Leo Trotzki: Von der alten Familie – zur neuen [Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S1. 53-67 s. auch den russischen Text] Die inneren Beziehungen und Ereignisse der Familie lassen sich ihrer Natur nach am schwierigsten einer objektiven Untersuchung oder statistischen Registrierung unterziehen. Darum ist es nicht leicht zu sagen, inwiefern heute die Familienzusammenhänge – im Leben, und nicht auf dem Papier – leichter und häufiger zerrissen werden, als früher. Hier muss man sich in bedeutendem Maße mit Urteilen des Augenscheins zufrieden geben. Hierbei besteht der Unterschied zwischen dem vorrevolutionären Leben und dem heutigen darin, dass die Konflikte und Dramen in der Arbeiterfamilie sogar für die Arbeitermasse selbst vollständig unbemerkt verliefen, während heute, da eine breite Schicht der fortschrittlichsten Arbeiter, die verantwortliche Posten bekleiden, vor aller Augen leben, jede Familienkatastrophe zum Gegenstand der Besprechung und zuweilen einfach des Klatsches wird. Unter diesem ernsthaften Vorbehalt muss man jedoch zugeben, dass die Familie überhaupt, und damit auch die proletarische, sich gelockert hat. Diese Tatsache wurde bei der Besprechung der Moskauer Agitatoren als ganz feststehend betrachtet und von niemandem bestritten. Sie wurde während der Besprechung in verschiedener Weise bewertet: von den einen mehr beunruhigt, von den anderen – zurückhaltend, von dritten unschlüssig. Auf jeden Fall war es für alle klar, dass wir hier irgendeinen großen, sehr chaotischen, bald reinliche, bald abstoßende, bald komische, bald tragische Formen annehmenden Prozess vor uns haben, der noch fast gar nicht die in ihm verborgenen Möglichkeiten einer neuen, höheren Familienordnung offenbaren konnte. Hinweise über den Verfall der Familie drangen auch in die Presse, wenn auch äußerst selten und in außerordentlich allgemeiner Form. In einem Artikel las ich sogar eine Erklärung, die darauf hinauslief, dass man in dem Zerfall der Arbeiterfamilie ganz einfach das Zutagetreten des „bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat" erblicken müsse. Eine solche Erklärung ist falsch. Die Sache ist tiefer und komplizierter. Natürlich besteht ein Einfluss der bürgerlichen Vergangenheit und der bürgerlichen Gegenwart. Aber der Hauptprozess besteht in der krankhaften und krisenhaften Evolution der proletarischen Familie selbst, und wir sind gegenwärtig Zeugen der ersten sehr chaotischen Etappen dieses Prozesses. Der tief zerrüttende Einfluss des Krieges auf die Familie ist bekannt. Der Krieg wirkt in dieser Richtung schon rein mechanisch, indem er die Menschen für lange Zeit trennt oder sie, zufällig zusammenführt. Diesen Einfluss des Krieges hat die Revolution fortgesetzt und verstärkt. Die Kriegsjahre haben überhaupt alles zerrüttet, was nur noch in dem historischen Beharrungsvermögen seine Stütze hatte: die Zarenherrschaft, die ständischen Privilegien, die alte herkömmliche Familie. Die Revolution baute vor allem den neuen Staat auf, d. h. sie löste ihre unaufschiebbarste und einfachste Aufgabe. Viel schwieriger erwies es sich mit der Ökonomie. Der Krieg hatte die alte Wirtschaft zerrüttet, die Revolution stürzte sie endgültig um. Jetzt bauen wir etwas Neues – vorläufig hauptsächlich aus Altem, das wir aber auf neue Art organisieren. Auf dem Gebiete der Wirtschaft haben wir die Zerstörungsperiode erst seit kurzem hinter uns und haben unseren Aufstieg begonnen. Die Erfolge sind sehr gering, und es ist noch außerordentlich weit bis zu neuen sozialistischen Formen. Aber wir haben die Ära der Zerstörung und des Zerfalls überstanden. Der Tiefpunkt fiel in die Jahre 1920–1921. Auf dem Gebiete des Familienlebens ist die erste Zerrüttungsperiode noch bei weitem nicht beendet, die Zerrüttung und der Zerfall sind noch in vollem Gange. Hierüber muss man