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Leo Trotzki 19230711 Um das Leben umzugestalten, muss man es erst kennen lernen

Leo Trotzki: Um das Leben umzugestalten,

muss man es erst kennen lernen

[Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S1. 33-43, s. auch den russischen Text]

An den Fragen des Alltagslebens sieht man am deutlichsten, in welchem Maße der einzelne Mensch ein Produkt der Verhältnisse und nicht ein Schöpfer derselben ist. Das Leben, d. h. die Lebensverhältnisse und die Lebensordnung, entsteht in noch stärkerem Maße als die Ökonomie „hinter dem Rücken“ der Menschen, (ein Ausdruck von Marx). Das bewusste Schöpfertum auf dem Gebiete des Alltagslebens nahm in der Geschichte der Menschheit einen geringen Platz ein. Das Alltagsleben setzt sich zusammen aus der angesammelten spontanen Erfahrung der Menschen, es verändert sich ebenso spontan unter der Wirkung von Stößen, die von der Technik ausgehen, oder von gelegentlichen Stößen von Seiten des revolutionären Kampfes, und spiegelt in Summa viel mehr die Vergangenheit der menschlichen Gesellschaft als ihre Gegenwart wider.

Unser Proletariat ist nicht alt, ist kein Erbproletariat, es ist im Laufe der letzten Jahrzehnte aus der Bauernschaft und nur teilweise aus dem Kleinbürgertum hervorgegangen. Die Lebensweise unseres Proletariats spiegelt deutlich diese seine soziale Herkunft wider. Es genügt, sich an die Sittenschilderungen Gljeb Uspenskis, „Typen der Rasterjajew-Straße", zu erinnern. Was charakterisiert die Einwohner der Rasterjajew-Straße, d. h. die Tulaer Arbeiter des letzten Viertels des vorigen Jahrhunderts? Das sind Kleinbürger oder Bauern, die in ihrer Mehrzahl die Hoffnung verloren haben, selbständig zu werden: eine Mischung von kulturlosem Kleinbürgertum und Barfüßlertum. Seit jener Zeit hat das Proletariat eine ungeheure Bewegung vollbracht, – viel mehr jedoch in der Politik, als in Lebenssitten und Gebräuchen. Die Lebensweise ist furchtbar konservativ. Natürlich besteht die Rasterjajew-Straße nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form. Die bestialische Behandlung der Lehrlinge, die Kriecherei vor den Arbeitgebern, die wahnsinnige Trunksucht, das Straßenrowdytum zu den verwegenen Tönen der Ziehharmonika, das alles gibt es heute nicht mehr. Aber in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, in der von der ganzen Welt abgeschlossenen Familienwirtschaft selbst ist das „Rasterjajewtum" noch tief verwurzelt. Es sind noch Jahre und Jahrzehnte ökonomischen Wachstums und kulturellen Aufschwungs notwendig, um das „Rasterjajewtum" aus seinem letzten Schlupfwinkel – dem persönlichen und dem Familienleben – zu vertreiben und dieses von oben bis unten im Geiste des Kollektivismus umzugestalten.

Die Fragen des Familienlebens waren Gegenstand besonders eifriger Erörterungen auf der bereits erwähnten Besprechung der Moskauer Massenagitatoren. In dieser Hinsicht hatten alle vieles auf dem Herzen. Die Zahl der Eindrücke, Beobachtungen und hauptsächlich Probleme ist groß, aber es gibt nicht nur keine Antwort auf sie, sondern die Fragen selbst bleiben stumm, geraten weder durch die Presse noch in Versammlungen an die Öffentlichkeit. Das Leben der Massenarbeiter, das kommunistische Leben und die Linie der Lebensberührung zwischen den Kommunisten und der breiten Arbeitermasse – ein wie umfangreiches Feld für Beobachtungen, für Schlussfolgerungen und für aktive Beeinflussung ist das!

