Leo Trotzki‎ > ‎1923‎ > ‎

Leo Trotzki 19230629 Die Zeitung und ihre Leser

Leo Trotzki: Die Zeitung und ihre Leser

[Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S1. 1-16, s. auch den russischen Text]

Das Erstarken unserer Partei, nicht so sehr zahlenmäßig, als in ihrem Einfluss auf die Parteilosen, einerseits, die neue Periode der Revolution, in die wir eingetreten sind, andererseits, stellen der Partei teils ganz neue Aufgaben, teils alte Aufgaben in neuer Form – unter anderem auch auf dem Gebiete der Agitation und Propaganda. Wir müssen die Werkzeuge und Mittel unserer Propaganda einer sehr aufmerksamen und sorgfältigen Revision unterziehen. Sind sie in ihrem Umfange zureichend, d. h. erstrecken sie sich auf alle jene Fragen, die beleuchtet werden müssen? Finden sie die erforderliche, für den Leser zugängliche und ihn interessierende Form der Darstellung?

Diese Frage bildete, zusammen mit einer Reihe anderer, den Gegenstand der Besprechung in einem Kreise von 25 Moskauer Agitatoren und Massenorganisatoren. Ihre Urteile, Äußerungen und Wertungen wurden stenographisch niedergelegt. Ich hoffe dieses ganze Material für die Presse auszunutzen. Die auf dem Gebiete des Zeitungswesens tätigen Genossen werden in ihm nicht wenig Vorwürfe finden, und ich muss, offen gestanden, aussprechen, dass die Mehrzahl dieser Vorwürfe meines Erachtens berechtigt ist. Die Frage der Gestaltung unserer gedruckten Agitation und in erster Linie der Zeitungsagitation ist von zu großer Bedeutung, als dass es zulässig wäre, hier etwas zu verschweigen. Es muss alles bis aufs Letzte ausgesprochen werden.

Im Sprichwort heißt es: „Wie du dich kleidest, so wirst du empfangen …" Folglich müssen wir bei der Zeitungstechnik beginnen. Sie hat sich natürlich im Vergleich zu 1919–1920 verbessert, aber sie ist immer noch äußerst schlecht. Die vorkommenden Nachlässigkeiten bei Seitenumbruch und die Undeutlichkeit des Druckes erschweren das Lesen der Zeitungen selbst für den geläufigen Leser – um wie viel mehr nicht für den Halbanalphabeten. Zeitungen, die für den breiten Absatz unter den Arbeitern bestimmt sind, wie „Rabotschaja Moskwa" („Das Arbeitermoskau") und „Rabotschaja Gaseta" („Arbeiterzeitung")*, werden sehr schlecht gedruckt. Der Unterschied zwischen den einzelnen Exemplaren (Abzügen) ist ein sehr großer: manchmal ist die Zeitung gut gedruckt, zuweilen aber kann man nicht die Hälfte entziffern. Darum hat das Kaufen einer Zeitung eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ziehen eines Lotterieloses. Ich hole aufs Geratewohl eine der letzten Nummern der „Arbeiterzeitung" hervor, werfe einen Blick auf die „Kinderecke": „Das Märchen vom klugen Kater" … Aber es ist gänzlich unmöglich, das Märchen zu lesen, bis zu einem solchen Grade ist der Druck verwischt: und das soll auch noch für Kinder bestimmt sein! Man muss es geradeheraus sagen: Die Technik unserer Zeitungen ist eine wahre Schande für uns. Bei unserer Bettelarmut und Not auf dem Gebiete der Aufklärung bringen wir es auch noch fertig, nicht selten ein Viertel oder sogar die Hälfte eines Zeitungsbogens zu verderben, indem wir die Druckerschwärze breit schmieren. Beim Leser ruft eine solche „Zeitung" in erster Linie Gereiztheit, beim weniger entwickelten Leser Ermüdung und Apathie, beim kulturelleren und anspruchsvolleren, ein Zähneknirschen und geradezu Verachtung gegen jene hervor, die sich eine derartige Verspottung des Lesers gestatten. Irgendjemand schreibt doch diese Artikel, irgendjemand setzt sie, irgendjemand druckt sie, – und das Resultat ist, dass der Leser mit Zuhilfenahme des Fingers mit Müh und Not die Worte entziffert. Schmach und Schande! Der letzte Kongress unserer Partei hat der Frage des Druckwesens besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Und da fragt es sich nun: wie lange werden wir das alles noch dulden?

