Leo Trotzki: Zum 5. Jahrestag der Roten Armee [Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 33 (21. Februar 1923), S. 241 f.] Die ersten 5 Jahre verlassen wir mit einem großen Erfahrungsreichtum. Welches sind die wichtigsten Folgerungen aus diesen Erfahrungen? Worin lag unsere Kraft und hauptsächlich worin unsere Schwäche? Ohne die Erkenntnis der eigenen Schwäche gibt es nämlich keine Vorwärtsbewegung. Wir siegten dank der unbeschränkten Selbstverleugnung des revolutionären Vortrupps und der Unerschöpflichkeit unserer Bauernreserven. Diese beiden Vorzüge unserer Armee bleiben auch weiterhin bestehen. Die Bauernreserven werden vom Arbeitervortrupp in immer größerem Maße herangezogen, und das politische Niveau dieses Vortrupps wird sich – wir hoffen – fortwährend erhöhen. Aber diese beiden Voraussetzungen unserer Siege haben ohne allen Zweifel keinen militärischen Charakter. Sie wurzeln in der sozialen Natur der Sowjetmacht, in den Klasseneigenschaften des Proletariats. Die Rote Armee der verflossenen fünf Jahre stellt den ersten groben Versuch dar, diese unsere größten Vorzüge zu militärischen Zwecken auszunützen. Das Resultat steht vor uns: Wir haben uns behauptet. Aber um welchen Preis? Um den Preis der größten Opfer. Die Kriegskunst aber, wie jede andere Kunst, besteht darin, Resultate mit möglichst kleinster Anstrengung, oder, wie Suwarow sagte, mit wenig Blut zu erreichen. Ohne Begeisterung und Selbstverleugnung gibt es keinen Krieg und keinen Sieg; aber von einer Armee können wir erst dort sprechen, wo diese Eigenschaften richtig organisiert und geschickt verwendet werden. Alle unsere Mängel auf dem Gebiete der Organisation, der Ausbildung, der Verpflegung, füllten wir mit der Masse der Reserven oder mit der hingebenden Heldenhaftigkeit unserer Kämpfer aus. Sowohl die Massen wie auch die Heldenhaftigkeit brauchen wir auch in der Zukunft. Aber diese müssen durch gute Ausbildung und Technik ergänzt werden. Das sind die beiden Hauptrichtungen, in denen sich unsere Anstrengungen in den nächsten fünf Jahren bewegen müssen: die persönliche und kollektive Ausbildung und die Kriegstechnik. Wir bauten die Armee bis auf 600.000 Mann ab: angesichts der Ausdehnung des Landes, der Zahl der Bevölkerung, der Länge unserer Grenzen und der Zahl unserer möglichen Feinde ist das dem Wesen nach nur ein Kader und nicht eine Armee. Aber daraus entspringt auch die Aufgabe, diese Armee – im Sinne der Ausbildung und der Erziehung – in den Zustand eines Kaders zu bringen. Dieses Kader muss über vortreffliche Abteilungskommandeure verfügen, sodann bilden die in allen Beziehungen vorbereiteten Unterabteilungskommandeure das Glied in der Kette der allmählichen Erziehung der ganzen Masse unserer Kämpfer bis zum Ausbildungsniveau eines früheren Unteroffiziers, selbstverständlich unter Anpassung an die neuen Verhältnisse und an den neuen Aufbau der bewaffneten Kräfte. Das ist gar kein utopischer Gedanke. Die Jugend – nicht nur die Arbeiter-, sondern auch die Bauernjugend tritt in die Armee mit einer gesteigerten Aufnahmefähigkeit ein. Und alte Kriegsleute sehen mit Verwunderung, wie schnell der heutige rotgardistische Rekrut im Verhältnis zu dem Rekruten der zaristischen Armee lernt. Die Erweckung der Lust zum Lernen, die gesteigerte psychische Beweglichkeit der Volksmassen ist bisher die größte Errungenschaft der Revolution. Auf diese Errungenschaft werden wir auch weiterhin auf allen Gebieten bauen. Ein richtiges System der vormilitärischen Vorbereitung in Verbindung mit einem vernünftigen Ausbildungs- und Erziehungssystem innerhalb der Armee selbst muss schon in den nächsten Jahren zu einer gewaltigen Erhöhung der Qualifikation der ganzen Armee führen und sie zugleich befähigen, im