Frage der Neugruppierung von Klassenkräften und dem Fortschreiten von verschiedenen Stadien der Revolution, ist die Sache von Gruppen-Kombinationen verhältnismäßig von nur geringem Interesse. Nichtsdestoweniger, bei Beachtung aller Proportionen, hat auch sie ihren Flatz und muss besprochen werden.

Stalin wird analysiert.

Was ist Stalin? Die kürzeste Antwort lautet, dass er der hervorragendste Durchschnittsmann in unserer Partei ist. Er hat praktischen Verstand, Mäßigung und Hartnäckigkeit beim Verfolg seiner Ziele. Seine Mentalität, vom politischen Gesichtspunkt, ist beschränkt. Sein Handbuch „Prinzipien des Leninismus", worin er den Versuch machte, den Theorien der Partei zu huldigen, ist voll mit Schuljungen-Fehler. Seine Unkenntnis von fremden Sprachen – er kennt keine einzige – zwingt ihn dazu, seine Wissenschaft über das politische Leben des Auslands vom Hörensagen zu nehmen.

Alles in Allem ist er ein praktischer Politiker, ohne jede schöpferische Einbildungskraft und ohne Erfahrungen außerhalb der Partei, denn in weiteren Sphären ist er vollständig unbekannt. Er scheint stets dafür bestimmt, Nebenrollen zu spielen und die Tatsache, dass er jetzt eine führende Rolle spielt, ist weniger eine Anerkennung seiner Person, als eine Kennzeichnung der vorübergehenden, unstabilen Phase, welche das Land jetzt durchmacht. Helvety sagte: Jede Zeit hat ihre großen Männer. Wenn sie nicht geboren sind, werden sie erfunden."

Impulse ohne Perspektive.

Wie alle praktischen Politiker ist Stalin voll mit Widersprüchen. Er handelt auf Impuls ohne Perspektive. Seine Politik geht im Zickzack. Für jede Situation improvisiert er sofort eine passende Theorie, oder ersucht jemanden sonst, eine zu improvisieren. Seine Haltung gegenüber Tatsachen und Menschen wird durch außerordentlichen Mangel an Überlegung charakterisiert.

Ich will dafür nur ein einziges Beispiel zitieren und meine Leser werden entschuldigen, wenn das Beispiel mich persönlich betrifft. Stalin hat die letzten Jahre damit verbracht, was er die „Entkrönung von Trotzki" nennt.

Hierzu war es notwendig eine ganz neue Geschichte der Revolution zu schreiben, eine Geschichte der Roten Armee und eine neue Geschichte der Partei. Stalin gab das Signal für die allgemeine Neueinschätzung der Werte, indem ei am 19. November 1924 erklärte: „Weder in der Oktober-Revolution noch in der Partei spielte Trotzki eine besondere Rolle". Er wiederholte diese Behauptung bei allen sich bietenden Gelegenheiten.

Jemand erinnerte ihn an einen Artikel, welchen er selbst beim ersten Jahrestag der Revolution schrieb. In diesem Artikel heißt es:

Alle Arbeiten für die praktische Organisation der Oktober-Revolution geschahen unter der unmittelbaren Leitung von Leo Trotzki, des Vorsitzenden der Petrograder Sowjet. Positiv kann festgestellt werden, dass die Partei alles Trotzki verdankt für den rapiden Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und für die geschickte Organisierung des revolutionären Komitees".

Nur ein Automat".

Wie kommt Stalin aus diesem peinlichen Widerspruch heraus? Sehr einfach: Indem er Trotzki mit neuen Beleidigungen überhäuft. Hunderte von anderen Beispielen könnten angeführt werden.

Stalins Äußerungen über Sinowjew und Kamenew sind genau so widersprechend. Ganz bestimmt wird Stalin nächstens damit beginnen, in der giftigsten Weise über Rykow, Bucharin, Tomsky dieselben Dinge zu sagen, welche die Opposition in der Vergangenheit sagte und welche Stalin Verleumdungen nannte.

Wie kann er es wagen, derartige Widersprüche von sich zu geben? Die Tatsache ist, dass er erst Reden hält und Artikel schreibt, wenn dem Gegner jede Chance zu antworten genommen ist. Stalins Polemiken sind nur ein verspätete Echo seines Organisations-Mechanismus. Stalinismus ist, alles in allem, ein Automat.