Wie du dich kleidest, so wirst du empfangen, erst wenn man dir das Geleit gibt, kommt dein Verstand zu seinem Recht." Wir sahen bereits, dass es zuweilen schwierig ist, durch das schlechte typographische Kleid hindurch dem „Verstand" auf den Grund zu kommen. Und das um so mehr, da noch die Verteilung des Zeitungsmaterials, der Seitenumbruch und die Korrektur dazwischen kommen. Machen wir nur bei der Korrektur halt, da sie bei uns besonders schlecht ist. Nicht nur in Zeitungen, sondern auch in wissenschaftlichen Zeitschriften, – besonders in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus"! – kommen bei uns nicht selten ganz ungeheuerliche Druckfehler und Entstellungen vor. Leo Tolstoi hat einmal gesagt, dass die Buchdruckerkunst ein Werkzeug zur Verbreitung der Unbildung sei. Diese herrenhaft hochmütige Behauptung ist natürlich im Grunde genommen falsch. Aber sie wird – leider! – teilweise gerechtfertigt … durch die Art der Korrektur unserer Presse. Das darf auch nicht geduldet werden! Wenn die Druckereien nicht über die erforderlichen Kader gut gebildeter, ihrer Sache sicheren Korrektoren verfügt, so müssen diese Kader bei der Arbeit vervollkommnet werden. Es sind Repetitionskurse für die heutigen Korrektoren notwendig, unter anderem auch Kurse der politischen Elementarbildung. Der Korrektor muss den Text verstehen, den er korrigiert, anderenfalls ist er kein Korrektor, sondern wider seinen Willen ein Verbreiter der Unbildung; die Presse dagegen ist, im Gegensatz zu der Behauptung Tolstois, eine Waffe der Aufklärung und muss auch eine solche sein.

Wir wollen jetzt näher auf den Inhalt der Zeitung eingehen.

