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Leo Trotzki 19230405 Die Beziehungen zwischen Proletariat und Bauerntum in Russland

Leo Trotzki: Die Beziehungen zwischen Proletariat und Bauerntum in Russland

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 69 (23. April 1923), S. 568]

Die folgenden Stellen entnehmen wir der bedeutsamen Rede, die Genosse Trotzki auf der Tagung der Kommunisten der Ukraine gehalten hat. Die Red. [der Internationalen Presse-Korrespondenz]

Das europäische Proletariat, das sich 1918 und 1919 spontan auf die Bourgeoisie stürzte, beginnt in seinen großen Massen sich, zu fragen, was ihm noch fehlt um die Macht zu erobern und die soziale Umgestaltung durchzuführen. Zwei Tatsachen sind vorhanden, die entgegengesetzt wirken: Die Bourgeoisie fühlt sich politisch gestärkt, und die Arbeiterklasse hat eine Rückzugsbewegung hinter sich, wie sie im Laufe der letzten 3 Jahre vollzogen wurde. Das sind beides Tatsachen von größter Bedeutung. Marx hat uns gelehrt, dass eine Klasse nicht immer weiß, was sie ist. Eine Klasse kann durch ihre Stellung in der Produktion mächtig sein und es gar nicht wissen. Eine Klasse kann aber auch die Hälfte oder dreiviertel ihrer wirtschaftlichen Macht verloren haben und sich trotzdem behaupten, durch ihre Erfahrung, durch die Untätigkeit der anderen und durch ihre gewöhnlichen Regierungsmethoden. Das ist die Lage, die wir gegenwärtig in Europa feststellen. Nach den Erfahrungen von 1918 und 1919 hält die Bourgeoisie sich für viel stärker, als sie in Wirklichkeit ist, denn sie kann das Wirtschaftsleben nicht wieder herstellen: der Niedergang des Kapitalismus dauert fort; denn die besitzenden Klassen haben keine andern Methoden zur Verfügung als Gewalt, Eroberung Zerstörung. Siehe das Ruhrgebiet. Eine Klasse, die die Produktion nicht leiten kann, ist aber zum Untergang verurteilt. Das Proletariat dagegen hält sich nach den Erfahrungen von 1918/19 in seiner erdrückenden Mehrheit für viel schwächer, als es in Wirklichkeit ist. Wie Russland die Periode der scheinbaren Stärke der Autokratie, die durch Stolypin verkörpert wurde, durchmachte, bevor es zu der Kerenski-Periode kam, so hat heute das bürgerliche Europa ähnliche Illusionen. Hier liegt der Schlüssel der Situation: Im Unterschied zwischen der objektiven Kraft der Klassen und dem Bewusstsein, das sie selbst davon haben. Die Ereignisse, die sich in Europa vollziehen, können die offizielle Politik der Staaten nach rechts orientieren zu dem imperialistischen Monopol einiger extremer Cliquen der Bourgeoisie. Aber diese Bewegung wird den Abgrund zwischen Bourgeoisie und Proletariat vertiefen, zwischen dem bürgerlichen Staat und den elementaren grundlegenden Bedürfnissen des Wirtschaftslebens der Nationen, und so wird die unvermeidliche revolutionäre Katastrophe vorbereitet. Diese Katastrophe nähert sich im Westen wie im Orient freilich langsamer, das ist wahr, als wir es 1918 erhofften. Die Zeit spielt in der Politik eine ungeheure Rolle. Die rückständigen Völker Asiens so gut, wie das fortgeschrittene Proletariat Europas brauchen mehr Zeit zur Vorbereitung der Revolutionen, als wir es glaubten. Daher erklärt sich die Notwendigkeit unsere Aufgaben und unsere Methoden zu revidieren, wie wir es auf dem 10. Parteitag der KPR und auf dem 3. Kongress der Kommunistischen Internationale getan haben.

Wenn wir also in Russland in nächster Zeit die Hilfe der französischen und deutschen Technik nicht haben werden, so müssen wir die allergrößte Aufmerksamkeit den Verhältnissen der Kräfte in unserem eigenen Land zuwenden, dem Zustand der Landwirtschaft und der Leistungsfähigkeit des Bauern. So erklärt sich die neue Wirtschaftspolitik. Veranlasst uns das abgelaufene Jahr, sie zu revidieren? Nein! Die Umgruppierung der Kräfte, die mit der Niederlage der italienischen Arbeiter im Jahre 1919 begann, die sich 1920 mit unserem Rückzug von Warschau sowie 1921 mit der Niederlage der vorzeitigen Offensive des deutschen Proletariats fortsetzte – diese Umgruppierung der Kräfte, die den ersten spontanen Vorstoß der Revolution beendigte, hat sich noch nicht verändert. Wir haben oft mit einem Wort Lenins die Periode, die auf den Kriegskommunismus folgt, einen Waffenstillstand genannt, Dieser Waffenstillstand, von dem wir meinten, er würde kurz sein, scheint sich aber zu einer historischen Pause auszuwachsen. Wir wissen noch nicht ob Monate oder Jahre vergehen werden, bevor sie beendigt ist. Wenn ich prophezeien sollte, wie lange es noch dauern wird, so wurde ich sagen, wenn es sich um Monate handelt, so werden es wahrscheinlich noch viele sein. Wenn es sich um Jahre handelt, werden es wahrscheinlich viel weniger sein, aber unzweifelhaft handelt es sich nicht um eine einfache Atempause, sondern um eine historische Epoche.

