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Leo Trotzki 19230712 Schnaps, Kirche und Kino (FdA)

Leo Trotzki: Schnaps, Kirche und Kino

[Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S1. 44-52, s. auch den russischen Text]

Zwei gewichtige Tatsachen haben dem Arbeiterleben ein neues Gepräge verliehen: der Achtstundentag und die Einstellung des Schnapsverkaufs. Die Liquidation des staatlichen Schnapsmonopols, die durch den Krieg hervorgerufen war, erfolgte vor der Revolution. Der Krieg forderte so unermessliche Mittel, dass der Zarismus auf die Einnahme aus alkoholischen Getränken als auf eine Bagatelle verzichten konnte: eine Milliarde mehr oder weniger machte keinen großen Unterschied aus. Die Revolution übernahm die Liquidation des Schnapsmonopols als Erbe, als Tatsache, sie adoptierte diese Tatsache, jedoch geschah dies bereits aus Erwägungen tief prinzipiellen Charakters. Erst nach der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse, die zum bewussten Baumeister der neuen Wirtschaft wird, bekommt der staatliche Kampf gegen den Alkoholismus – der kulturell-aufklärende und der prohibitive – seine historische Bedeutung. In dieser Hinsicht ändert der im Grunde genommen nebensächliche Umstand, dass das „Saufbudget" gelegentlich des imperialistischen Krieges umgeworfen wurde, durchaus nichts an der grundlegenden Tatsache, dass die Liquidation des durch den Staat betriebenen Zugrunderichtens des Volkes durch den Suff in das eiserne Inventar der Errungenschaften der Revolution aufgenommen wurde. Das anti-alkoholische Regime im Lande der wieder erwachenden werktätigen Arbeit zu entfalten, zu festigen, zu organisieren und zu Ende zu führen – das ist unsere Aufgabe. Sowohl unsere wirtschaftlichen als auch unsere kulturellen Erfolge werden der Verringerung des Prozentgehaltes der geistigen Getränke an Alkohol parallel laufen. Hier kann es keine Zugeständnisse geben.

Was den Achtstundentag anbelangt, so ist er bereits eine direkte Errungenschaft der Revolution, und zwar eine der wichtigsten. Schon an und für sich als Tatsache trägt der Achtstundentag eine radikale Veränderung in das Leben des Arbeiters hinein, indem er zwei Drittel des Tages von der Fabrikarbeit freihält. Dadurch wird eine Grundlage für radikale Veränderungen des Lebens, für die kulturelle Entwicklung, für die öffentliche Erziehung usw. geschaffen, jedoch nur eine Grundlage. Je richtiger vom Staate die Arbeitszeit ausgenützt wird, desto besser, vollständiger, inhaltsreicher kann das ganze Leben des Arbeiters gestaltet werden. Darin besteht ja gerade, wie bereits gesagt, der Hauptsinn des Oktoberumsturzes, dass die wirtschaftlichen Erfolge jedes Arbeiters automatisch eine materielle und kulturelle Hebung der Arbeiterklasse als Ganzes bedeuten. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit", lautet die alte Formel der Arbeiterbewegung. Unter unseren Verhältnissen erhält sie einen ganz neuen Inhalt: Je produktiver die acht Arbeitsstunden ausgenutzt werden, desto besser, sauberer, hygienischer können die acht Stunden Schlaf gestaltet werden, desto inhaltsreicher, kultureller die acht freien Stunden.