Die Zeitung ist vor allem dazu da, um die Verbindung zwischen den Menschen herzustellen, indem sie ihnen mitteilt, was in der Welt geschieht. Eine schnelle, reichhaltige, interessante Information bildet also die Seele der Zeitung. Die wichtigste Rolle in der Zeitungsinformation unserer Zeit spielen Telegraph und drahtlose Telegraphie. Dann stürzt sich der an die Zeitung gewohnte und ihre Bestimmung kennende Leser vor allem auf die Telegramme. Damit aber die Telegramme, wie sie es beanspruchen dürfen, in der Sowjetzeitung die erste Stelle einnehmen, ist es notwendig, dass sie bedeutsame und interessante Tatsachen mitteilen, und zwar in einer Form, die dem Massenleser verständlich ist. Das aber gerade ist bei uns nicht der Fall. Die Telegramme unserer Zeitungen werden in Ausdrücken aufgesetzt und gedruckt, wie sie in der „großen" bürgerlichen Presse üblich sind. Wenn man Tag für Tag die Telegramme in einigen unserer Zeitungen verfolgt (wir wollen die betreffenden Zeitungen nicht beim Namen nennen), so hat man den Eindruck, dass die Genossen, die die Leitung dieser Abteilung in Händen haben, wenn sie neue Telegramme in den Satz geben, sich gar nicht mehr entsinnen, was sie am Tage vorher in den Satz gegeben haben. Es besteht kein fortlaufender Zusammenhang von einem Tag zum anderen. Jedes Telegramm sieht wie ein zufälliges Bruchstück aus. Die Erläuterungen zu den Telegrammen tragen zufälligen und zum größten Teil nicht durchdachten Charakter. Wenn es hoch kommt, setzt der Redakteur neben den Namen irgendwelcher ausländischen bürgerlichen Politiker in Klammern die Kürzungen „lib." oder „kons.". Das soll bedeuten, dass der Betreffende ein Liberaler oder ein Konservativer ist. Da aber drei Viertel der Leserschaft diese redaktionellen Kürzungen nicht verstehen, so werden sie durch diese Erläuterungen nur noch mehr verwirrt. So gehen bei uns z. B. Telegramme, die von bulgarischen und rumänischen Ereignissen Mitteilung machen, gewöhnlich über Wien, Berlin, Warschau. Die Namen dieser Städte, die an der Spitze der Telegramme stehen, verwirren vollständig den Massenleser, der auch ohnehin schon in der Geographie schwach ist. Warum führe ich diese Einzelheiten an? Aus dem Grunde, weil sie am besten zeigen, wie wenig wir bei der Fertigstellung unserer Zeitungen uns in die Lage der untersten Leserschichten, in ihre Bedürfnisse, in ihre Hilflosigkeit hineindenken. Die Bearbeitung der Telegramme ist in einer Arbeiterzeitung die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe. Sie erfordert aufmerksame und mühevolle Arbeit. Ein wichtiges Telegramm muss in jeder Richtung überlegt werden, es muss ihm eine solche Form verliehen werden, dass es sich unmittelbar an das anschließt, was die Lesermasse schon mehr oder weniger weiß. Die notwendigen Erläuterungen müssen den Telegrammen vorausgeschickt und diese letzteren zu Gruppen vereinigt oder miteinander verschmolzen werden. Was für einen Sinn hat eine Überschrift von zwei, drei oder mehr Zeilen in fetter Schrift, wenn sie nur wiederholt, was im Telegramm selbst schon gesagt ist? Diese Überschriften verwirren den Leser nur durch die Bank. Die einfache Mitteilung über einen zweitwichtigen Streik wird nicht selten mit den Worten überschrieben: „Es ist losgegangen" … oder „Die Lösung naht heran", – während in dem Telegramm selbst unklar von einer Eisenbahnerbewegung, ohne Angabe ihrer Ursachen und Ziele die Rede ist. Am nächsten Tag wird dieses Ereignis mit keinem einzigen Wort erwähnt, desgleichen am übernächsten. Wenn der Leser das nächste Mal über einem Telegramm die Überschrift: „Es ist losgegangen …" findet, so erblickt er darin bereits ein nicht ernst zu nehmendes Verhalten zur Sache, eine billige Zeitungsrenommisterei, und sein Interesse für Telegramme und Zeitungen erlischt. Wenn aber der Chef der Telegrammabteilung fest im Gedächtnis hält, was er gestern und vorgestern drucken ließ, und bemüht ist, den Zusammenhang der Ereignisse und Tatsachen selbst zu verstehen und diesen Zusammenhang dem Leser klar zu machen, so bekommt diese telegraphische Information, selbst wenn sie sehr unvollkommen ist, eine unermessliche erzieherische Bedeutung. Im Kopfe des Lesers sammeln sich allmählich solide tatsächliche Kenntnisse an. Es wird für ihn immer leichter und leichter, neue Tatsachen zu verstehen, und er lernt in der Zeitung in erster Linie die wichtigste Information suchen und finden. Ein Leser, der dies lernt, legt damit einen sehr großen Schritt auf dem Wege seiner kulturellen Entwicklung zurück. Unsere Redaktionen müssen die allergrößte Sorgfalt auf die Abteilung der telegraphischen Informationen verwenden und es erreichen, dass diese in der gebührenden Weise ausgestaltet wird. Nur auf diesem Wege – durch Ausübung eines Druckes und durch das Vorbild der Zeitungen selbst – kann man auch die Korrespondenten der „Rosta" (Russische Telegraphenagentur) allmählich erziehen.

Einmal wöchentlich, am besten natürlich in der Sonntagsnummer, d. h. an dem Tage, an dem der Arbeiter frei ist, sollten zusammenfassende Übersichten der wichtigsten Ereignisse der Woche gegeben werden. Nebenbei bemerkt, wäre eine solche Arbeit ein vortreffliches Erziehungsmittel für die Abteilungschefs der Zeitungen. So würden sie lernen, den Zusammenhängen der einzelnen Ereignisse sorgfältiger nachzugehen, und das würde wiederum eine günstige Rückwirkung auf die tagtägliche Führung der entsprechenden Abteilung ausüben.