sich vor allem Rechenschaft geben. In der Sphäre der familiären Lebensbeziehungen machen wir sozusagen erst jetzt die Jahre 1920–1921 und noch nicht das Jahr 1923 durch. Das Alltagsleben ist viel konservativer als die Wirtschaft, unter anderem auch deshalb, weil es noch weniger bewusst erkannt wird als die letztere. Auf dem Gebiete der Politik und Ökonomie handelt die Arbeiterklasse als Ganzes, rückt darum ihre Avantgarde – die kommunistische Partei – an die erste Stelle und verwirklicht in erster Linie durch sie ihre historischen Aufgaben. Auf dem Gebiete des Alltagslebens ist die Arbeiterklasse in die Familienzellen zersplittert. Der Wechsel der Staatsmacht, sogar der Wechsel der ökonomischen Ordnung – der Übergang der Fabriken und Werke in den Besitz der Werktätigen –, das alles übt natürlich seinen Einfluss auf die Familie aus, doch wirkt dieser Einfluss nur von außen her, nur indirekt, ohne unmittelbar die aus der Vergangenheit ererbten Lebensformen der Familie zu berühren. Die radikale Umgestaltung der Familie und überhaupt des Gefüges des Alltagslebens würde in hohem Grade bewusste Bemühungen der Arbeiterklasse in ihrem ganzen Umfang erfordern und setzt in dieser selbst eine wuchtige Kleinarbeit des inneren kulturellen Aufstiegs voraus. Hier müssen tiefe Schichten aufgepflügt werden. Die politische Gleichheit zwischen Mann und Frau im Sowjetstaat herzustellen – das war eine Aufgabe, die einfachste. Die Gleichheit des Arbeiters und der Arbeiterin innerhalb der Produktion in der Fabrik, im Werk, in der Gewerkschaft herzustellen, so dass der Mann die Frau nicht verdränge – diese Aufgabe ist bereits eine viel schwierigere. Aber die wirkliche Gleichheit zwischen Mann und Frau innerhalb der Familie herzustellen – das ist eine unermesslich schwierigere Aufgabe, die die größten Anstrengungen in der Richtung der Revolutionierung unseres ganzen Lebens erfordert. Indessen ist es ganz klar, dass man ohne die Erreichung einer wirklichen, auf Sitte und Brauch bezüglichen und moralischen Gleichheit des Mannes und der Frau in der Familie gar nicht ernsthaft von ihrer Gleichheit in der gesellschaftlichen Produktion oder auch nur von ihrer Gleichheit in der Staatspolitik sprechen könnte; denn wenn die Frau an die Familie, ans Kochen, Waschen und Nähen geschmiedet ist, so wird schon allein dadurch die Möglichkeit ihrer Einwirkung auf das öffentliche und staatliche Leben bis aufs äußerste beschränkt. Die einfachste Aufgabe war die Besitzergreifung der Macht. Aber auch diese Aufgabe verschlang in der entsprechenden Revolutionsperiode unsere ganzen Kräfte. Sie forderte unzählige Opfer. Der Bürgerkrieg hatte Maßnahmen von äußerster Strenge im Gefolge. Die kleinbürgerlichen Narren stimmten ein Gezeter an über die Verwilderung der Sitten, über die blutige Demoralisierung des Proletariats usw. In Wirklichkeit aber führte das Proletariat durch die ihm aufgezwungenen Maßnahmen der revolutionären Gewalt den Kampf um die neue Kultur, um die wahre Menschlichkeit. Auf wirtschaftlichem Gebiet gingen wir in den ersten 4 bis 5 Jahren durch eine Periode des mörderischen Zerfalls, des vollständigen Niederganges der Produktivität der Arbeit, unter erschreckender, qualitativer Minderwertigkeit der hergestellten Produkte, hindurch. Die Feinde erblickten hierin die vollständige Zermürbung des Sowjetregimes oder wollten sie hierin erblicken. In Wirklichkeit aber war das nur die unvermeidliche Etappe der Zerstörung der alten Wirtschaftsformen und die ersten hilflosen Versuche der Schaffung neuer. Auf dem Gebiete der Familie und der Lebensweise überhaupt gibt es auch eine unvermeidliche Periode des Zerfalls alles Alten, Traditionellen, von der Vergangenheit Ererbten und nicht Durchdachten. Aber hier, auf dem Gebiete der Lebenssitten, kommt die kritisch-zerstörende Periode mit Verspätung, sie