Die Frage der Vergnügungen bekommt in diesem Zusammenhange eine ungeheure kulturell-erzieherische Bedeutung. Der Charakter des Kindes tritt zu Tage und wird geformt im Spiel. Der Charakter des erwachsenen Menschen kommt am grellsten zum Ausdruck in Spielen und Zerstreuungen. Aber auch in der Gestaltung des Charakters einer ganzen Klasse können Zerstreuung und Spiel – wenn diese Klasse jung und vorwärts strebend ist, wie das Proletariat – einen hervorragenden Platz einnehmen. Der große französische Utopist Fourier baute seine Phalansteren (Zukunftskommunen) – als Gegengewicht zur christlichen Askese und der Unterdrückung der Natur des Menschen – auf der richtigen und vernünftigen Ausnützung und Kombination der menschlichen Instinkte und Leidenschaften auf. Das ist ein tiefer Gedanke. Der Arbeiterstaat ist weder ein geistlicher Orden, noch ein Kloster. Wir nehmen die Menschen so, wie die Natur sie geschaffen und wie sie die alte Gesellschaft zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren Parteihebel und revolutionär-staatlichen Hebel anzusetzen. Das Bestreben, sich aufzuheitern, sich zu zerstreuen, zuzuschauen und zu lachen, ist das berechtigtste Streben der menschlichen Natur. Wir können und müssen diesem Bedürfnis eine Befriedigung von immer höherer künstlerischer Qualität gewähren und zugleich das Vergnügen zum Werkzeug der kollektiven Erziehung, ohne pädagogische Bevormundung, ohne aufdringliches Hinlenken auf die Bahn der Wahrheit machen.

Das wichtigste, alle anderen bei weitem übertreffende Werkzeug auf diesem Gebiet, kann gegenwärtig das Kino sein. Diese verblüffende Neuerung auf dem Gebiete des Schauspiels ist in das Leben der Menschheit mit einer noch nie dagewesenen siegreichen Schnelligkeit eingedrungen. Das Kino ist im Alltag der kapitalistischen Städte ebenso sehr ein lebendiger Bestandteil, wie das Bad, die Gastwirtschaft, die Kirche und andere löbliche und nicht löbliche notwendige Institutionen. Der Kinoleidenschaft liegt das Bestreben zugrunde, sich abzulenken, etwas Neues, noch nie Dagewesenes zu sehen, zu lachen und sogar zu weinen, jedoch nicht über eigenes Unglück, sondern über fremdes. Allen diesen Bedürfnissen gewährt das Kino die unmittelbarste, optische, bildhafte, ganz lebendige Befriedigung, fast ohne an den Zuschauer irgendwelche Anforderungen, nicht einmal die des Lesenkönnens, zu stellen. Daher die dankbare Liebe des Zuschauers zum Kino, dieser unerschöpflichen Quelle der Eindrücke und des Erlebens! Das ist der Punkt – und nicht nur der Punkt, sondern eine große Fläche –, auf der die erzieherisch-sozialistischen Bemühungen ansetzen können.

Der Umstand, dass wir bis jetzt, d. h. im Laufe dieser fast sechs Jahre uns nicht des Kinos bemächtigt haben, zeigt, bis zu welchem Grade wir ungeschickt, kulturlos, um nicht gleich zu sagen: stupide sind. Das Kino ist ein Werkzeug, das sich einem von selbst aufdrängt: das beste Instrument der Propaganda – der technischen, kulturellen, auf die Produktion bezüglichen, antialkoholischen, sanitären, politischen, überhaupt jeder beliebigen allgemeinverständlichen, anziehenden, sich dem Gedächtnis einprägenden Propaganda – und eventuell eine einträgliche Sache.