Das Verstehen einer internationalen Zeitungsinformation ist undenkbar ohne wenigstens die grundlegendsten geographischen Kenntnisse. Die zuweilen von den Zeitungen gegebenen kleinen geographischen Schemas nützen dem Leser – selbst in jenen Fällen, wo man sie entziffern kann – wenig, wenn ihm die allgemeine Verteilung der Weltteile und Staaten unbekannt ist. Die Landkartenfrage ist unter unseren Verhältnissen, d. h. unter den Verhältnissen der imperialistischen Einkreisung und des Herannahens der Weltrevolution, eine sehr wichtige Frage der öffentlichen Erziehung. In allen oder wenigstens den wichtigsten Räumen, in denen wir Vorlesungen oder Versammlungen veranstalten, sollten speziell für diesen Zweck hergestellte Landkarten mit scharf umrissenen Staatsgrenzen und anderen anschaulichen Angaben über die ökonomische und politische Entwicklung hängen. Vielleicht sollte man auch derartige schematische Karten – nach dem Vorbild der Epoche des Bürgerkrieges – auf einigen Straßen und Plätzen aufstellen. Die Mittel hierfür würden sich sicher finden. Bei uns wurde im Laufe des letzten Jahres aus allen möglichen Anlässen eine unermessliche Anzahl von Fahnen hergestellt. Wäre es nicht besser, für dieses Geld die Fabriken und Werke und dann auch die Dörfer mit politischen Landkarten zu versorgen? … Jeder Vortragende, Redner, Propagandist usw. würde, wenn er England und seine Kolonien nennt, diese sofort auf der Karte zeigen. Ebenso würde er das Ruhrgebiet zeigen. Vor allem wäre dies für den Redner von Nutzen: Er würde ein klareres und festeres Wissen über das haben, wovon er spricht, da er sich selbst vorher über die geographische Lage informieren würde. Die Zuhörer dagegen würden, wenn die Frage selbst sie interessiert, sich unbedingt merken, was ihnen gezeigt worden ist, – wenn nicht gleich nach dem ersten Mal, so nach dem fünften oder zehnten. Von dem Augenblick an aber, wo für den Leser die Worte Ruhr, London, Indien aufhören, bloß leerer Schall zu sein, beginnt er sich ganz anders zu den Telegrammen zu verhalten. Es bereitet ihm bereits Vergnügen, Indien in der Zeitung erwähnt zu finden, von dem er nun schon weiß, wo es liegt. Er steht bereits fester auf den Füßen, prägt sich die Telegramme und politischen Artikel fester ein. Er wird und fühlt sich kultureller. Die instruktiven geographischen Karten werden auf diese Weise zu einem erstklassigen Element der politisch-öffentlichen Erziehung. Der Staatsverlag sollte sich ernsthaft mit dieser Frage befassen.

