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Leo Trotzki 19231210 Der neue Kurs

Leo Trotzki: Der neue Kurs

Brief des Genossen Trotzki an die erweiterte Sitzung des ZK der RKP

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jahrgang Nr. 8 (21. Januar 1924), S. 69-71]

Moskau, 8. Dezember 1923.

Werte Genossen!

Ich habe fest darauf gerechnet, dass ich, wenn nicht heute, so doch morgen an der Debatte über die innerparteiliche Lage und die neuen Aufgaben teilzunehmen vermag. Meine Erkrankung kam dieses Mal aber mehr als je unzeitgemäß und erwies sich von längerer Dauer, als die Ärzte anfänglich glaubten. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Gedanken in dem gegenwärtigen Briefe auszusprechen.

Die Resolution des Politischen Büros über die Frage des Parteiausbaues besitzt eine außerordentliche Bedeutung. Sie deutet an, dass die Partei an einem ernsten Wendepunkte auf ihrem geschichtlichen Wege angelangt ist. An Wendepunkten bedarf es, wie in vielen Versammlungen richtig hervorgehoben wurde, der Vorsicht, aber neben der Vorsicht auch der Festigkeit und der Entschlossenheit. Eine abwartende Haltung, eine Unentschiedenheit an den Wendepunkten wäre die schlechteste Sorte von Unvorsichtigkeit.

Einige konservativ veranlagte Genossen, die die Neigung verraten, die Rolle des Apparats zu überschätzen und die Eigentätigkeit der Partei zu unterschätzen, äußern sich kritisch über die Resolution des Politischen Büros. Sie sagen: Die Zentrale nimmt unerfüllbare Verpflichtungen auf sich; die Resolution würde lediglich falsche Illusionen erwecken und zu negativen Ergebnissen führen.

Es ist klar, dass diese Art, an die Sache heranzutreten, durch und durch von bürokratischem Misstrauen zur Partei eingegeben ist. Der neue Kurs, den die Resolution der Zentrale verkündet, besteht gerade darin, dass das Schwergewicht, das unter dem alten Kurse fälschlicherweise nach der Seite des Apparats hin verschoben wurde, jetzt, unter dem neuen Kurse, nach der Seite der Aktivität, der kritischen Eigentätigkeit und der Selbstverwaltung der Partei, als einer organisierten Vorhut des Proletariats, verlegt werden muss Der neue Kurs bedeutet durchaus nicht, dass dem Parteiapparat die Aufgabe gestellt wird, in der oder jener Frist das Regime der Demokratie zu dekretieren, zu schaffen oder aufzurichten. Nein! Dieses Regime verwirklichen kann die Partei selbst. Die Aufgabe lässt sich kurz so formulieren: Die Partei muss sich ihren eigenen Apparat unterwerfen, ohne auch nur eine Minute aufzuhören, eine zentralisierte Organisation zu sein.

In den Debatten und den Artikeln wurde in der letzten Zeit sehr häufig darauf hingewiesen, dass „die reine", „die umfassende", „die ideale" Demokratie undurchführbar ist und dass die Demokratie für uns überhaupt nicht Selbstzweck ist. Das ist vollkommen unanfechtbar. Mit demselben Recht und derselben Begründung lässt sich aber sagen, dass der reine oder absolute Zentralismus nicht durchführbar und nicht vereinbar ist mit der Natur einer Massenpartei und dass der Zentralismus sowohl wie der Parteiapparat in keinem Falle einen Selbstzweck darstellen. Demokratie und Zentralismus stellen zwei Seiten des Aufbaues der Partei dar. Die Aufgabe besteht darin, diese beiden Seiten in der richtigen Form ins Gleichgewicht zu bringen, das heißt in der Form, die am besten den Umständen entspricht. In der vergangenen Periode war dieses Gleichgewicht nicht vorhanden. Das Schwergewicht war fälschlicherweise auf den Apparat verlegt worden. Die Eigentätigkeit der Partei war auf ein Minimum herabgesetzt worden. Das hat Methoden und Gewohnheiten der Führung gebracht, die im Grunde dem Geiste der revolutionären Partei des Proletariats widersprechen. Die übermäßige Anziehung des Zentralismus des Apparats auf Kosten der Eigentätigkeit der Partei hat in der Partei das Empfinden der Unzulänglichkeit geweckt. Es hat auf dem äußersten Flügel eine außerordentliche, krankhafte Form bis zur Bildung illegaler Gruppierungen in der Partei unter der Führung von dem Kommunismus fraglos feindlicher Elemente angenommen. Gleichzeitig hat sich in der Partei die kritische Stellungnahme gegenüber den maschinellen Methoden der Lösung von Fragen erhöht. Das Verständnis oder wenigstens das Empfinden dafür, dass der Parteibürokratismus die Partei in eine Sackgasse zu führen droht, ist beinahe allgemein geworden. Es wurden warnende Stimmen laut. Die erste offizielle und in höchstem Grade wichtige Ausdrucksform des vor sich gegangenen Umschwunges in der Partei ist die Resolution über den neuen Kurs. Sie wird in dem Maße in die Tat umgesetzt werden, in dem die Partei, das heißt ihre 400.000 Mitglieder dazu bereit und imstande sein werden.

