Leo Trotzki: Stalins langjährige Intrigen [Nach Sonntagsblatt der New Yorker Volkszeitung, 2. März 1929, S. 1 und 23 Dort erschienen mit den Überschriften „Trotzki schildert Stalins langjährige Intrigen. Geheime Kabale begann schon zu Lenins Lebenszeit. Ein Sieg über marxistische Traditionen.“ und der Einführung „Dies ist der vierte und letzte Artikel einer Serie von vier Artikeln, in denen Leon Trotzki, aus der UdSSR deportiert, die Situation in der Sowjet-Union und die Grunde seiner Ausweisung nach Konstantinopel schildert. Die Artikel sind aus dem Russischen übersetzt.] KONSTANTINOPEL, 28. Febr. Stalin wurde noch zu Lebenszeiten von Lenin im Jahre 1921 zum Generalsekretär der Partei erwählt. Dieser Posten war damals fast rein technisch. Nichtsdestoweniger war Lenin schon damals gegen Stalins Kandidatur. Grade dies meinte er mit seiner Bemerkung über einen Koch, der verpfefferte Speisen aufträgt. Aber Lenin gab, wenn auch mit Widerstreben, anderen Mitgliedern des Politbüro in diesem Punkt nach. „Wir wollen es vorläufig einmal mit ihm probieren." Durch Lenins Erkrankung änderten sich die Verhältnisse vollkommen. Bis dahin stand Lenin an der Spitze des Politbüro und hatte die allgemeine Parteileitung. Stalin, als Generalsekretär, war nur mit dem exekutiven Teil der Arbeit des Zentralkomitees betraut. Jedes andere Mitglied hatte Spezialfunktionen, so dass Lenins Erkrankung die Zentralleitung in Stalins Hände legte. Aber nur, wie man hoffte, temporär. Niemand dachte an dauernde Änderungen, weil alle auf die baldige Genesung Lenins hofften. Stalin war geschäftig. Inzwischen war Stalin in fieberhafter Tätigkeit, um seine Freunde in alle wichtigen Parteiposten einzusetzen. Bis Lenin sich von seinem Anfall erholt hatte, war die Bürokratie stark verschanzt und Stalin hatte großen Einfluss auf die Mitglieder gewonnen. Lenin bestand darauf, dass ich sein Nachfolger im Rat der Volkskommissare würde, und besprach mit mir Maßnahmen, um Stalins Bürokratie zu bekämpfen. Es war unsere Absicht, dieses Ziel ohne allzu viel Reibereien zu erreichen. Aber Lenin erkrankte wieder. In seinem sogenannten Testament, vom 4. Januar 1923 bestand Lenin wieder darauf, dass Stalin wegen seines Mangels an Offenheit und seiner Tendenz, seine Macht zu missbrauchen, von der Leitung der Parteigeschäfte entfernt werde. Aber wiederum wurde Lenin ans Bett gefesselt, und wiederum über nahm Stalin temporär das Kommando. Die Hoffnung auf eine Wiedergenesung Lenins entfloh schnell. Die Aussicht, dass er verschwinden werde, brachte die Frage seiner Nachfolge auf. Fundamentale Meinungsdifferenzen hatten damals noch keine Gestaltung angenommen. Aber das Stichwort von Sinowjew, Stalin und der Übrigen war: „Haltet Trotzki aus dem Kommando". Als später Sinowjew und Kamenew mit Stalin brachen, wurden die Geheimnisse jener Periode von den an der Verschwörung beteiligten selbst enthüllt. Denn es war tatsächlich eine Verschwörung. Ein geheimes Politbüro wurde gebildet (mit Semiorka und sieben Mitgliedern), welches sämtliche Mitglieder des offiziellen Politbüros einschloss, außer mir selbst und außerdem Kujbyschew, den jetzigen Präsidenten des hohen Nationalen Wirtschaftsrates. Geheimbüro herrschte. Alle Fragen wurden vorher von diesem Geheimbüro entschieden, dessen Mitglieder vereinbart hatten, bei ihren Beschlüssen zu beharren. Sie waren überein gekommen, sich nicht untereinander anzugreifen, und gleichzeitig jeden Vorwand zu ergreifen, um mich