Doch kehren wir zu der Zeitung zurück. Dieselben Sünden, auf die wir auf dem Gebiete der internationalen Information hinwiesen, lassen sich im allgemeinen auch hinsichtlich der inländischen Information, im besonderen über die Tätigkeit der Sowjet-, Gewerkschafts-, Kooperativ- und anderen Institutionen beobachten. Das unaufmerksame, nachlässige, oberflächliche Verhalten gegenüber dem Leser kommt auch hier nicht selten in „Kleinigkeiten" zum Ausdruck, die jedoch von der Art sind, dass sie der ganzen Sache schaden. Die Sowjet- und anderen Institutionen haben bei uns gekürzte Namen und werden zuweilen nur mit den Anfangsbuchstaben bezeichnet. Innerhalb der Institutionen selbst oder der mit ihnen in Verbindung stehenden Institutionen ergeben sich hieraus gewisse Bequemlichkeiten in Bezug auf Zeit- und Papierersparnis. Aber die breite Lesermasse kann sich in diesen konventionellen Abkürzungen nicht auskennen. Indessen werfen unsere Journalisten, Reporter, Chronisten, jonglierenden Clowns gleich, mit allen möglichen unverständlichen Sowjetwörtern nur so um sich. Da ist z. B. an einer auffälligen Stelle einer Zeitung ein Gespräch mit einem Genossen namens so und so, „Vorsitzender der K.W.A.", abgedruckt. In dem Artikel werden diese Buchstaben Dutzende von Malen ohne Erklärung wiederholt. Man muss ein gewitzigter Sowjetbürokrat sein, um zu erraten, dass es sich um die „Kommunal-Wirtschafts-Abteilung" handelt. Der Massenleser aber wird das niemals erraten und wird natürlich achtlos an der Notiz vorübergehen, ja vielleicht die ganze Zeitung ärgerlich beiseite legen. Unsere auf dem Gebiete des Zeitungswesens tätigen Genossen sollten es sich fest einprägen, dass Kürzungen und konventionelle Bezeichnungen nur innerhalb der Grenzen zulässig sind, in denen sie unbedingt verständlich sind; dort dagegen, wo sie die Leute nur verwirren, ist es unverantwortlich und unsinnig, sie anzuwenden.

Die Zeitung soll, wie wir bereits oben sagten, in erster Linie gut informieren (unterrichten). Sie kann nur durch eine gute, interessante, richtig gestaltete Information belehrend wirken. Vor allem muss man die Tatsachen deutlich, verständlich und markant darlegen: das Wo, Was und Wie. Bei uns aber nimmt man nicht selten an, dass die Ereignisse und Tatsachen schon an und für sich dem Leser bekannt oder aus einer kurzen Andeutung verständlich, oder dass sie überhaupt bedeutungslos sind, und dass die Aufgabe der Zeitung darin bestehe, „aus Anlass" dieser Tatsache (die dem Leser unbekannt oder unverständlich ist) einen Schwall von belehrenden Dingen vorzubringen, die schon längst allen bis zum Überdruss bekannt sind. Das geschieht nicht selten auch aus dem Grunde, weil der Verfasser des Artikels oder der Notiz selbst nicht immer genau Bescheid weiß und, um es offen zu sagen, zu faul ist, sich zu erkundigen, die Dinge nachzuprüfen, etwas zu lesen, sich telefonisch zu erkundigen. Darum versucht er um den Kern der Sache herumzugehen und erzählt „aus Anlass" dieser Tatsache, dass die Bourgeoisie – Bourgeoisie und das Proletariat – Proletariat ist. Ihr Kollegen von der Zeitung, der Leser fleht euch an, ihn nicht zu instruieren, nicht zu belehren, nicht an ihn zu appellieren, ihn nicht aufzumuntern, sondern ihm klar und verständlich zu erzählen und zu erklären, worum es sich eigentlich handelt! Belehrungen und Appelle werden hieraus ganz von selbst resultieren.

Der Schriftsteller, im Besonderen der Zeitungsschriftsteller, muss nicht von sich, sondern vom Leser ausgehen. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied, und er kommt in der Gestaltung jedes einzelnen Artikels und der Nummer als Ganzes zum Ausdruck.

