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Leo Trotzki 19230712 Schnaps, Kirche und Kino

Leo Trotzki: Schnaps, Kirche und Kino

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 123 (25. Juli 1923), S. 1079 f.]

[Das Kino ist eines der mächtigsten Hilfsmittel, deren sich der revolutionäre Staat bei seiner Bekämpfung der Religion und in seiner Erziehungsarbeit bedienen kann. {– Die Redaktion der Internationalen Pressekorrespondenz}]

Zwei große Tatsachen haben den Sitten der russischen Arbeiterklasse einen neuen Anstrich gegeben: der Achtstundentag und die Befreiung vom Schnapshandel. Die Unterdrückung des Alkohol-Monopols, die durch den Krieg gegeben war, ging der Revolution voran. Der Krieg forderte so starke Hilfsquellen, dass der Zarismus auf die Hilfsquellen dieses Monopols verzichtete, weil sie unbedeutend wurden: eine Milliarde mehr oder weniger machte ihm schon nichts mehr aus. Die Revolution hat die Erbschaft dieses Zustandes angetreten und sie anerkannt, aber aus prinzipiellen Gründen. Erst durch die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse, die zum bewussten Aufbauer der neuen Wirtschaft wird, bekommt der verstaatlichte Kampf gegen den Alkoholismus (durch Agitation, Propaganda und Verbot) seine ganze historische Bedeutung. So gesehen, ändert die zufällige Tatsache, dass das Alkoholbudget schon durch den Krieg umgestoßen war, nichts an der wesentlichen Tatsache, dass das Ende des staatlichen Alkoholismus zu den unerschütterlichen Eroberungen der Revolution gehört. Das antialkoholische Regime im Lande der wiedergeborenen Arbeit zu entwickeln, zu befestigen, zu organisieren, bis zum Ende durchzuführen, das ist unsere Aufgabe. Unsere wirtschaftlichen kulturellen Erfolg« werden im gleichen Schritt mit diesem Werk vorwärts gehen In diesem Punkte kann es keine Konzessionen geben.

Der Achtstundentag dagegen ist eine der direkten Eroberungen der Revolution, und zwar eine der wichtigsten. Er bringt eine radikale Veränderung in das Leben der Arbeiter, indem er zwei Drittel ihres Tages von der Fabrikarbeit frei macht. Er schafft auf diese Art die Möglichkeit einer tiefen Veränderung der Sitten, einer Kultur des Intellekts, einer sozialen Erziehung usw. Aber er erzielt auch nichts anderes als diese Möglichkeiten. Der Staat wird desto besser seinen Nutzen aus dem Achtstundentag ziehen, und das Leben des Arbeiters wird sich desto besser, desto vernünftiger, desto fruchtbarer entwickeln können. Das ist, wie schon gesagt worden ist, die fundamentale Bedeutung der Oktoberrevolution. Die wirtschaftlichen Erfolge jedes Arbeiters ziehen automatisch einen materiellen und kulturellen Vorteil für die gesamte Arbeiterklasse nach sich. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Ruhe, acht Stunden Muße", das ist die alte Arbeiterformel. Bei uns gewinnt sie eine neue Bedeutung: Die acht Arbeitsstunden sind in der Produktion besser ausgenutzt, und besser, hygienischer gesünder werden die acht Stunden der Ruhe sein, erfüllter, kultivierter die acht Stunden der Muße.

Die Frage der Zerstreuungen erhält so eine große erzieherische und kulturelle Tragweite. Der Charakter des Menschen zeigt sich am besten bei den Spielen und den Zerstreuungen. Bei der Bildung des Charakters einer ganzen Klasse – wenn diese Klasse jung ist und vorwärts schreitet, wie das Proletariat – können die Zerstreuungen und die Spiele einen wichtigen Platz einnehmen. Der große französische Utopist Fourier setzte in seiner Theorie des Phalansteriums dem christlichen Asketismus in der Unterdrückung der Natur die natürliche Entwicklung und die vernünftige Ausnutzung, die Harmonie der menschlichen Instinkte und Leidenschaften entgegen. Das ist ein tiefer Gedanke Der Arbeiterstaat ist weder ein Kloster, noch ein religiöser Ort. Wir betrachten den Menschen so, wie ihn die Natur geschaffen hat und wie ihn die alte Gesellschaft teils verzogen, teils verbildet hat. Wir suchen nicht nach Stützpunkten in diesem lebendigen Material für den Hebel unserer Partei und unseres revolutionären Staates. Der Drang sich zu zerstreuen, sich zu amüsieren, sich „ein wenig umzusehen", ein wenig zu lachen, ist eine der natürlichsten Äußerungen der menschlichen Natur. Wir können und müssen ihr entsprechen, und zwar auf eine Art, die mehr und mehr ästhetisch wird, und wir müssen gleichzeitig aus den Zerstreuungen ein Mittel zur kollektiven Erziehung machen, ohne pädagogischen Rohrstock und ohne aufreizende Moralpauken.