anzugreifen. Lokale Parteiorganisationen hatten ähnliche Geheimbüros, welche in engen Beziehungen zu Semiorka standen und durch eiserne Disziplin gebunden waren. Sie hatten eine Geheimschrift für Korrespondenzen. Es war dies ein ungesetzlicher Organismus innerhalb der Partei, dessen Spitze gegen einen einzelnen Mann gerichtet war. Der einzige Probierstein für Personen, welche zu verantwortlichen Stellungen in der Partei und der Regierung ernannt wurden, war: „Ist er gegen Trotzki?" Während des langen Interregnums durch Lenins Krankheit wurde diese Kampagne unablässig, aber vorsichtig und geheim geführt, so dass im Falle der Genesung Lenins die unterminierten Brücken noch unversehrt scheinen könnten. Käufliche Subjekte wurden von den Verschwörern benutzt. Die Kandidaten für die verschiedenen Posten mussten „raten", was man von ihnen wünschte. Wenn sie richtig „rieten", waren sie der Beförderung sicher. Es war dies die Spezialsorte von Favoritismus, welche später den Namen „Anti-Trotzkismus" erhielt. Ruchlose Angriffe. Lenins Tod gab der Verschwörung freie Bahn und gestattete ihr, offen herauszukommen. Mitglieder der Partei, welche gegen diese demoralisierende Intrige protestierten, waren unter irgendeinem oft imaginären Vorwand schändlichen und giftigen Angriffen ausgesetzt. Die moralischen Schwächlinge der Partei andererseits, welche in den ersten 5 Jahren der Sowjetherrschaft stets in Gefahr standen, ausgestoßen zu werden, fanden für ihr Verbleiben eine Art von Versicherung, indem sie sich auf jede Gelegenheit stürzten, um mit Trotzki zu differieren. Die gleiche Taktik wurde von Ende 1923 an in allen Parteien befolgt, welche die Komintern zusammensetzten. Führer wurden abgesetzt und andere kamen an ihre Stellen, sämtlich je nach ihrer Haltung gegenüber Trotzki. Auswahlen wurden nicht nach Fähigkeit, sondern nach Anpassungsfähigkeit getroffen. Die allgemeine Politik der Partei ging dahin, Männer von unabhängiger Gesinnung und Fähigkeit mit Mittelmäßigkeiten zu ersetzen, welche den Führern gefügig waren. Stalin wurde die Verkörperung und der höchste Ausdruck dieser Mittelmäßigkeit. Gegen Ende des Jahres 1923, als drei Viertel der Parteibeamten in dieser Art ausgewählt waren, wurde der Kampf in die Reihen der Partei getragen. Alle Ausgänge wurden bewacht und nichts fehlte außer dem Signal für den Angriff. Der Angriff beginnt. Das Signal wurde bald gegeben. Die zwei ersten Diskussionen, welche im Herbst 1923 und im Herbst 1924 gegen mich eröffnet wurden, fielen zeitlich mit meiner Erkrankung zusammen, welche mich an der Beteiligung der Versammlungen verhinderte. Gleichzeitig und unter dem Druck des Zentralkomitees wurden Reih und Glieder der Partei überall für den Angriff vorbereitet. Aus den Archiven wurden meine alten Meinungsdifferenzen mit Lenin herbeigeschleppt, welche nicht nur der Revolution und dem Krieg vordatierten, sondern seitdem längst durch unsere gemeinsamen Kämpfe liquidiert waren. Sie wurden jetzt entstellt und vergrößert und den Unwissenden in Ankündigungen an die Partei als Angelegenheiten dringlichster, unmittelbarer Wichtigkeit vorgesetzt. Die Massen waren verblüfft, verwirrt und eingeschüchtert. Die Methode für die Auswahl von Personen stieg noch um einen Grad tiefer, herab Es wurde jetzt unmöglich, eine Ernennung als Fabrikführer, Sekretär eines Werkstattkomitees, Präsident einer Landkommune, Buchführer oder Maschinenschreiber zu werden, ohne seine Antipathie gegen Trotzki merken zu