Wir werden noch eine lange Reise in unserm armen russischen Bauernwagen zurücklegen müssen. Ist er in gutem Zustand, wird er ganz bleiben? Das ist die entscheidende Frage.

Werden unsere Hilfsmittel und unsere Methoden während dieser Epoche standhalten? Prüfen wir zunächst die Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernklasse. Sie enthalten auch die Frage der Produktion, denn unsere Industrie beruht auf unserer Landwirtschaft. Prüfen wir ferner die Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und den früher unterdrückten Nationalitäten. Das ist in Wahrheit nur eine Frage, die aus der ersten abgeleitet ist. Dann sind zu prüfen die Beziehungen zwischen der Partei und der Arbeiterklasse, und endlich zwischen der Partei und dem Staatsmechanismus, der bei uns außerordentlich unvollkommen ist. Aber in Wirklichkeit hängt alles vollkommen ab von den Beziehungen zwischen Proletariat und Bauerntum. Wenn, die Epoche der Nep länger dauert, so ergibt sich daraus, dass ihre Gefahren zunehmen, und dass die Probleme noch bessere Lösungen erfordern. Wir dürfen künftig nicht von neuen Schutzmaßregeln gegen mögliche Gefahren sprechen, sondern von der Regulierung und Systematisierung der Methoden, die zur Lösung der Schwierigkeiten der Epoche beitragen.

In seinen letzten Artikeln über die Arbeiterinspektion hat Lenin die Aufgabe folgendermaßen zusammengefasst: „Geht vorwärts, aber nicht übereilt, erinnert Euch, dass in der neuen Weltperiode, bei der Nep im Innern, unsere Industrie und der Staat keine andere Stütze haben, als unsere rückständige Landwirtschaft, von der man nur eine beschränkte Unterstützung fordern kann! Was für eine Unterstützung? Man muss das ganz genau erwägen, Solche Genossen, die – wie Larin – meinen, dass wir von den Bauernmassen zu wenig verlangen, irren sich bestimmt. Wir dürfen von dem Bauern nicht mehr verlangen, als uns er in Wirklichkeit geben kann. Wir müssen dafür sorgen, dass das folgende Jahr reicher wird als dieses Jahr. Das ist eine Formel, die er verstehen wird und die deshalb zur Grundlage unserer inneren Politik werden muss. Sie ist völlig verschieden von der Formel des Kriegskommunismus. Wir forderten damals von dem Bauern den gesamten Überschuss über seinen notwendigen Bedarf; aber ohne Überschuss kann kein Betrieb sich halten, sondern er bricht zusammen. Heute sagen wir dem Bauern: ein Überschuss ist unerlässlich zur Verbesserung Deines Betriebes, behalte ihn, denn ohne Hebung der Landwirtschaft werden wir keine Hebung der Industrie haben. Hier wollen wir als Vermittler wirken? Wir wollen unbedingt, dass das Proletariat sich mit der Bauernschaft verständigt. So ist die Frage nach der Größe der Steuer im Prinzip gelöst Es bleibt die Frage nach der Art der Steuereintreibung. Der Landwirt lebt mit den Jahreszeiten. Seine Arbeit muss genau vorher zu berechnen und vorher zu bestimmen sein. Wenn er sich aber gegenüber einer unberechenbaren, komplizierten Steuerpolitik sieht, dann leidet er darunter. Man muss also zur Vereinheitlichung all der verschiedenen Steuern und Abgaben kommen. Man muss die Steuer für den Bauern verständlich und leicht bezahlbar machen, man muss es ermöglichen, dass die Naturalsteuer auch in Geld bezahlt werden kann.

Unsere Steuerpolitik ist einer der wichtigsten Teile in den Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft Aber an diese Frage schließt sich die Frage der Ausfuhr an. Wenn wir dann einig sind, dass wir dem Bauern den Überschuss seiner Produktion lassen müssen, so müssen wir ihm auch die Möglichkeit lassen, den Überschuss abzusetzen. Das geht nicht nur auf dem inneren Markt, denn hier herrscht ein ungeheures Missverhältnis zwischen den Preisen der Landwirtschaftsprodukte und denen der Industrie. Das ist nicht so sehr eine Folge des Zustandes unserer Industrie, sondern vielmehr eine Folge der Isolierung unserer Landwirtschaft vom Weltmarkt. Man muss also dem Bauern die Möglichkeit geben, einen Teil seiner Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Zwischen unserem Bauern und dem fremden Markt darf kein Spekulant stehen, der Sowjetstaat wird die Vermittlerrolle zu spielen haben. Die Vereinfachung und Regulierung unserer Steuerpolitik wird die Ausfuhr des russischen Getreides fördern. Das Monopol des Außenhandels, diese unbedingte Voraussetzung der proletarischen Diktatur, gibt uns die Möglichkeit, die Getreideausfuhr nach einheitlichem Plan zu regeln. Man kann nicht nach den zufälligen Umständen einkaufen und verkaufen. Unser Außenhandel muss sich der Entwickelung unserer Landwirtschaft anpassen und die wachsenden Möglichkeiten der Getreideausfuhr berücksichtigen, aber ebenso der Notwendigkeit des Schutzes unserer Industrie Rechnung tragen. Wir sind unbedingt für einen sozialistischen Protektionismus (Schutzzollsystem), ohne den das fremde Kapital unsere Wirtschaft ausplündern würde.

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