Leo Trotzki: Familie und Zeremoniell [Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S. 68-76, s. auch den russischen Text] Das Kirchenzeremoniell hält selbst den ungläubigen oder wenig gläubigen Arbeiter mit Hilfe der drei wichtigsten Momente im Leben des Menschen und der menschlichen Familie – Geburt, Eheschließung und Tod – wie mit Ketten fest. Der Arbeiterstaat wandte sich vom Kirchenzeremoniell ab, indem er den Staatsbürgern erklärte, dass sie das Recht hätten, geboren zu werden, zu heiraten und zu sterben ohne die magischen Manipulationen und Beschwörungen von Seiten von Leuten, die in Priestergewänder, Soutanen und andere Formen der religiösen Berufskleidung gekleidet sind. Aber dem Leben fällt es bedeutend schwerer, als dem Staat, sich vom Zeremoniell loszureißen. Das Leben der werktätigen Familie ist allzu eintönig, und es erschöpft durch diese seine Eintönigkeit das Nervensystem. Daher das Bedürfnis nach Alkohol: ein kleines Fläschchen enthält eine ganze Welt von Bildern. Daher auch das Bedürfnis nach der Kirche mit ihrem Zeremoniell. Wie soll man eine Eheschließung oder die Geburt eines Kindes in der Familie feiern? Wie soll man einem verstorbenen nahe stehenden Menschen die letzte Ehre erweisen? Auf diesem Bedürfnis, die wichtigsten Marksteine des Lebensweges hervorzuheben, zu kennzeichnen, sie schön zu gestalten, beruht nun gerade das Kirchenzeremoniell. Was soll man ihm entgegenstellen? Dem Aberglauben, der dem Zeremoniell zugrunde liegt, stellen wir selbstverständlich die materialistische Kritik und atheistisch-aktivistisches Verhalten zur Natur und ihren Kräften entgegen. Aber die Frage wird durch diese wissenschaftlich-kritische Propaganda nicht erschöpft: erstens erstreckt sie sich vorläufig nur auf eine Minderheit und wird sich auch noch ziemlich lange nur auf diese erstrecken; zweitens bleibt auch bei dieser Minderheit das Bedürfnis bestehen, das persönliche Leben wenigstens in seinen wichtigsten Etappen schön zu gestalten, es zu heben, zu veredeln. Der Arbeiterstaat hat bereits seine eigenen Feiertage, seine Prozessionen, seine Paraden, seine symbolischen Schauspiele, seine eigene neue staatliche Theatralik. Zwar schließt sie sich in vielem noch allzu eng an die alten Formen an, ahmt sie nach und führt sie teilweise unmittelbar fort. Aber im wichtigsten ist die revolutionäre Symbolik des Arbeiterstaates neu, klar und mächtig: die rote Fahne, Sichel und Hammer, der rote Stern, Arbeiter und Bauer, Genosse, Internationale. In den geschlossenen Zellen des Familienlebens ist dieses Neue fast noch gar nicht, jedenfalls aber noch zu wenig vorhanden. Indessen ist das persönliche Leben eng mit der Familie verknüpft. Daraus erklärt sich auch, dass in der Familie nicht selten, was Sitten und Gebräuche anbelangt, die konservativere Seite in Bezug auf Heiligenbilder, Taufe, kirchliche Beerdigung usw. die Oberhand bekommt, da die revolutionären Familienmitglieder dem nichts entgegenzustellen haben. Theoretische Argumente wirken nur auf den Verstand. Das theatralische Zeremoniell aber wirkt auf Gefühl und Einbildung. Sein Einfluss ist folglich ein viel umfassenderer. Darum erwacht im kommunistischen Milieu plötzlich das Bedürfnis, dem alten Zeremoniell neue Formen entgegenzusetzen, eine neue Symbolik, nicht nur auf dem Gebiete des Staatslebens, wo diese bereits in großem Maße vorhanden ist, sondern auch in der Sphäre der Familie. Unter den Arbeitern besteht eine Bewegung, den Geburtstag und nicht den Namenstag zu feiern, die Neugeborenen nicht nach dem Kirchenkalender, sondern mit irgendwelchen neuen Namen zu benennen, die neue uns nahe stehende Tatsachen, Ereignisse oder Ideen symbolisieren. Auf