In einer Reihe von Artikeln wird hartnäckig der Gedanke vertreten, dass das grundlegende Mittel zur Belebung der Partei die Hebung des kulturellen Niveaus ihrer Mitglieder aus Reih und Glied sei, woraufhin sich alles Übrige, das heißt die Arbeiterdemokratie, schon ganz natürlich ergeben würde. Dass wir das geistige und kulturelle Niveau unserer Partei angesichts der vor ihr stehenden Aufgaben heben müssen, das steht vollkommen außer Frage; aber gerade deswegen ist eine solch rein pädagogische vorschriftsmäßige Behandlung der Frage vollkommen ungenügend und infolgedessen falsch, und wenn wir auf ihr beharren, so kann sie nur eine Verschärfung der Krisis auslösen. Die Partei kann ihr Niveau als Partei nur heben, indem sie voll und ganz ihre Grundaufgaben vermittels der kollektiven eigentätigen Führung der Arbeiterklasse und des Staates der Arbeiterklasse erfüllt. Wir müssen nicht pädagogisch, sondern politisch an die Frage herantreten. Die Frage darf nicht so gestellt werden, als ob die Anwendung der Parteidemokratie in Abhängigkeit gestellt werden muss von dem Grade der „Schulung" der Parteimitglieder ihr gegenüber. Die Partei ist die Partei. Man kann an jeden einzelnen, der in unsere Partei eintreten und in der Partei bleiben will, einen sehr strengen Maßstab anlegen, aber der Eingetretene ist allein dadurch schon aktiver Teilnehmer an der gesamten Parteiarbeit.

Gerade durch die Tötung der Eigentätigkeit hindert der Bürokratismus die Hebung des allgemeinen Niveaus der Partei. Und darin besteht seine Hauptschuld. Da der Parteiapparat unvermeidlich aus erfahrenen und verdienten Genossen besteht, wird der Bürokratismus des Apparats sich am ärgsten an dem ideellen politischen Heranwachsen der jungen Generationen der Partei bemerkbar machen. Gerade dadurch ist der Umstand zu erklären, dass die Jugend – das sicherste Barometer der Partei – am heftigsten auf den Parteibürokratismus reagiert.

Es wäre indes falsch, zu glauben, dass die Übermäßigkeit der maschinellen Lösung der Parteifragen an der alten Generation, die in sich die politische Erfahrung der Partei und ihre revolutionäre Tradition verkörpert, spurlos vorübergeht. Nein, die Gefahr ist sehr groß auch in dieser Zone. Es ist nicht notwendig, von der – nicht nur im russischen, sondern im internationalen Maßstabe – ungeheuren Bedeutung der älteren Generation in unserer Partei zu sprechen: das ist allgemein bekannt und allgemein anerkannt. Aber es wäre ein grober Fehler, diese Bedeutung als sich selbst genügend einzuschätzen. Nur eine dauernde gegenseitige Beeinflussung der jüngeren und der älteren Generation innerhalb des Rahmens der Parteidemokratie vermag die alte Garde als einen revolutionären Faktor zu erhalten. Sonst vermögen die Alten leicht zu verknöchern und, ohne es selbst zu merken, zum vollendetsten Ausdruck des Bürokratismus des Apparats zu werden.