hat eine sehr lange Dauer und nimmst die schwersten und krankhaftesten Formen an, obwohl diese infolge ihrer Mosaikartigkeit für den oberflächlichen Blick bei weitem nicht immer bemerkbar sind. Diese Marksteine, die uns eine Perspektive der Umschläge in Staat, Wirtschaft und Lebensweise geben, müssen wir deshalb feststellen, um nicht selbst vor den von uns beobachteten Erscheinungen zu erschrecken, sondern sie richtig zu bewerten, d. h. zu verstehen, welchen Platz sie in der Entwicklung der Arbeiterklasse einnehmen, und sie in der Richtung zu den sozialistischen Formen des Gemeinwesens bewusst zu beeinflussen. Damit wir nicht selbst erschrecken –, sage ich – denn es sind bereits erschrockene Stimmen erklungen. In der Besprechung der Moskauer Agitatoren führten einige Genossen mit großer und begreiflicher Unruhe Beispiele jener Leichtigkeit an, mit der alte Familienzusammenhänge zerrissen und neue – ebenso wenig dauerhafte – angeknüpft werden. Das leidende Element ist hierbei die Mutter und die Kinder. Wer von uns hat andererseits nicht schon in privaten Gesprächen geradezu Klagen über die „Sittenzerrüttung" unter der Sowjetjugend, im besonderen unter den Mitgliedern des Kommunistischen Jugendverbandes zu hören bekommen? In diesen Klagen ist natürlich nicht alles Übertreibung, sondern es ist in ihnen auch ein Teil Wahrheit enthalten. Der Kampf gegen die negativen Seiten dieser Wahrheit ist notwendig – der Kampf für die Hebung der Kultur und der menschlichen Persönlichkeit. Um aber an das Elementarste der Frage richtig heranzutreten, ohne in reaktionäres Moralisieren oder in sentimentale Mutlosigkeit zu verfallen, muss man vor allem wissen, was ist, und verstehen, was geschieht. Über das Familienleben sind, wie bereits gesagt, die ungeheuerlichsten Ereignisse hereingebrochen: der Krieg mit der Revolution. Ihren Spuren aber folgte der unterirdische Maulwurf: das kritische Denken, die bewusste Verarbeitung und Bewertung der Familienbeziehungen und der Lebensordnung. Die Verbindung der mechanischen Wucht großer Ereignisse mit der kritischen Kraft des erwachten Denkens erzeugt auf dem Gebiete der Familie jenes zerrüttende Stadium, durch das wir jetzt hindurchgehen. Der russische Arbeiter ist gezwungen, auf verschiedenen Gebieten seines Lebens erst jetzt, nach der Eroberung der Macht, bewusst die ersten kulturellen Schritte zu machen. Unter dem Einfluss mächtiger Erschütterungen reißt sich die Persönlichkeit zum ersten Mal von Lebens-, Traditions- und Kirchenformen und -beziehungen los, – ist es da zu verwundern, wenn ihr individueller Protest, ihr Rebellieren gegen das Alte in der ersten Zeit anarchische oder, gröber ausgedrückt, ungezügelte Formen annimmt? Wir haben dies sowohl in der Politik als auch im Kriegswesen und auch in der Wirtschaft beobachtet: Anarchoindividualismus, Linksradikalismus aller Art, Partisanentum, Volksversammlungen. Ist es da schließlich zu verwundern, wenn dieser Prozess seinen intimsten und darum schmerzhaftesten Ausdruck auf dem Gebiet der Familie findet? Hier verfällt die erwachte Persönlichkeit, die ihr Leben nach neuer, und nicht nach alter Art gestalten will, in Ausgelassenheit, Frechheit und andere Sünden, von denen in der Moskauer Besprechung die Rede war. Der Mann, der durch die Mobilmachung aus den gewohnten Verhältnissen herausgerissen worden war, wurde an der Front des Bürgerkrieges zum ersten Mal zum revolutionären Staatsbürger. Er erlebte eine riesenhafte innere Umwälzung. Sein Horizont erweiterte sich. Seine geistigen Bedürfnisse nahmen zu und wurden komplizierter. Nun ist er bereits ein anderer Mensch. Er kehrt in die Familie zurück. Er findet alles oder fast alles am alten Platz vor. Der alte Familienzusammenhang ist zerrissen. Ein neuer entsteht nicht. Das beiderseitige Erstaunen geht in gegenseitige Unzufriedenheit