der Besprechung der Moskauer Agitatoren erfuhr ich zum ersten Mal, dass der neue Mädchenname „Oktobrina" sich schon bis zu einem gewissen Grade eingebürgert habe. Auch der Name „Ninelj" kommt vor (der Name „Lenin" rückwärts gelesen). Genannt wurde auch der Name „Rem" (Revolution, Elektrifizierung, Friede – russisch „Mir"). Eine Methode, den Zusammenhang mit der Revolution zum Ausdruck zu bringen, besteht auch darin, neugeborenen Knaben den Namen Wladimir, sowie auch Iljitsch oder sogar Lenin (als Vorname) und Mädchen den Namen Rosa (zu Ehren Rosa Luxemburgs) zu geben usw. In einigen Fällen wurde die Geburt durch ein halb scherzhaftes Zeremoniell, eine „Visitation" des Neugeborenen unter Teilnahme des Fabrikkomitees und spezielle „protokollarische Verfügung" über die Aufnahme des Neugeborenen in die Zahl der Bürger der RSFSR gefeiert. Darauf begann ein Gelage. Der Beginn der Lehrlingszeit des Sohnes wird zuweilen in der Arbeiterfamilie gefeiert. Das ist tatsächlich ein außerordentlich wichtiges Ereignis, da es mit der Wahl des Berufes, der Lebensbahn verknüpft ist. Hier wäre es am Platze, dass die Gewerkschaften etwas unternähmen. Man braucht überhaupt nicht daran zu zweifeln, dass gerade die Gewerkschaften einen hervorragenden Platz in der Schaffung und Organisation neuer Lebensformen einnehmen werden. Die mittelalterlichen Zünfte waren ja gerade dadurch so mächtig, dass sie das Leben des Lehrlings, Gesellen und Meisters in jeder Hinsicht umfassten. Sie begrüßten den Neugeborenen am ersten Tage seines Lebens, geleiteten ihn an die Tore der Schule, begleiteten ihn, wenn er heiratete, zur Kirche und beerdigten ihn, wenn er seine arbeitsreiche Lebensbahn beendete. Die Zünfte waren nicht einfach Handwerkervereinigungen, sondern in Sitte und Gebrauch organisiertes Leben. In derselben Richtung wird wahrscheinlich in bedeutendem Maße die Entwicklung unserer Produktionsverbände verlaufen, mit dem Unterschiede natürlich, dass das neue Leben, im Gegensatz zum mittelalterlichen, in seinen Sitten und Gebräuchen vollständig von der Kirche und ihrem Aberglauben frei sein wird, und dass ihm das Bestreben zugrunde liegen wird, jede Errungenschaft der Wissenschaft und Technik zur Bereicherung und Verschönerung des menschlichen Lebens auszunutzen. Die Eheschließung kommt vielleicht leichter ohne Zeremoniell aus. Obwohl es auch in dieser Hinsicht viele Meinungsverschiedenheiten und Ausschließungen aus der Partei wegen kirchlicher Trauung gegeben hat. Das Leben will sich nicht mit der „nackten", nicht durch Theatralik geschmückten Ehe versöhnen. Unvergleichlich schwieriger verhält es sich mit der Beerdigung. Einen Toten ohne Seelenmesse zu begraben, ist etwas ebenso Ungewohntes, Sonderbares und Anstößiges, wie einen Ungetauften aufzuziehen. In jenen Fällen, wo die Beerdigung der Persönlichkeit des Verstorbenen entsprechend politische Bedeutung erlangt, tritt ein neues, von revolutionärer Symbolik durchtränktes theatralisches Zeremoniell auf die Szene: rote Fahnen, der revolutionäre Trauermarsch, eine Gewehrsalve als Abschiedsgruß Einige der Teilnehmer der Moskauer Besprechung betonten die Notwendigkeit des möglichst schnellen Überganges zur Leichenverbrennung und machten den Vorschlag, des Vorbildes halber bei den hervorragenden Revolutionsarbeitern zu beginnen, da sie mit Recht hierin ein mächtiges Werkzeug der antikirchlichen und antireligiösen Propaganda erblickten. Aber natürlich wird auch die Leichenverbrennung – zu der überzugehen es in der Tat Zeit wäre – nicht einen Verzicht auf Prozessionen, Reden, Trauermarsch und Salutschüssen bedeuten. Das Bedürfnis, die Gefühle äußerlich kenntlich zu machen, ist mächtig und