Unsere künstlerische Literatur hilft uns hier nicht im Geringsten. Die Kunst ist schon ihrer Natur nach konservativ, sie bleibt hinter dem Leben zurück, ist wenig dazu geeignet, die Erscheinungen im Fluge, im Prozess ihrer Formierung zu erhaschen. Die „Woche" Libedinskis1) hat bei einigen Genossen Begeisterung hervorgerufen, die mir, offen gestanden, für den jungen Verfasser übermäßig und gefährlich zu sein scheint. In formaler Hinsicht trägt die „Woche" Schülercharakter, trotz der Merkmale von Begabung, und nur unter der Bedingung größter, hartnäckiger und eifriger Arbeit an sich selbst wird es Libedinski zur Künstlerschaft bringen. Ich will hoffen, dass es auch so kommen wird. Aber uns interessiert jetzt nicht diese Seite der Sache. Die „Woche" machte den Eindruck von etwas Großem und Bedeutendem nicht durch ihre künstlerischen Vorzüge, sondern durch den „kommunistischen" Lebensausschnitt, den sie vor Augen führte. Aber gerade in dieser Hinsicht geht die Erzählung nicht tief. Das „Gouvernementskomitee" wird uns zu laboratoriumsmäßig, ohne tiefere Verwurzlung und unorganisch vor Augen geführt. Darum hat die ganze „Woche" einen episodischen Anstrich, wie die Erzählungen aus dem Leben der Revolutionsemigranten. Es ist natürlich interessant und lehrreich, das „Leben" des Gouvernementskomitees zu schildern, aber die Schwierigkeit und das Bedeutsame beginnt erst dort, wo das Leben der kommunistischen Organisation – wie die Zähne eines Räderwerks – in das Alltagsleben des Volkes eingreift. Hier ist großer Schwung notwendig. Die Kommunistische Partei ist gegenwärtig der Haupthebel jeder bewussten Vorwärtsbewegung. Darum ist ihre Berührungslinie mit den Volksmassen die Hauptlinie der historischen Wirkung – der gegenseitigen Wirkung und Gegenwirkung.

Die kommunistische Theorie hat unser reales Alltagsleben um Jahrzehnte und auf manchem Gebiete um Jahrhunderte überholt. Wenn dies nicht der Fall wäre, so könnte die kommunistische Partei nicht ein historischer Faktor von großer revolutionärer Kraft sein. Die kommunistische Theorie arbeitet dank ihrem Realismus, ihrer dialektischen Elastizität politische Methoden heraus, die ihr unter jeglichen Bedingungen den Einfluss sichern. Eine politische Idee einerseits und das Alltagsleben andererseits ist aber zweierlei. Die Politik ist elastisch, das Alltagsleben aber ist unbeweglich und widerspenstig. Daher kommt es zu so vielen Zusammenstößen in Alltagsfragen im Arbeitermilieu, in einer Richtung, wo die Bewusstheit auf die Tradition stößt; Zusammenstöße, die umso härter sind, da sie der Öffentlichkeit nicht bekannt werden. Weder die künstlerische Literatur, noch auch die Publizistik spiegelt sie wider. Unsere Presse schweigt über diese Fragen. Für die neuen Kunstschulen aber, die mit der Revolution Schritt zu halten suchen, existiert das Alltagsleben überhaupt nicht. Sie wollen das Leben aufbauen, nicht aber es darstellen. Aber das Leben lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln. Man kann es aus Elementen aufbauen, die vorhanden und entwicklungsfähig sind. Darum muss man, ehe man baut, erst wissen, was vorhanden ist. Das gilt nicht nur für die Beeinflussung des Alltagslebens, sondern überhaupt für jede bewusste menschliche Tätigkeit. Man muss wissen, was vorhanden ist und in welcher Richtung das Bestehende sich verändert, um in die Lage versetzt zu werden, sich am Aufbau des Lebens zu beteiligen. Zeigt uns erst – und vor allem euch selbst –, was in der Fabrik, im Arbeitermilieu, im Kooperativ, im Klub, in der Schule, auf der Straße, in der Gastwirtschaft vorgeht, lernt verstehen, was dort geschieht, d. h. lernt die notwendige Einstellung zu den Bruchstücken der Vergangenheit und den Keimen der Zukunft finden. Dieser Aufruf gilt in gleicher Weise sowohl für die Belletristen als auch für die Publizisten, sowohl für die Arbeiterkorrespondenten als auch für die Reporter. Zeigt uns das Leben, wie es aus dem Schmiedeofen der Revolution hervorgegangen ist.

Es ist jedoch nicht schwer zu erraten, dass wir durch Aufrufe allein keinen Umschwung in der Aufmerksamkeit unserer Schriftsteller herbeiführen werden. Hier ist eine richtige Inangriffnahme der Sache, eine richtige Leitung notwendig. Das Studium und die Beleuchtung des Arbeiterlebens muss zur nächstliegenden Aufgabe der Journalisten gemacht werden, wenigstens jener, die Augen und Ohren haben; man muss sie auf dem Wege der Organisation auf diese Arbeit hin lenken, sie instruieren, korrigieren, ihnen die Richtung weisen und sie auf diese Weise zu revolutionären Lebens- und Sittenschilderern erziehen. Zugleich hiermit muss der Gesichtskreis der Arbeiterkorrespondenten erweitert werden. Im Grunde genommen könnte fast jeder von ihnen viel interessantere und inhaltsreichere Korrespondenzen liefern, als es jene sind, die heute in der Mehrzahl der Fälle geschrieben werden. Zu diesem Zwecke aber müssen die Fragen überlegt und formuliert werden, die Aufgaben müssen richtig gestellt werden, man muss zum Gespräch herausfordern und dasselbe zu führen helfen.