In seinem sogenannten Testament unterstrich Lenin zwei von Stalins Charaktereigenschaften, seine Grobheit und seine Ungerechtigkeit. Aber diese Charakterzüge traten in ihrer ganzen Nacktheit erst nach Lenins Tod zu Tage! Stalins Hauptbeschäftigung war es in den inneren Streit der Partei Manieren einzuführen, die so giftig wie möglich waren und dadurch die Partei vor die Spaltung führten. Er ist ein Koch, der alles in Pfeffer taucht," warnte Lenin bereits im Jahre 1921 die Partei. Das OGPU-Dekret, in welchem die Opposition der Vorbereitung für bewaffneten Kampf beschuldigt wird, ist nicht die einzige, stark verpfefferte Speise, welche Stalin zubereitete.

Im Juli des Jahres 1927, zu einer Zeit, wo die Opposition auf die innere Partei beschränkt war und die Oppositionellen noch Ämter innehatten, fragte Stalin plötzlich „Sollte wirklich die Möglichkeit einer Chance bestehen, dass die Opposition bei der Unterstützung der Sowjets in ihrem bevorstehenden Kampf gegen den Imperialismus versagen wird?"

Trotzkis Antwort.

Es ist unnütz zu sagen, dass nicht die geringste Begründung für eine derartige Insinuation vorhanden war. Aber der Koch war schon dabei, sein „chef d'œuvre" vorzubereiten, den Artikel 58. Von der Überzeugung ausgehend, dass die Haltung der Opposition gegenüber der Sowjet von internationaler Bedeutung ist, halte ich es im Interesse der Sowjet-Regierung für unumgänglich notwendig, Auszüge aus meinen Reden zu zitieren, worin ich Stalins Frage beantwortete.

Wir wollen," sagte ich, „die Unverfrorenheit der Frage ignorieren, auch nicht an Lenins Bemerkungen über Stalins Charakter erinnern. Wir wollen die Frage nehmen und beantworten, wie sie gestellt wurde. Niemand, außer den Weißgardisten, könnte den Sowjets in ihrem Sieg über den Imperialismus entgegentreten. Aber was Stalin wirklich meint, ist das Folgende: Glaubt die Opposition, dass Stalins Führerschaft der Aufgabe, den Sieg herbeizuführen, nicht gewachsen ist? Wir antworten „jawohl", wir glauben, dass Stalins Führerschaft den Sieg schwieriger macht. Ein jedes Mitglied der Opposition wird den Platz an der Front, oder hinter der Front einnehmen, welchen die Partei ihm zuweist. Aber keiner wird auf sein Recht verzichten, für die Besserung in der Parteipolitik zu arbeiten. Wenn man uns also fragt, ob wir für einen sozialistischen Staat sind, antworten wir „Ja", und wenn man uns fragt, ob wir für Stalins Politik sind, „Nein".

Die Verhältnisse sind heute etwas verändert, aber dies sind auch heute noch unsere Prinzipien.

Eine „gepfefferte" Speise.

In Verbindung mit der Frage von angeblichen Vorbereitungen für einen bewaffneten Widerstand gegen die Sowjets und der angeblichen Gleichgültigkeit bei der Verteidigung des Regimes, muss ich eine andere, stark verpfefferte Speise Stalins erwähnen – terroristische Handlungen. Wie ich bei meiner Ankunft in Konstantinopel bemerkte, sind in der Presse in der ganzen Welt gewisse Gerüchte aufgetaucht, welche terroristische Maßnahmen betreffen, die angeblich von gewissen Mitgliedern der Trotzki-Opposition beabsichtigt sind.

Totengräber der Revolution".

In Briefen aus Almaata warnte ich meine Freunde, dass Stalin, nach der von ihm eingeschlagener Richtung zu urteilen, es bald notwendig erachten werde, die Behauptung aufzustellen, dass die Trotzkisten mit dem Terrorismus liebäugeln. Es wäre fast unmöglich, irgend jemand vorzumachen, dass die Opposition den Versuch machen wolle, eine bewaffnete Erhebung herbeizuführen, dass es aber viel leichter sei, der kleinen Gruppe von Trotzkisten terroristische Absichten zuzuschieben. Dies ist offenbar die Richtung, welche Stalins Bemühungen heute nehmen. Die Veröffentlichung dieser Tatsache wird nicht notwendigerweise Stalins Aufgabe, das Volk zum Schlucken dieses Märchens zu bringen, unmöglich machen, mag es aber vielleicht etwas erschweren, und dies ist der Grund, warum ich es tue.

Stalins Taktik zwang mich, ihm im Jahre 1926 während einer Sitzung des Politbüro zu sagen, dass er sich mehr und mehr zu einem hervorragenden Kandidaten für das Amt des Totengräbers entwickelt – Totengräber der Partei und der Revolution. Heute wiederhole ich diese Warnung mit verdoppelter Kraft.

Aber wir von der Opposition glauben, dass die Partei schließlich über Stalin triumphieren wird, und nicht Stalin über die Partei."

[Der vierte und letzte Artikel dieser Serie erscheint morgen.]

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