berechtigt. Wenn die Theatralik der Sitten und Gebräuche in der Vergangenheit stets in der innigsten Weise mit der Kirche verknüpft war, so bedeutet dies, wie bereits gesagt, durchaus nicht, dass sie nicht von einander getrennt werden könnten. Die Trennung des Theaters von der Kirche fand viel früher statt, als die Trennung der Kirche vom Staat. Die Kirche bekämpfte in der ersten Zeit außerordentlich stark das weltliche Theater, indem sie in diesem ganz mit Recht einen gefährlichen Konkurrenten auf dem Gebiete der Inszenierung von Schauspielen erblickte. Das Theater ist am Leben geblieben, jedoch als ein spezielles, in vier Wänden eingeschlossenes Schauspiel. Im Alltagsleben aber behielt sich die Kirche nach wie vor das Monopol theatralischer Schauspiele vor. Mit ihr konkurrierten in dieser Hinsicht einige Geheimgesellschaften, wie etwa die Freimaurer. Aber sie selbst sind gänzlich vom weltlichen Pfaffentum durchdrungen. Die Schaffung eines revolutionären „Lebenszeremoniells" (wir wollen dieses Wort nehmen, da es uns an einem besseren fehlt) und die Gegenüberstellung desselben dem kirchlichen Zeremoniell ist durchführbar nicht nur in Bezug auf die Ereignisse öffentlich-staatlichen Charakters, sondern auch in Bezug auf die Familienereignisse. Schon heute ist ein Orchester, das einen Trauermarsch spielt, wie sich herausstellt, nicht selten in der Lage, mit einer kirchlichen Totenmesse zu konkurrieren. Und wir müssen natürlich das Orchester zu unserem Verbündeten im Kampfe gegen das Kirchenzeremoniell machen, das auf dem Knechtsglauben an eine andere Welt beruht, in der das Übel und die Gemeinheiten dieser Welt hundertfach vergolten werden sollen. Ein noch mächtigerer Verbündeter wird für uns das Kino sein. Die Schaffung neuer Lebensformen und einer neuen Lebenstheatralik wird zunehmen zusammen mit der Verbreitung des Lesens und Schreibens und mit der Zunahme der materiellen Sicherstellung. Wir haben allen Grund, diesen Prozess mit der größten Aufmerksamkeit zu verfolgen. Von irgendeiner zwangsmäßigen Einmischung von oben her, d. h. von einer Bürokratisierung der neuen Lebenserscheinungen kann natürlich gar keine Rede sein. Nur die kollektive, schöpferische Tätigkeit der breitesten Bevölkerungskreise unter Hinzuziehung der künstlerischen Phantasie, der schöpferischen Einbildung, der künstlerischen Initiative zu dieser Arbeit, kann uns allmählich im Laufe von Jahren und Jahrzehnten auf die Bahn neuer, vergeistigter, veredelter, von kollektiver Theatralik durchdrungener Lebensformen führen. Ohne jedoch diesen schöpferischen Prozess zu reglementieren, muss man ihn auch jetzt schon in jeder Weise fördern. Hierfür ist aber wiederum vor allem notwendig, dass er aus einem blinden zu einem sehenden werde. Man muss in dieser Hinsicht aufmerksam alles das verfolgen, was in dieser Hinsicht in der Arbeiterfamilie und überhaupt in der Sowjetfamilie geschieht. Alle neuen Formen, Keime solcher Formen und sogar Andeutungen derselben müssen in die Spalten der Presse kommen, zur allgemeinen Kenntnis gebracht werden, die Phantasie und das Interesse wecken und damit das kollektive Schöpfertum neuer Lebensformen vorwärts treiben. Dem Kommunistischen Jugendverband gebührt in dieser Arbeit Platz und Ehre. Nicht jeder Einfall wird sich als gelungen erweisen, nicht jedes Unterfangen Fuß fassen. Was wäre da Schlimmes daran? Die notwendige Auslese wird von selbst kommen. Das neue Leben wird jene Formen adoptieren die ihm geeignet erscheinen werden. Das Resultat davon wird sein, dass das Leben reicher, besser, geräumiger, bunter, klangvoller werden wird. Das aber ist das Wesentliche. |
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