über. Die Unzufriedenheit – in Erbitterung. Die Erbitterung führt zum Bruch. Der Mann ist Kommunist, lebt ein aktives öffentliches Leben, wächst zusammen mit diesem und sieht hierin den Sinn seines persönlichen Lebens. Aber auch die Frau, eine Kommunistin, strebt danach, am öffentlichen Leben teilzunehmen, besucht Versammlungen, arbeitet im Sowjet oder im Verband. Die Familie hört entweder unauffällig auf zu existieren oder die Konflikte sammeln sich auf Grund des Fehlens der Familiengemütlichkeit an, rufen gegenseitige Erbitterung hervor und führen schließlich zum Bruch. Der Mann ist Kommunist, die Frau parteilos. Der Mann ist ganz von der öffentlichen Arbeit in Anspruch genommen, die Frau nach wie vor im Familienkreis eingeschlossen. Die Beziehungen sind „friedlich", beruhen im Grunde genommen auf gewohnheitsmäßiger Entfremdung. Aber da bestimmt die Zelle folgendes: die Kommunisten haben bei sich die Heiligenbilder zu entfernen. Der Mann betrachtet das als selbstverständlich, die Frau erblickt hierin eine Katastrophe. Aus diesem im Grunde genommen zufälligen Anlass offenbart sich ein geistiger Abgrund zwischen Mann und Frau. Die Beziehungen spitzen sich zu, und das Resultat ist ein Bruch. Eine alte Familie, die zehn bis fünfzehn Jahre gemeinsamen Lebens hinter sich hat. Der Mann ist ein tüchtiger Arbeiter, ein Familienvater, die Frau geht im Haushalt auf, widmet ihre ganze Energie der Familie. Durch einen Zufall kommt sie mit einer Frauenorganisation in Berührung. Vor ihr eröffnet sich eine neue Welt. Sie findet ein neues, umfassenderes Anwendungsgebiet für ihre Energie. In der Familie beginnt der Zerfall. Der Mann wird erbittert. Die Frau fühlt sich in ihrer erwachten Staatsbürgerehre beleidigt. Es kommt zu einem Bruch. Die Zahl dieser Varianten des Familiendramas, die zu einem und demselben Resultat – zum Bruch – führen, könnte man endlos vermehren. Aber wir haben nur die Hauptfälle angeführt. Sie alle spielen sich bei unseren Beispielen auf der Linie der Berührung kommunistischer Elemente mit Parteilosen ab. Aber der Zerfall der Familie (der alten) beschränkt sich nicht nur auf diese oberste Schicht der Klasse, die dem Einfluss der neuen Verhältnisse am meisten ausgesetzt ist, sondern er dringt noch weiter. Letzten Endes macht die kommunistische Avantgarde nur früher und in schrofferer Form durch, was für die Klasse als Ganzes mehr oder weniger unvermeidlich ist. Die kritische Prüfung des eigenen Lebens, die Vorweisung neuer Forderungen an die Familie – diese Erscheinungen erstrecken sich selbstverständlich weit über jene Linie hinaus, an der die kommunistische Partei sich mit der Arbeiterklasse berührt. Schon allein die Einführung des Instituts der bürgerlichen Ehe konnte nicht umhin, der alten, geheiligten Prunkfamilie einen harten Schlag zu versetzen. Je weniger es in der alten Ehe persönlichen Zusammenhang gab, in desto größerem Maße spielte die äußere, durch Sitte und Brauch bedingte, im besonderen zeremonielle, kirchliche Seite die Rolle eines Bandes. Der gegen diese letztere gerichtete Schlag erwies sich damit auch als ein Schlag gegen die Familie. Das sowohl des objektiven Inhaltes als auch der staatlichen Anerkennung beraubte Zeremoniell hält sich nur durch das Beharrungsvermögen, indem es auch weiterhin als eine der Stützen für die herkömmliche Familie dient. Wenn es aber in der Familie selbst an innerem Zusammenhang fehlt, wenn sie selbst sich in bedeutendem Maße nur durch das Beharrungsvermögen hält, so ist jeder äußere Stoß imstande, sie zum Zerfall zu bringen, indem er damit auch die Kirchlichkeit trifft. Solche Stöße aber gibt es in unserer Zeit unvergleichlich mehr als sonst jemals. Das ist der Grund, warum die Familie ins Wanken geraten ist, zerbröckelt, zerfällt, entsteht und von Neuem zusammenbricht. In der erbarmungslosen und schmerzhaften