Eine Ausartung der „alten Garde*' konnte im Laufe der Geschichte mehrmals beobachtet werden. Nehmen wir das jüngste und krasseste geschichtliche Beispiel: die Führer und die Parteien der Zweiten Internationale. Wir wissen ja doch, dass Wilhelm Liebknecht, Bebel, Singer, Viktor Adler, Kautsky, Bernstein, Lafargue, Guesde und andere direkte und unmittelbare Schüler von Marx und Engels gewesen sind. Wir wissen jedoch, dass alle diese Führer – die einen zum Teil, die anderen gänzlich – in der Umgebung der parlamentarischen Reformen und des starken Wachstums des Partei- und Gewerkschaftsapparates nach der Seite des Opportunismus ausarteten. Wir sahen ganz besonders scharf am Vorabend des imperialistischen Krieges, wie der gewaltige sozialdemokratische Apparat, gedeckt durch die Autoritäten der alten Generation, zur größten Bremse der revolutionären Entwicklung wurde. Und wir müssen sagen – gerade wir, die „Alten" –, dass unsere Generation, die natürlicherweise die führende Rolle in der Partei spielt, allein noch keine an sich hinreichende Garantie gegen eine schrittweise und unmerkliche Schwächung des proletarischen und revolutionären Geistes in sich schließt, wenn die Partei ein weiteres Anwachsen, eine Festigung der apparatmäßigen bürokratischen Methode erfahre, die die junge Generation in passives Erziehungsmaterial verwandelt und unvermeidlich die Entfremdung zwischen dem Apparat und der Masse, zwischen den Alten und den Jungen festen Fuß fassen lässt Gegen diese fraglose Gefahr gibt es kein anderes Mittel, als einen ernsten, tiefen und radikalen Umschwung des Kurses nach der Seite der Parteidemokratie unter immer stärkerer Heranziehung der Proletarier vom Schraubstock zur Partei.

Ich werde mich hier nicht über die einen oder die anderen juristischen Auslegungen der Parteidemokratie und ihre statutengemäßen Beschränkungen verbreiten. So wichtig diese Fragen auch sind, sind sie doch Fragen zweiter Ordnung. Wir werden sie auf Grund der vorhandenen Praxis besprechen und werden ändern, was geändert werden kann. Vor allem aber muss der Geist geändert werden, der in den Organisationen herrscht. Es ist erforderlich, dass die Partei in Gestalt ihrer Zellen und Vereinigungen die kollektive Initiative zurückgewinnt, das Recht der freien, kameradschaftlichen Kritik – ohne Ängstlichkeit und ohne Furcht – das Recht der organisatorischen Selbstbestimmung. Der Parteiapparat muss unbedingt aufgefrischt und erneuert werden, dadurch, dass man ihn zwingt, zu begreifen, dass er der ausführende Mechanismus der großen Kollektive ist.

In der Parteipresse der letzten Zeit ist eine ganze Menge von Beispielen angeführt worden, die die weit fortgeschrittene bürokratische Ausartung der Parteisitten und -verhältnisse charakterisieren. Als Antwort auf eine kritische Stimme hört man: „Zeigen Sie Ihr Mitgliedsbuch vor!" Bevor der Beschluss den Zentrale über den neuen Kurs veröffentlicht wurde, haben die verbürokratisierten Vertreter des Apparats jede Erwähnung der Notwendigkeit einer Änderung der innerparteilichen Politik als Ketzerei betrachtet, als Fraktionsbildung und Untergrabung der Disziplin. Gegenwärtig sind sie ebenso bereit, formell den neuen Kurs „zur Kenntnis" zu nehmen, das heißt ihn bürokratisch abzuwürgen. Die Erneuerung des Parteiapparats – selbstverständlich in dem genau abgegrenzten Rahmen der Statuten – muss erfolgen zum Zwecke der Ablösung der Verrannten und Verbürokratisierten durch frische Elemente, die mit dem Leben der Kollektive eng verknüpft oder fähig sind, eine solche Führung zu garantieren, und vor allem müssen von den Parteistellungen jene Elemente entfernt werden, die bei der ersten Stimme einer Kritik, einer Entgegnung, eines Protestes die Mitgliedskarte zum Zwecke von Repressalien einzufordern bereit sind. Der neue Kurs muss damit beginnen, dass alle im Apparat von unten bis oben empfinden, dass es niemand wagen darf, die Partei zu terrorisieren. Es genügt durchaus nicht, dass die Jugend unsere Formeln nachsagt. Es ist notwendig, dass die Jugend die revolutionären Formeln im Kampfe erobert, ihnen Fleisch und Blut verleiht, sich eine eigene Meinung, ein eigenes Wesen bildet und fähig ist, für die eigene Meinung mit dem gleichen Mute einzutreten, den eine offene Oberzeugung und Unabhängigkeit des Charakters verleihen. Der passive Gehorsam, das mechanische Schauen nach dem Vorgesetzten, die Unpersönlichkeit, die Dienseifrigkeit und der Karrierismus müssen aus der Partei verschwinden. Der Bolschewik ist nicht nur ein Disziplinmensch – nein, er ist ein Mensch, der tief schürft und sich in jedem einzelnen Falle eine feste Meinung bildet und sie nicht nur mutig im Kampfe gegen die Feinde und ebenso unabhängig verteidigt, sondern das auch innerhalb der eigenen Organisation tut. Heute ist er in seiner Organisation vielleicht in der Minderheit. Er unterwirft sich, weil es sich um seine Partei handelt Es versteht sich aber, dass das nicht immer bedeutet, dass er unrecht hat. Er hat nur vielleicht früher als andere die neue Aufgabe oder die Notwendigkeit einer Schwenkung eingesehen und begriffen. Er wirft die Frage hartnäckig ein zweites und ein drittes und, wenn nötig, ein zehntes Mal auf. Dadurch erweist er der Partei einen Dienst, da er ihr hilft, der neuen Aufgabe voll gewappnet entgegenzutreten oder die notwendige Schwenkung ohne organisatorische Erschütterungen und Fraktionskonformen zu vollziehen.