In dem einen Falle präsentiert der Schriftsteller (der ungeschickte, seine Aufgabe nicht verstehende Schriftsteller) dem Leser einfach sich selbst, seine Ansichten, Gedanken und nicht selten – nur seine Phrasen. Im anderen Falle führt der Schriftsteller, der seine Aufgabe richtig anfasst, den Leser zu den notwendigen Schlussfolgerungen, indem er hierfür die tägliche Lebenserfahrung der Massen benützt. Ich will meine Gedanken an einem Beispiel erläutern, das in der Besprechung der Moskauer Agitatoren angeführt wurde. In diesem Jahre wütet bei uns, wie bekannt, eine sehr heftige Malariaepidemie. Während unsere alten, traditionellen Epidemien: Typhus, Cholera usw. im Laufe der letzten Zeit außerordentlich zurückgegangen sind und im Vergleich zur Vorkriegszeit sogar abgenommen haben, hat die Malaria noch nie dagewesene Ausmaße angenommen. Ganze Städte, Rayons, Fabriken usw. sind von ihr erfasst worden. Durch ihr plötzliches Auftreten, ihre Ebben und Fluten, die Periodizität (Regelmäßigkeit) ihrer Anfälle, wirkt die Malaria nicht nur auf die Gesundheit, sondern auch auf die Einbildungskraft. Es wird über sie geredet, über sie nachgedacht, und sie bereitet im gleichen Masse den Boden sowohl für den Aberglauben als auch für die wissenschaftliche Propaganda vor. Aber unsere gesamte Presse interessierte und interessiert sich zu wenig für diese Tatsache. Indessen war das Erscheinen jedes Artikels über die Malaria, wie die Moskauer Genossen erzählten, Gegenstand des lebhaftesten Interesses: die Zeitungsnummer ging von Hand zu Hand, der Artikel wurde vorgelesen usw. Es ist ganz klar, dass unsere Presse, sich nicht auf die sanitär-propagandistische Tätigkeit des Volkskommissariats für Gesundheitswesen beschränkend, aus diesem Anlass eine umfassende selbständige Tätigkeit entfalten muss. Es muss mit der Darstellung des Verlaufes der Epidemie selbst, der Aufzählung der Rayons ihrer Verbreitung, der von ihr besonders heimgesuchten Fabriken, Werke usw. begonnen werden. Schon allein dadurch wird eine lebendige Verbindung mit den rückständigsten Massen hergestellt, indem man ihnen zeigt, dass man um ihre Existenz weiß, sich für sie interessiert und dass sie nicht vergessen sind. Ferner muss die Malaria vom naturwissenschaftlichen und sozialen Gesichtspunkt beleuchtet werden, es muss ihre Verbreitung im Zusammenhang mit bestimmten Lebens- und Produktionsbedingungen festgestellt werden; dies muss an Dutzenden von Beispielen gezeigt werden, die von den entsprechenden Staatsorganen durchgeführten Maßnahmen müssen richtig beleuchtet werden, es müssen die richtigen Ratschläge erteilt, von Nummer zu Nummer nachdrücklich wiederholt werden usw. Auf dieser konkreten Grundlage kann und muss die Propaganda z. B. gegen die religiösen Vorurteile entfaltet werden. Wenn Epidemien, wie überhaupt Krankheiten, eine Strafe für unsere Sünden wären, warum verbreitet sieh dann die Malaria innerhalb der einen Produktionszweige mehr als innerhalb der anderen, in feuchten Gegenden stärker und in trockenen schwächer? Eine auf Tatsachen beruhende Verbreitungskarte der Malaria mit den notwendigen sachlichen Erläuterungen wäre eine vortreffliche Waffe der antireligiösen Propaganda. Die Wirkungskraft dieser Waffe ist umso wuchtiger, wenn die Frage gleichzeitig breite Kreise von Werktätigen, und zwar sehr akut beschäftigt.

Die Zeitung hat kein Recht, sich nicht für das zu interessieren, wofür sich die Masse, der Arbeiter auf der Straße, interessiert. Selbstverständlich kann und muss unsere Zeitung die Tatsachen von sich aus beleuchten, denn sie ist dazu berufen, zu erziehen, zu heben, zu entwickeln. Aber sie wird ihr Ziel nur in dem Falle erreichen, wenn sie von Tatsachen, Gedanken und Stimmungen ausgehen wird, die den Massenleser bei der Seele packen.