Indem das Kino anziehend und zerstreuend wirkt, konkurriert es schon eben dadurch mit der Wirtschaft und Kneipe. Ich weiß nicht, was es gegenwärtig in Paris oder in New York mehr gibt: Bierwirtschaften oder Kinos? Und welche von diesen Unternehmen mehr eintragen. Aber es ist klar, dass das Kino mit der Kneipe vor allem in der Frage konkurriert, wie und womit die acht freien Stunden auszufüllen sind. Könnten wir uns nicht dieses unvergleichlichen Werkzeuges bemächtigen? Warum nicht? Die Zarenregierung hat im Laufe von ein paar Jahren ein weit verzweigtes Netz von staatlichen Branntweinschenken geschaffen. Hiermit erzielte sie eine jährliche Einnahme von rund einer Milliarde Goldrubel. Warum sollte der Arbeiterstaat nicht ein Netz von staatlichen Kinos schaffen können, diesen Apparat der Zerstreuung und Erziehung immer tiefer in das Volksleben eingreifen lassen, ihn dem Alkohol gegenüberstellen und ihn zugleich zu einer einträglichen Sache gestalten? Ließe sich das durchführen? Warum nicht? Natürlich ist das nicht leicht. Das wäre aber auf jeden Fall natürlicher und entspräche mehr der Natur, den organisatorischen Kräften und Fähigkeiten des Arbeiterstaates, als sagen wir einmal die Restauration … des Schnapswesens.*

Das Kino konkurriert nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche. Und diese Konkurrenz kann für die Kirche verhängnisvoll werden, wenn wir die Loslösung der Kirche vom sozialistischen Staat durch die Vereinigung des sozialistischen Staates mit dem Kino ergänzen.

Religiosität ist in der russischen Arbeiterklasse fast gar nicht vorhanden. Auch hat es sie in Wirklichkeit niemals gegeben. Die orthodoxe Kirche war ein Lebenszeremoniell und eine offizielle Organisation. Es ist ihr aber nicht gelungen, tief in das Bewusstsein der Volksmassen einzudringen und ihre Dogmen und Kanons mit ihrem inneren Erleben zu verknüpfen. Der Grund hierfür ist der gleiche: die Kulturlosigkeit des alten Russland, unter anderem auch seiner Kirche. Darum befreit sich der russische Arbeiter, indem er zur Kultur erwacht, auch so leicht von seiner rein äußerlichen Lebensverknüpfung mit der Kirche. Für den Bauer ist das allerdings schwieriger, aber nicht etwa deshalb, weil er tiefer, intimer von der kirchlichen Lehre durchdrungen wäre – davon kann natürlich gar keine Rede sein –, sondern weil sein träges und eintöniges Leben eng mit dem trägen und eintönigen kirchlichen Zeremoniell verknüpft ist.

