Leo Trotzki: Die „Nep" [Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 30 (16. Februar 1923), S. 223 f.] Für ein Buch der amerikanischen Schriftstellerin Anna Louise Strong, über Sowjetrussland, schrieb Genosse Trotzki nachstehendes Vorwort. Weder das Buch, noch die Verfasserin waren uns bisher bekannt. Wir glauben aber, dass die einleitenden Zeilen des Genossen Trotzki unsere Leser auch trotzdem interessieren werden. Die Redaktion. Über die Oktoberrevolution und über Sowjetrussland gibt es schon eine große Literatur. Wie es der Charakter der revolutionären Epoche selbst mit sich bringt, schildert jedes neue Buch mit Wohlwollen oder Feindseligkeit irgend eine neue Etappe im schnellen Laufe der revolutionären Entwicklung. Es gibt viele Bücher, die unserm Bürgerkrieg gewidmet sind. Einige dieser Bücher schildern unsere Grausamkeit und unseren Blutdurst. Andere dagegen beschreiben die Heldenhaftigkeit unseres Arbeitervortrupps, die unvergessliche Selbstverleugnung der russischen Arbeiter im Kampfe um neue große Ziele. Der Umfang des revolutionären Kampfes und seine großen Opfer gewannen der Sache der russischen Revolution nicht nur die Sympathie der arbeitenden Massen der ganzen Welt, sondern auch die Sympathien des besten Teiles der Intelligenz. Es muss allerdings bemerkt werden, dass die Sympathie dieses Teiles der Intelligenz sich nicht immer standhaft erwies. Es kam öfter vor, dass dieselben Personen oder Gruppen aus den Reihen der Intelligenz, die die Revolution anerkannt haben, sich über deren Grausamkeit und zerstörenden Einfluss auf die Kultur beklagten und sich nicht nur erbittert, sondern auch fast beleidigt fühlten, als die Revolution zur hartnäckigen und kleinlichen Aufbauarbeit des Alltags überging: von den Gipfeln der tragischen Poesie sind sie in die prosaischen Täler der neuen Wirtschaftspolitik (Nep) herab gepurzelt. Das Schlimme ist, dass die ethisch-ästhetischen Kriterien, deren sich ein großer – und nicht der minderwertigste – Teil der Intelligenz bedient, zur Bewertung der großen historischen Ereignisse vollkommen ungeeignet sind. Die Geschichte folgt nicht den Regeln der Moral oder der Schönheit. Sie folgt der Logik ihrer inneren Kräfte, der Logik der Klassen und der, der ganzen Gesellschaft zugrunde liegenden materiellen Ursachen. Die Ethik und die Ästhetik sind Erscheinungen zweiten und dritten Grades. Eine neue Klasse, die in einem verzweifelten! Kampfe um ein neues historisches Regime kämpft, schafft damit zugleich die Grundlage einer neuen Ethik und einer neuen Ästhetik. O weh, o weh! schreien einige erbitterte „Freunde" – in Russland herrscht heute unumschränkt der Zar „Nep". Wo ist das tragische und blutbegossene Russland der Jahre 1918-20?! Die Verfasserin dieses Buches, Anna Louise Strong, gehört nicht zu dieser Sorte unserer Freunde. Sie ging an die Revolution nicht von ihrer ästhetischen und überhaupt nicht von ihrer äußeren Seite heran. Unter der „Prosa" der „Nep", wie auch unter den dramatischen Erscheinungen des Bürgerkrieges erblickte sie – oder fühlte sie vielleicht nur – in der ersten Zeit den angestrengtesten, hartnäckigen, unversöhnlichen Kampf gegen das jahrhundertelange Sklaventum, gegen die Unbildung, gegen die Barbarei, um neue, höhere Lebensformen Als das Wolga-Gebiet von der schwersten Katastrophe heimgesucht war, kam Frau Strong nach Russland, um an dem schweren und gefährlichen Kampfe gegen den Hunger und gegen die Epidemien teilzunehmen. Sie selbst erkrankte auch am Typhus. In ihren vielen Artikeln und Korrespondenzen in der amerikanischen Presse schlug sie unermüdlich Breschen in jene Mauer der revolutionären Lügen, die den wichtigsten Bestandteil der imperialistischen Blockade um die Revolution bildete. Das bedeutet nicht, dass Frau Strong die dunkle Seite der Tatsachen verschwieg; aber sie trachtete, zu verstehen, und anderen zu erklären, wie diese Tatsachen aus der Vergangenheit herauswuchsen im Kampfe mit der Zukunft. Dank dieser Auffassung – der einzig richtigen und gerechten – betrachtet Frau Strong die „Nep" nicht als eine grobe Prosa oder als eine Liquidierung der Revolution, sondern als ihre notwendige Etappe. Jene, die an allen Fronten des Bürgerkrieges kämpften – natürlich mit Ausnahme von jenen Zehntausenden, die dem französischen, englischen und amerikanischen Imperialismus zum Opfer fielen – arbeiten jetzt im Namen derselben Ziele, mit derselben Energie, mit derselben vollständigen Selbstverleugnung am wirtschaftlichen Aufbau des Landes. Die Schwierigkeiten, die sie zu überwinden haben, sind unsäglich groß. Die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit unseres Landes ist über alle Maßen groß. Aber das Verständnis der eigenen Rückständigkeit, wenn es breiten Volksmassen zu eigen wird, ist selbst eine der stärksten Kulturwerte. Und diese Kraft, die die Revolution erweckt hat, ist bei uns vorhanden, und wir bauen auf sie. Unsere Aufbauarbeit ist oft fehlerhaft, oft ungeschickt, aber geschichtlich unbesiegbar. |
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