Es unterliegt z. B. keinem Zweifel, dass Gerichtsprozesse und so genannte „Ereignisse": Unglücksfälle, Selbstmorde, Morde, Eifersuchtsdramen usw. das Denken und Fühlen breiter Bevölkerungskreise außerordentlich erregen. Und es ist auch nicht zu verwundern: das alles sind grelle Ausschnitte aus dem lebendigen Leben. Dabei legt unsere Presse für dies alles in der Regel außerordentlich wenig Aufmerksamkeit an den Tag und bringt bestenfalls nur einige Zeilen in Petit (Kleindruck). Die Folge davon ist, dass die Straße ihre Information aus weniger guten Quellen bezieht und zusammen mit der Information eine Beleuchtung von Tatsachen von schlechter Qualität erhält. Ein Familiendrama, ein Selbstmord, ein Mord, ein Prozess mit einem harten Urteil, packen die Einbildungskraft und werden sie packen. „Der Prozess Komarow hat für eine Zeitlang sogar Curzon in den Schatten gestellt", schreiben Genossin Lagutina und Genosse Kasanski (Tabakfabrik „Roter Stern"). Unsere Presse muss allen solchen Tatsachen die größte Aufmerksamkeit widmen: sie schildern, beleuchten und erklären. Man muss an die Dinge sowohl von der psychologischen als auch von der alltäglichen und sozialen Seite herantreten. Dutzende und Hunderte abstrakter Artikel, die „offizielle" Gemeinplätze über die Bürgerlichkeit der Bourgeoisie oder über den Stumpfsinn der kleinbürgerlichen Familienordnung wiederholen, finden im Bewusstsein des Lesers keinen Widerhall – ähnlich wie ein gewohnter und langweiliger Herbstregen. Aber ein geschickt wiedergegebener und in einer Reihe von Artikeln beleuchteter Gerichtsprozess, der aus einen Familiendrama hervorgegangen ist, kann Tausende von Lesern packen und in ihnen neue, frischere und umfassendere Gedanken und Gefühle wecken. Hiernach würden vielleicht einige unter den Lesern gern einen allgemeinen Artikel über das Thema „Familie" lesen. Die gelbe bürgerliche Presse macht aus Morden und Vergiftungen einen Gegenstand gewinnsüchtiger Sensation, indem sie auf die ungesunde Neugierde und überhaupt die schlechten Instinkte der Menschen spekuliert. Hieraus folgt aber durchaus noch nicht, dass man einfach der Neugierde des Menschen und überhaupt seinen Instinkten den Rücken kehren soll. Das wäre reinste Heuchelei und Scheinheiligkeit. Wir sind die Partei der Massen, wir sind der revolutionäre Staat, keinesfalls aber ein geistlicher Orden und auch kein Kloster. Unsere Zeitungen müssen nicht nur die Wissbegierde höheren Typs, sondern auch die natürliche Neugierde befriedigen; es ist nur notwendig, dass sie diese hierbei heben und sie durch entsprechende Auswahl des Materials und Beleuchtung der Frage veredeln. Solche Artikel und Notizen werden überall und allenthalben sehr viel gelesen. In der Sowjetpresse aber fehlen sie fast gänzlich. Man wird mir sagen, dass es hierzu an den erforderlichen literarischen Kräften fehle. Das trifft nur teilweise zu. Diese Arbeitskräfte entstehen, wenn die Aufgabe richtig und deutlich gestellt ist. Vor allem muss unsere Aufmerksamkeit eine ernsthafte Schwenkung machen. Eine Schwenkung in welcher Richtung? In der Richtung zum Leser, zum lebendigen Leser, so wie er ist, dem von der Revolution geweckten, aber ungebildeten, wenig kulturellen Massenleser, der vieles zu lernen bestrebt ist, aber durch die Bank hilflos ist und in einer niederen Sphäre ein lebendiger Mensch bleibt, dem nichts Menschliches fremd ist. Dieser Leser verlangt nachdrücklichst Aufmerksamkeit für sich selbst, obwohl er dies nicht immer auszudrücken versteht. Doch haben die 25 Agitatoren und Massenorganisatoren des Moskauer Komitees unserer Partei dies vortrefflich für ihn zum Ausdruck gebracht. Ich habe hier nur einen Teil von dem dargelegt, was diese gesagt haben – vorläufig nur einen geringen Teil.

* Nebenbei bemerkt: warum wird die „Arbeiterzeitung" nicht der Länge nach, sondern quer gefaltet? Wenn das auch vielleicht für irgendjemanden bequem sein mag, so doch keines falls für den Leser.
Kommentare