Insofern kann heute das Kino zu einem der wichtigsten Erziehungsmittel werden, das den Wert der anderen bei weitem übertrifft. Diese wunderbare Erfindung ist in das Leben der Menschheit mit einer noch ungekannten Schnelligkeit hinein geschneit In den kapitalistischen Städten ist das Kino jetzt ein ebenso notwendiges Lebenselement, wie das Bad, das Kaffeehaus, die Kirche und andere löbliche oder tadelnswerte Einrichtungen. Die Kinoleidenschaft stammt aus dem Wunsche, sich zu zerstreuen, etwas Neues, Ungewöhnliches zu sehen, zu lachen und sogar zu weinen, aber nicht über eigene Abenteuer, sondern über fremde, All diesen Bedürfnissen entspricht das Kino auf die direkteste Weise, durch den visuellen Eindruck, durch das lebendige Bild, fast ohne irgendetwas vom Zuschauer zu fordern, sogar ohne von ihm die Lesekunst zu verlangen. Daraus ergibt sich die zärtliche Hingabe des Zuschauers an das Kino, eine unerschöpfliche Quelle von Eindrücken und Sensationen. Das ist der Punkt, oder besser, die ungeheure Fläche, an der wir unsere Bemühungen zur sozialistischen Erziehung ansetzen können.

In diesen fast sechs Jahren haben wir es nicht verstanden, die Herren des Kino zu werden. Das zeigt, wie sehr linkisch wir sind, unkultiviert, um nicht brutal zu sagen, stumpfsinnig. Es handelt sich um ein Instrument, das nicht mehr verlangt, als dass man es nimmt. Es handelt sich um das beste Propagandainstrument für die Technik, die Kultur, die Industrie, die Volksgesundheit, gegen den Alkohol – mit einem Wort: um ein Ding das für alle zugänglich, anziehend ist, dessen Eindrücke leicht zu behalten sind und das schließlich gute Einnahmen bringen kann.

Das Kino konkurriert als Anziehungsmittel und Verschönerungsmittel schon durch sich selbst mit dem Kaffeehaus, mit der Kneipe. Ich weiß nicht, ob es jetzt in Paris oder New York mehr Kaffees oder Kinos gibt, und welche Kategorie dieser Etablissements einträglicher ist. Aber es ist klar, dass das Kino zunächst mit dem Kaffeehaus konkurriert, wenn es gilt, die Mußestunden des Arbeiters auszufüllen. Können wir die Herren dieses unvergleichlichen Instruments werden? Weshalb nicht? In einigen wenigen Jahren hatte die kaiserliche Regierung ein ziemlich verzweigtes Netz von staatlichen Schnapsbuden geschaffen. Warum sollte der Arbeiterstaat nicht imstande sein, ein Netz von Kinos zu schaffen und dieses Erziehungs- und Zerstreuungsmittel mehr und mehr in das Volksleben einzuführen, es dem Alkoholismus entgegenzusetzen und sich daraus auf der anderen Seife eine Einnahmequelle zu schaffen? Ist das möglich? Warum nicht? Natürlich ist das nicht leicht. Aber es entspricht auf jeden Fall viel mehr der Natur und den Organisationsfähigkeiten des proletarischen Staates, als beispielsweise der Versuch, das Alkoholmonopol wieder herzustellen.

Das Kino ist auch der Konkurrent der Kirche, und diese Konkurrenz kann der Kirche fatal werden, wenn wir die Trennung von Staat und Kirche durch Vereinigung des sozialistischen Staates und des Kinos vervollständigen.

In der russischen Arbeiterklasse steckt fast keine Religiosität. In Wirklichkeit hat sie auch nie eine gehabt. Die orthodoxe Kirche hatte bei den Sitten und Gebräuchen eine rituelle Bedeutung und war eine offizielle Einrichtung. Es ist ihr nicht gelungen, tief in das Bewusstsein der Massen einzudringen und ihre Dogmen und Kanons den Massen einzupflanzen. Der Grund ist wieder die Kulturlosigkeit des alten Russland und insbesondere seiner Kirche. Deshalb befreit sich der russische Arbeiter, wenn er zur Kultur erwacht, so leicht von den rein äußerlichen Banden der Kirche. Diese Befreiung fällt, das ist wahr, den Bauern schwerer. Nicht etwa, dass sie tiefer oder inniger von der religiösen Überzeugung durchdrungen wären; darum handelt es sich gar nicht. Aber die Art zu leben, diese monotone und träge Art, hängt eng zusammen mit der Trägheit und Monotonie des kirchlichen Ritus.