Kritik der Familie prüft das Leben sich selbst. Die Geschichte rodet den alten Wald aus und die Späne fliegen nach allen Seiten. Sind nun Elemente der neuen Familie in Vorbereitung? Zweifellos. Aber man muss sich über die Natur dieser Elemente und den Prozess ihrer Formierung Klarheit verschaffen. Wie in anderen Fällen, so muss man auch hier materielle Bedingungen und psychische oder objektive und subjektive unterscheiden. In psychischer Hinsicht bedeutet die Vorbereitung der neuen Familie, überhaupt neuer menschlicher Beziehungen, für uns ein kulturelles Wachstum der Arbeiterklasse, eine Entwicklung der Persönlichkeit, eine Steigerung ihrer Anforderungen und ihrer inneren Disziplin. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, bedeutet die Revolution schon an und für sich natürlich eine ungeheure Vorwärtsbewegung, und die drückendsten Erscheinungen des Familienzerfalls erscheinen als ein nur der Form nach schmerzhafter Ausdruck des Erwachens der Klasse und der Persönlichkeit in der Klasse. Unsere ganze Kulturarbeit – jene, die wir leisten,. und im Besonderen jene, die wir leisten müssen, – ist von diesem Gesichtspunkt betrachtet eine Vorbereitung neuer Beziehungen und einer neuen Familie. Ohne eine Hebung des individuellen Kulturniveaus des Arbeiters und der Arbeiterin kann es keine neue, höhere Familie geben, denn auf diesem Gebiet kann selbstverständlich nur von innerer Disziplin, keineswegs aber von äußerem Zwang die Rede sein. Die Macht der inneren Disziplin der Persönlichkeit in der Familie wird aber durch den Inhalt des inneren Lebens, durch den Umfang und den Wert jener Bande, die Mann und Frau miteinander verknüpfen, bedingt. Die Vorbereitung der materiellen Bedingungen des neuen Lebens und der neuen Familie kann wiederum in ihrer Grundlage nicht von der allgemeinen Arbeit des sozialistischen Aufbaus getrennt werden. Der Arbeiterstaat muss erst reicher werden, damit er ernsthaft und wie es sich gehört die öffentliche Erziehung der Kinder und die Entlastung der Familie von Küche und Waschküche in Angriff nehmen kann. Die Vergesellschaftung der Familienwirtschaft und der Kindererziehung ist undenkbar ohne ein gewisses Reicherwerden unserer Wirtschaft als Ganzes. Wir brauchen notwendig die sozialistische Akkumulation. Nur unter dieser Bedingung werden wir die Familie von solchen Funktionen und Sorgen befreien können, durch die sie heute unterdrückt und zerstört wird. Die Wäsche muss durch eine gute öffentliche Wäscherei gewaschen werden. Die Verpflegung muss durch ein gutes öffentliches Restaurant besorgt werden. Die Bekleidung muss Sache einer Kleiderwerkstatt sein. Die Kinder müssen durch gute öffentliche Pädagogen erzogen werden, die in dieser Tätigkeit ihren wahren Beruf sehen. Dann werden die Beziehungen von Mann und Frau zueinander von allem Äußeren, Nebensächlichen, Aufgezwungenen, Zufälligen, befreit. Der eine hört auf, das Leben des anderen mit Beschlag zu belegen. Es tritt endlich volle Gleichberechtigung ein. Das Verbundensein wird nur durch gegenseitige Sympathie bedingt. Aber gerade dadurch erwirbt es innere Beständigkeit, die natürlich nicht für alle die gleiche und für niemanden eine zwangsmäßige ist. Der Weg der neuen Familie ist also ein doppelter: a) kulturelle Erziehung der Klasse und der Persönlichkeit in der Klasse und b) materielle Bereicherung der zum Staat organisierten Klasse. Diese beiden Prozesse sind eng miteinander verknüpft. Obengesagtes bedeutet selbstverständlich durchaus nicht, dass es einen bestimmten Moment in der materiellen Entwicklung gebe, von dem beginnend die Zukunftsfamilie mit einem Schlag in ihre Rechte eintritt. Nein, eine gewisse Bewegung in der Richtung der neuen Familie ist schon jetzt möglich. Zwar kann der Staat weder die öffentliche Erziehung der Kinder, noch die Schaffung öffentlicher