Bei dem Arbeiter – wir sprechen von dem parteilosen Massenarbeiter – hängt die Verbindung mit der Kirche in der Mehrzahl der Fälle an dem Faden der Gewohnheit, hauptsächlich der Gewohnheit der Frau. Die Heiligenbilder hängen im Hause, weil sie nun schon einmal da sind. Sie schmücken die Wände, ohne sie wäre es kahl und unwohnlich. Der Arbeiter wird keine neuen Heiligenbilder kaufen, doch fehlt es ihm an dem Willen, auf die alten zu verzichten. Wodurch sollte man den Frühlingsfeiertag Ostern kennzeichnen, wenn nicht durch Kulitsch und Pas'cha1? Kulitsch und Pas'cha müssen aber nach altem Brauch geweiht werden, – sonst fehlt etwas. In die Kirche geht man durchaus nicht aus Religiosität: in der Kirche ist es hell, schön, es sind viel Menschen dort, es wird gut gesungen – das ist eine ganze Reihe öffentlich-ästhetischer Anziehungsmomente, die weder die Fabrik, noch die Familie, noch das Alltagsleben der Straße bietet. Glaube ist nicht oder fast nicht vorhanden. Auf jeden Fall besteht keinerlei Achtung gegenüber der Kirchenhierarchie, keinerlei Vertrauen zur magischen Kraft des Zeremoniells. Aber es ist auch nicht der aktive Wille vorhanden, mit all diesem zu brechen. Das Element der Zerstreuung, der Ablenkung und Unterhaltung spielt im Kirchenzeremoniell eine ungeheure Rolle. Die Kirche wirkt durch theatralische Methoden auf das Auge, auf das Gehör und den Geruchssinn (Weihrauch!) und durch diese auf die Einbildungskraft. Das Bedürfnis des Menschen nach Theatralik – etwas Ungewohntes, Grelles, aus der Eintönigkeit des Lebens Herausführendes zu hören und zu sehen – ist sehr groß, unausrottbar, unersättlich, von den Kinderjahren bis ins tiefe Alter hinein. Um die breiten Massen von dem Zeremoniell, von der Kirchlichkeit des Alltagslebens zu befreien, genügt die antireligiöse Propaganda allein nicht. Sie ist natürlich unentbehrlich. Aber ihr unmittelbarer, praktischer Einfluss beschränkt sich doch auf die geistig mutigste Minderheit. Die breite Masse dagegen ist nicht darum der antireligiösen Propaganda unzugänglich, weil ihre geistige Verknüpftheit mit der Religion so tief ist, sondern im Gegenteil deshalb, weil ein geistiger Zusammenhang nicht besteht, sondern nur ein formloser, beharrender, nicht durch das Bewusstsein gehender automatischer Lebenszusammenhang, unter anderem auch die Verknüpftheit eines Straßengaffers, der nicht abgeneigt ist, sich bei Gelegenheit an einer Prozession oder an einem feierlichen Gottesdienst zu beteiligen, den Kirchengesang anzuhören und geschäftig mit den Händen das Kreuz zu schlagen. Diese geistlose Zeremonie, die sich als träge Last auf das Bewusstsein legt, kann man nicht durch Kritik allein zerstören, sondern kann sie nur durch neue Lebensformen, neue Zerstreuungen, durch eine neue, kulturelle Theatralik verdrängen. Und hier wird wiederum unser Denken ganz natürlich auf das mächtigste – weil demokratischste – Werkzeug der Theatralik, das Kino gelenkt. Das Kino, das keine weit verzweigte Hierarchie, keinen Brokat usw. braucht, entfaltet auf der weißen Leinwand eine viel packendere Theatralik, als selbst die reichste durch die theatralische Erfahrung von Jahrtausenden gewitzigte Kirche, Moschee oder Synagoge es vermag. In der Kirche wird immer nur eine „Handlung" gezeigt, und zwar immer, Jahr für Jahr ein und dieselbe, während das Kino, das sich gleich in ihrer Nachbarschaft oder ihr gegenüber befindet, an den gleichen Tagen und zu den gleichen Stunden uns sowohl das heidnische Ostern, als auch das jüdische und christliche in ihrem historischen Zusammenhang und in ihrer zeremoniellen Nachahmung vor Augen führt. Das Kino zerstreut, klärt auf, versetzt die Einbildungskraft durch Bilder in Erstaunen und befreit von dem Bedürfnis, über die Schwelle der Kirche zu gehen. Das Kino ist eine große Konkurrenz nicht nur der Kneipe, sondern auch der Kirche. Es ist das Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen!

* Diese Zeilen, waren bereits geschrieben, als ich in der letzten in meinen Händen befindlichen Nummer der „Prawda" (vom 30. Juni) folgenden Auszug aus einem an die Redaktion eingesandten Artikel des Genossen I. Gordejew fand: „Die Kinoindustrie ist eine äußerst vorteilhafte kommerzielle Angelegenheit, die großen Gewinn abwirft. Bei geschickter, vernünftiger und sachlicher Inangriffnahme könnte das Kinomonopol für die Gesundung unserer Finanzen eine Rolle spielen, ähnlich der Rolle des Schnapsmonopols für die zaristische Staatskasse." Im Weiteren werden vom Genossen Gordejew praktische Anregungen gegeben, wie die Kinofizierung des Sowjetlebens durchzuführen sei. Das ist eine Frage, die tatsächlich der ernsten und sachlichen Bearbeitung bedarf!

1 Ein in Russland zu Ostern übliches Hefegebäck und eine Quarkspeise. Anm. d. Übers.

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