Moment der Notwendigkeit Millionen von Mobilisierten in sich aufzunehmen. Die zweite Aufgabe ist die Technik. Welche Aussichten, haben wir auf diesem Gebiete? Der Zarismus rüstete seine Armee aus, indem er die Hilfe der ausländischen Technik in bedeutendem Maße in Anspruch nahm. Das lag auch in der Natur der Dinge, da der Zarismus selbst Mitglied einer der Gruppierungen des sogenannten europäischen Gleichgewichts war. Uns betrachtet aber die Bourgeoisie – und nicht grundlos – als einen Keil, der jedes Gleichgewicht der kapitalistischen Welt zerstört und untergräbt. Folglich können wir auf eine direkte Mitwirkung des kapitalistischen Europas oder Amerikas in der Sache unserer Kriegstechnik keineswegs rechnen. Um so größere Wichtigkeit haben unsere eigenen Anstrengungen in dieser Richtung. Die Kriegstechnik hängt von der allgemein-wirtschaftlichen Technik ab. Das bedeutet, dass wunderbare Sprünge auf dem Gebiete der Bewaffnung und' überhaupt der Ausrüstung der Armee ausgeschlossen sind. Möglich ist nur eine systematische Kräfteanwendung und eine allmähliche Besserung. Das schließt aber keineswegs aus, dass wir in kurzer Zeit große Erfolge haben können, wenigstens in einzelnen, in den wichtigsten Gebieten. Die ganze Wirtschaft in der Sowjetrepublik ist nach einer Periode des schroffen Rückganges zu neuem Leben erwacht und schreitet vorwärts. Dieser Besserungsprozess wird in der ersten Zeit ein langsamer Prozess sein mit unvermeidlichen Unterbrechungen und Schwankungen. Unsere Aufgabe besteht dann, die Kriegsindustrie in besonders günstige Verhältnisse zu setzen, selbstverständlich ohne Schädigung der Gesamtwirtschaft – und in der Kriegsindustrie selbst jene Zweige in den Vordergrund zu stellen, die heute für uns von ausschließlicher Bedeutung sind. Ein solcher Zweig ist zweifelsohne die Aviatik. Diese Waffengattung und diesen Industriezweig müssen wir wenigstens im nächsten Jahre in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des ganzen Landes stellen. Das ist um so mehr möglich, weil auf dem Gebiete der Aviatik die rein militärischen Bedürfnisse in engem und unmittelbarem Zusammenhange stehen mit den wirtschaftlich-kulturellen Interessen des Landes. Die Aviatik ist das höchste und modernste Mittel zur Überwindung der Entfernungen. Sie hat eine unübersehbare Zukunft. Und es ist notwendig, dass unsere Jugend in möglichst breitem Maße von der Idee der Entwicklung und des Aufblühens des Lufttransportes ergriffen wird. Darum müssen sich unsere Techniker. Pädagogen, Poeten und Künstler kümmern. Wir sprechen über die Aufgaben der Armee während der nächsten 5 Jahre. Es wird uns kaum jemand vorwerfen, dass wir jetzt versuchen, allzu weit in die Zukunft zu blicken. Es ist ja vollkommen klar: die Rote Armee werden wir auch nach einem Jahre, auch nach zwei Jahren, auch nach fünf Jahren brauchen. Die revolutionäre Entwicklung Europas kann natürlich nach der heutigen Periode einer verhältnismäßigen Windstille plötzlich ein viel schnelleres Tempo annehmen. Dennoch ist es unbestreitbar, dass die Epoche der imperialistischen Kriege und der revolutionären Erschütterungen nicht Monate, nicht Jahre, sondern Jahrzehnte lang dauern wird, und die Welt wird nach kurzen Atempausen durch immer neue, immer schwerere und krankhaftere Krämpfe ergriffen. Wenn dem aber so ist, so müssen wir uns ernst und auf lange Zelt vorbereiten und lernen, wie wir unsere Hufeisen um so fester annageln können. Das Programm unserer Arbeit für die nächsten Jahre entspringt aus dem gestrigen Tage und aus den heutigen Verhältnissen: die Begeisterung mit der Kunst und die Zahl mit der Technik zu ergänzen. Dann werden wir mit wenigen Opfern siegen können. |
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