Küchen, die besser wären als die Familienküche, noch auch die Schaffung öffentlicher Waschküchen, in denen die Wäsche nicht zerrissen und gestohlen würde, auf sich nehmen. Das bedeutet aber durchaus noch nicht, dass die fortschrittlichsten und die meiste Initiative besitzenden Familien sich nicht schon heute auf kollektiver wirtschaftlicher Grundlage gruppieren könnten. Solche Versuche müssen natürlich sehr vorsichtig gemacht werden, so dass die technischen Mittel der kollektiven Ausrüstung einigermaßen den Interessen und Bedürfnissen der Gruppierung selbst entsprächen und für alle ihre Mitglieder Vorteile ergäben, die ganz offenkundig, wenn auch in der ersten Zeit bescheiden wären. „Diese Aufgabe", schrieb vor kurzem Genosse Semaschko über die Notwendigkeit der Umgestaltung unseres Familienlebens, „ließe sich am besten auf dem Wege des Vorbildes verwirklichen: durch Verfügungen allein oder gar nur durch Predigen ließe sich hier wenig erreichen. Aber ein Beispiel, ein Vorbild würde hier größere Wirkung haben, als Tausende guter Broschüren. Diese Propaganda des Vorbildes wäre am besten nach der Methode zu betreiben, die die Chirurgen in ihrer Praxis „Transplantation" nennen. Wenn eine große Körperoberfläche (durch Verwundung oder Verbrennung) von der Haut entblößt ist und keine Hoffnung besteht, dass die Haut eine so große Fläche wieder bedecke, so schneidet der Chirurg kleine Hautstückchen aus einer gesunden Stelle heraus und verpflanzt sie als kleine Inseln auf die entblößte Oberfläche: die Haut wächst an und beginnt von diesen Inseln aus nach den Seiten zu wachsen; auf diese Weise werden die kleinen Inseln immer größer und größer, und schließlich bedeckt sich die ganze Oberfläche mit Haut. Das gleiche wird auch bei dieser Propaganda des Vorbildes geschehen: Wenn eine Fabrik oder ein Werk bei sich eine kommunistische Lebensordnung einführen wird, so werden ihr auch die anderen Fabriken folgen." („Mitteilungen des Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees", Nr. 81 vom 14. April 1923. N. Semaschko, „Der Tote packt den Lebendigen".) Die Erfahrung solcher Familienwirtschaftskollektive, die die erste noch sehr unvollkommene Annäherung an die kommunistische Lebensweise darstellen, muss sorgfältig studiert und aufmerksam durchdacht werden. Die Kombination privater Initiative und staatlicher Unterstützung, vor allem der lokalen Sowjets- und Wirtschaftsorgane, muss an erster Stelle stehen. Die Errichtung von neuen Häusern – und wir werden ja doch einmal beginnen, neue Häuser zu bauen! – muss von vornherein mit den Bedürfnissen der Familien- und Gruppengemeinschaften in Übereinstimmung gebracht werden. Die ersten einigermaßen offenkundigen und unbezweifelbarem Erfolge in dieser Richtung werden, selbst wenn sie in ihrem Maßstab sehr beschränkt sein werden, unvermeidlich das Bestreben breiterer Kreise hervorrufen, sich in der gleichen Weise einzurichten. Für die planmäßige, von oben her eingreifende Initiative ist die Frage noch nicht reif genug – sie ist es weder hinsichtlich der materiellen Hilfsquellen des Staates, noch hinsichtlich des Vorbereitetseins des Proletariats selbst. Man kann die Sache gegenwärtig nur durch die Schaffung vorbildlicher Lebensgemeinschaften über den toten Punkt hinaus bringen. Wir werden Schritt für Schritt den Boden unter unseren Füßen befestigen müssen, ohne uns allzu sehr in die Zukunft zu verrennen und ohne in bürokratische Phantastik zu verfallen. In einem bestimmten Moment wird sich der Staat – unter Mithilfe der lokalen Sowjets, der Kooperativen usw. – dieses Prozesses bemächtigen, wird die bereits geleistete Arbeit verallgemeinern, erweitern und vertiefen. Auf diese Weise wird die menschliche Familie, um mit Engels zu sprechen, „einen Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" machen. |
Leo Trotzki > 1923 >