lassen. Sein eigenes Verhalten. Ich vermied es, so lange wie möglich, mich an dem Kampf zu beteiligen, speziell weil es sich zuerst lediglich um eine grundsatzlose Verschwörung gegen meine Person handelte. Es war mir klar, dass der Kampf, einmal begonnen, unvermeidlich eine äußerst erbitterte Form annehmen und unter den gegebenen Verhältnissen für die proletarische Diktatur gefährliche Folgen haben musste. Ich kann hier nicht die Frage erörtern, ob ich recht tat in dem Versuch, auf Kosten großer persönlicher Opfer, die Einigkeit zu erhalten, oder ob ich von vornherein überall die Offensive hätte ergreifen müssen, auch trotzdem keine großen Prinzipien auf dem Spiele standen. Die Tatsache ist, dass ich den ersten Weg wählte und nach allem, was sich seither ereignet hat, kann ich es nicht bedauern. Es gibt Siege, welche zu einer Sackgasse führen und Niederlagen, welche neue Wege öffnen. Erst nachdem sich tiefe Meinungsdifferenzen eingestellt hatten, welche das Intrigenspiel an sich weit hinter sich ließen, machte ich den Versuch, den Streit innerhalb der Grenzen von prinzipiellen Diskussionen zu halten, damit der Wert von widersprechenden Ansichten und Voraussagungen an der Erfahrung geprüft werden könnte. Sinowjew, Kamenew und Stalin andererseits – wobei der Erste1 sich anfangs vorsichtig hinter den zwei andern versteckte – betrieben den Kampf mit aller Kraft. Sie wollten der Partei keine Zelt zum Nachdenken geben und durch Erfahrung zu entdecken, wer im Recht war. Als Sinowjew und Kamenew sich von Stalin trennten, wandte sich letzterer mit derselben wilden Energie gegen sie, welche die drei zusammen in den vorhergehenden drei Jahren gegen den Trotzkismus aufgeboten hatten. Wird Stalins Sieg dauern? Das Vorstehende ist keine geschichtliche Erklärung von Stalins Sieg, sondern lediglich eine gedrängte Darlegung der Weise, in welcher er gewann. Ich beklage mich nicht über die Intrigen gegen mich, denn jede Politik, welche den Intrigen der Gegner ihre eigene Niederlage beimisst, ist eine blinde Politik. In gewisser Art ist Intrige die Technik des Geschäfts – ihre Rolle ist notwendiger Weise nebensächlich. Große geschichtliche Fragen werden durch große soziale Kräfte entschieden. Stalins Triumph, mit all seiner Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit erweist die großen Änderungen, welche in den Beziehungen zwischen den Klassen der revolutionären Gesellschaft eingetreten sind. Er spiegelt die internationale Lage der letzten paar Jahre wieder, aber die Gesamtheit dieser Fragen ist ein Thema, welches eine längere Behandlung erheischt. Für den Augenblick will ich mir sagen: Trotz aller Irrtümer, welche die Weltpresse machte und aller ihrer Verwirrung bei der Interpretierung der verschiedenen Stadien des inneren Ringens der Sowjets, trotz ihrer Feindschaft gegen den Bolschewismus, hat sie nichtsdestoweniger den wesentlichen, sozialen Kern herausgeschält: Stalins Sieg ist ein Sieg der mehr gemäßigten, konservativen, bürokratischen und nationalistischen Tendenzen und der Parteigänger des Privatbesitzes über die Prinzipien der Weltrevolution und die Traditionen des Marxismus. Logischer Weise habe ich keinen Grund zu protestieren, wenn die Bourgeois-Presse Stalins Realismus so lobend hervorhebt. Eine ganz andere Frage ist es, wie lange sein Sieg dauern wird und welche Richtung die künftigen Ereignisse einschlagen werden. 1Müßte wohl heißen „Letzte“ - zu dieser Zeit lavierte Stalin noch. |
Leo Trotzki > 1929 >