Bei dem Arbeiter – wir sprechen vom parteilosen Massenmenschen – ist das Band, das ihn an die Kirche knüpft, zumeist nur ein Faden, der Faden der Gewohnheit, hauptsächlich der Gewohnheit der Frauen. Es gibt Heiligenbilder im Hause, weil sie nun einmal drin sind, und weil man sie dort gelassen hat. Sie schmücken den Raum; ohne sie wären die Wände zu nackt, das Zimmer würde unwohnlich aussehen. Der Arbeiter kauft keine neuen Heiligenbilder; aber er hat nicht genug Charakter, um sich von den alten zu befreien. Wie soll er das Frühlingsfest feiern, wenn er keinen Osterkuchen isst? Aber diesen Kuchen muss man segnen lassen, sonst würde das Fest zu armselig sein.

Wenn man in die Kirche geht, so geschieht selbst das nicht aus Religiosität: Es ist dort hell, die Kirche ist geschmückt, voll, man sieht dort gut, sie zieht an, indem sie auf die sozialen Instinkte und auf die ästhetischen Bedürfnisse einwirkt, wie es weder die Fabrik noch die Familie, noch die alltägliche Straße tut. Aber man hat keinen Glauben oder fast keinen. Auf jeden Fall hat man keinen Respekt vor der Kirchenhierarchie, kein Vertrauen zur magischen Kraft der Riten. Man hat aber auch nicht den aktiven Willen, mit alledem zu brechen. Das Element der Zerstreuung und des Vergnügens spielt beim kirchlichen Rituell eine sehr große Rolle. Die Kirche wirkt durch bühnenmäßige Einwirkungen auf das Auge, auf das Ohr und auf die Nase (Weihrauch); sie wirkt durch ihre Vermittlung auf die Einbildungskraft und auf das Bedürfnis nach Schaustellungen beim Menschen, auf das Bedürfnis, irgendetwas Besonderes zu sehen und zu hören, ja, irgendetwas Aufregendes, das die banale Wirklichkeit verändert, ein großes, unauslöschliches Bedürfnis, das von der Kindheit bis ins tiefe Greisenalter anhält. Um die breiten Massen von den Kirchengebräuchen abzubringen, genügt die antireligiöse Propaganda nicht. Die antireligiöse Propaganda ist offensichtlich notwendig. Aber ihr direkt praktischer Einfluss beschränkt sich auf eine Minderheit, auf die ideologisch kleinste Minderheit. Die Masse geht auf die antireligiöse Propaganda nicht ein – nicht deshalb, weil sie an der Religion festhält, sondern im Gegenteil deshalb, weil sie kein ideologisches Band an die Religion knüpft, weil sie zur Kirche nur ungeformte, träge, unbewusste, alte, automatisierte Gewohnheiten als Verbindung besitzt. Hieraus ergibt sich die Gewohnheit vieler, die bei Gelegenheit auch an einer Prozession teilnehmen, zu einer großen Messe gehen, sich den Gesang anhören, heilige Zeichen machen. Dieser Ritualismus ohne Gedanken, der auf dem Bewusstsein schwer lastet, kann nicht durch die bloße Kritik zerstört werden, sondern muss vielmehr durch neue Sitten ausgemerzt werden, durch neue Zerstreuungen, durch neue kultivierte Darbietungen. Und hier denken wir an das mächtigste Theaterinstrument – denn es ist das demokratischste – an das Kino. Ohne irgendeine Priester-Hierarchie notwendig zu haben, wirft das Kino auf seine weiße Leinwand noch viel packendere Bilder als die Kirche, die Moschee, die Synagoge, als das reichste dieser „Gotteshäuser" es nach einer tausendjährigen Theatererfahrung tun kann. Man spielt in der Kirche immer nur einen „Akt", immer denselben, der sich jahraus, jahrein immer wiederholt. Das Kino wird selbst hier dieselben Tage, und zur selben Stunde das heidnische Ostern, das jüdische Ostern, das christliche Ostern in ihrer geschichtlichen Abfolge und ihren rituellen Nachahmungen zeigen. Das Kino wird die Leute amüsieren, belehren, staunend machen, die Einbildungskraft anregen und sie von der Notwendigkeit, die Kirche zu betreten, befreien. Das Kino ist der große Konkurrent der Kneipe und der Kirche. Dieses Instruments müssen wir uns um jeden Preis bemächtigen.

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