Um sich kulturell auf eine höhere Stufe zu erheben, muss die Arbeiterklasse, vor allem ihre Avantgarde, ihr eigenes Leben durchdenken. Zu diesem Zwecke aber muss man es kennen lernen. Die Bourgeoisie, repräsentiert hauptsächlich durch ihre eigene Intelligenz, hat diese Aufgabe in bedeutendem Maße noch vor der Eroberung der Macht erfüllt: sie war bereits eine besitzende Klasse, als sie sich noch in der Opposition befand, und Künstler, Dichter und Publizisten dienten ihr, halfen ihr denken oder dachten für sie.

In Frankreich war das 18. Jahrhundert, das so genannte Jahrhundert der Aufklärung, eine Zeit, in der die bürgerlichen Philosophen die verschiedenen Seiten des sozialen und persönlichen Lebens durchdachten, indem sie bestrebt waren, sie zu rationalisieren, d. h. den Forderungen der „Vernunft" unterzuordnen. Sie behandelten nicht nur Fragen der politischen Ordnung und der Kirche, sondern auch des Verhältnisses der Geschlechter, der Kindererziehung usw. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sie schon allein durch die Aufwertung und Behandlung dieser Fragen viel zur Hebung der Persönlichkeitskultur, selbstverständlich der bürgerlichen, hauptsächlich intellektuellen, beitrugen. Alle Bemühungen der Aufklärungsphilosophie, die sozialen und persönlichen Beziehungen zu rationalisieren, d. h. nach den Gesetzen der Vernunft umzugestalten, stießen jedoch auf die Tatsache des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die der Grundstein der neuen, auf der Vernunft beruhenden Gesellschaft bleiben sollte. Das Privateigentum bedeutete den Markt, das blinde Spiel der ökonomischen Kräfte, die nicht von der Vernunft geleitet werden. Auf den wirtschaftlichen Marktverhältnissen baute sich ein Leben auf, das ebenfalls Marktcharakter hatte. Solange der Markt herrschte, konnte man gar nicht an eine wirkliche Rationalisierung des Lebens der Volksmassen denken. Daher die äußerste Beschränktheit in der praktischen Anwendung der rationalistischen Konstruktionen der Philosophen des 18. Jahrhunderts, die in ihren Schlussfolgerungen zuweilen sehr scharf blickend und kühn waren.

In Deutschland fällt die Aufklärungsperiode in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts. An der Spitze der Bewegung marschiert das „Junge Deutschland" mit seinen Führern Heine und Börne. Im Grunde genommen war das wiederum die kritische Arbeit des linken Flügels der Bourgeoisie, ihrer Intelligenz, die der Sklaverei, der Kriecherei, dem Philistertum, dem kleinbürgerlichen Stumpfsinn und den Vorurteilen den Krieg erklärte und danach trachtete – jedoch mit viel größerem Skeptizismus als ihre französischen Vorgänger –, das Reich der Vernunft zu errichten. Diese Bewegung mündete dann in die kleinbürgerliche Revolution von 1848 ein, die sich als ohnmächtig erwies, auch nur die zahlreichen deutschen Dynastien zu stürzen, geschweige denn das menschliche Leben von oben bis unten umzugestalten.

Bei uns, in dem rückständigen Russland, bekommt das Aufklärertum erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einigermaßen umfassenden Charakter. Tschernyschewski, Pissarew, Dobroljubow, die aus der Schule Belinskis hervorgegangen waren, richteten ihre Kritik nicht nur und sogar nicht so sehr gegen die wirtschaftlichen Verhältnisse, als gegen Ungereimtheiten, Reaktionärtum und Asiatentum des Lebens und stellten den alten traditionellen Typen den neuen Menschen, den „Realisten", den „Utilitaristen" gegenüber, der sein Leben nach den Gesetzen der Vernunft aufbauen will und sich alsbald in eine „kritisch denkende Persönlichkeit" verwandelt. Diese Bewegung, die in das Volkstümlertum (Narodniki) einmündete, war ein verspätetes russisches Aufklärertum. Während aber die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts nur in sehr geringem Maße Leben und Sitten verändern konnten, die nicht durch die Philosophie, sondern durch den Markt geformt werden; während die unmittelbare kulturgeschichtliche Rolle der deutschen Aufklärung sich als noch beschränkter erwies, war der direkte Einfluss der russischen intelligenzlerischen Aufklärung auf Leben und Sitten des Volkes überhaupt ein ganz geringer. Letzten Endes wird die historische Rolle der russischen Aufklärung, mit Einschluss auch des Volkstümlertums, dadurch bestimmt, dass sie die Bedingungen für die Entstehung der Partei des revolutionären Proletariats vorbereitete.

Erst nach der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse werden die Bedingungen für die wirkliche Umgestaltung des Lebens bis in seine tiefsten Grundlagen hinab geschaffen. Das Leben lässt sich nicht rationalisieren, d. h. nach den Forderungen der Vernunft umgestalten, ohne dass man die Produktion rationalisiert, denn das Leben wurzelt in der Wirtschaft. Nur der Sozialismus macht es sich zur Aufgabe, die ganze wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen mit der Vernunft zu erfassen und sie dieser unterzuordnen. Die Bourgeoisie beschränkte sich in Gestalt ihrer fortschrittlichsten Strömungen darauf, einerseits die Technik zu rationalisieren (durch die Naturwissenschaften, die Technologie, die Chemie, durch Erfindungen und Maschinisierung), andererseits – die Politik (durch den Parlamentarismus) zu rationalisieren, nicht aber die Ökonomie, die der Schauplatz blinder Konkurrenz blieb. Darum dauerte die Herrschaft des Unbewussten und Blinden im Leben der bürgerlichen Gesellschaft fort. Die Arbeiterklasse, die sich die Macht erobert hat, stellt es sich zur Aufgabe, die ökonomischen Grundlagen der menschlichen Beziehungen einer bewussten Kontrolle und Leitung zu unterstellen. Nur das macht eine vernünftige Umgestaltung des Lebens möglich.

Eben dadurch wird aber auch eine enge Abhängigkeit zwischen unseren Erfolgen auf dem Gebiete des Alltagslebens von unseren Erfolgen auf dem Gebiete der Wirtschaft festgestellt. Es besteht allerdings nicht der geringste Zweifel darüber, dass wir selbst bei dem heutigen Wirtschaftsniveau bedeutend mehr Elemente der Kritik, Initiative und Vernunft in unser Leben hinein tragen könnten. Gerade hierin besteht eine der Aufgaben der Epoche. Noch klarer aber ist es, dass die radikale Umgestaltung des Lebens: die Emanzipation der Frau von ihrer Lage als Haussklavin, die öffentliche Erziehung der Kinder, die Befreiung der Ehe von den Elementen des wirtschaftlichen Zwanges usw. – sich nur der gesellschaftlichen Akkumulation und dem zunehmenden Übergewicht der sozialistischen Wirtschaftsformen über die kapitalistischen entsprechend verwirklichen lässt. Die kritische Nachprüfung des Lebens aber ist jetzt eine notwendige Bedingung dafür, dass das Leben, das durch seine Jahrtausende alten Traditionen konservativ ist, nicht hinter jenen Fortschrittsmöglichkeiten zurückbleibe, die bereits durch unsere heutigen wirtschaftlichen Hilfsquellen eröffnet werden oder durch die des kommenden Tages werden eröffnet werden. Andererseits werden selbst die geringsten Erfolge auf dem Gebiete des Alltagslebens, die ihrem Charakter nach einer Hebung des Kulturniveaus des Arbeiters und der Arbeiterin gleichkommen, unverzüglich die Möglichkeit einer Rationalisierung der Industrie und folglich auch einer schnelleren sozialistischen Akkumulation vergrößern, während letztere ihrerseits die Möglichkeit neuer Eroberungen auf dem Gebiete der Vergesellschaftung des Lebens eröffnen wird. Die Abhängigkeit ist hier eine dialektische: der historische Hauptfaktor ist die Ökonomie; aber auf diese können wir, die Kommunistische Partei, wir, der Arbeiterstaat, nur durch die Arbeiterklasse einwirken, indem wir ununterbrochen die technische und kulturelle Qualifikation ihrer Bestandteile heben. Die Kulturarbeit dient im Arbeiterstaat dem Sozialismus, der Sozialismus aber bedeutet ein machtvolles Aufblühen der Kultur, – der wahren, außerhalb der Klassen stehenden Menschheitskultur und menschlichen Kultur.

1 Deutsch im Verlag Carl Hoym Nachf., Hamburg 8.

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