Ja, unsere Partei könnte ihre geschichtliche Mission nicht erfüllen, wenn sie in Fraktionsgruppierungen zerfallen würde. Das darf nicht sein und wird nicht sein. Das wird die Partei in ihrer Gesamtheit als eine eigentätige Kollektive verhindern. Aber die Partei kann mit den Gefahren der Fraktionsbildung nur fertig werden, wenn sie den Kurs auf die Arbeiterdemokratie ausbaut, befestigt und verstärkt. Gerade der Bürokratismus des Apparats ist eine der wichtigsten Quellen des Fraktionswesens. Er unterdrückt die Kritik und lässt die Unzufriedenheit sich einfressen. Er ist geneigt, den Fraktionszettel jeder individuellen oder kollektiven Stimme der Kritik, beziehungsweise der Warnung anzuhängen. Der mechanische Zentralismus wird unvermeidlich vom Fraktionswesen ergänzt, das zu gleicher Zeit eine drohende politische Gefahr ist.

In klarem Verständnis der Gesamttage wird die Partei die notwendige Wendung mit aller Festigkeit und Entschlossenheit, wie sie durch die Bedeutung der vor uns stehenden Aufgaben geboten werden, vollziehen. Die Partei wird gerade dadurch ihre revolutionäre Einheit auf ein höheres Niveau erheben als Garantie dafür, dass sie mit den wirtschaftlichen und internationalen Aufgaben von unermesslicher Bedeutung fertig werden wird.

Ich habe in keinerlei Hinsicht die Frage erschöpft. Ich habe bewusst die Untersuchung vieler ihrer wesentlichen Seiten unterlassen aus der Befürchtung heraus, Eure Zeit zu sehr in Anspruch zu nehmen. Ich hoffe aber, dass es mir bald gelingen wird, mit der Malaria fertig zu werden, die – ich urteile nach mir selbst – sich in sichtbarer Opposition zum neuen Kurse der Partei befindet, und dann werde ich versuchen, in freierer mündlicher Rede nachzuholen und genauer auszusprechen, was ich in diesem Briefe nicht ausgesprochen habe.


Moskau, 10. Dezember.

PS. Ich benutze den Umstand, dass mein Brief in der „Prawda" mit zweitägiger Verspätung erscheint, um einige ergänzende Bemerkungen zu machen.

Mir wurde mitgeteilt, als ob die einzelnen Genossen bei der Veröffentlichung meines Briefes auf den Rayonversammlungen die Befürchtung geäußert hätten, dass meine Erwägungen über das gegenseitige Verhältnis der „alten Garde" und der jungen Generation ausgenützt werden könnten, um die Jugend den Alten gegenüberzustellen (!). Man kann ohne weiteres garantieren, dass dieser Gedanke in den Köpfen jener Genossen aufgetaucht ist, die noch vor zwei Monaten vor der Aufrollung der Frage über die Notwendigkeit einer Änderung des Kurses entsetzt zurückgeschreckt sind. Jedenfalls kann die Hervorhebung derartiger Befürchtungen unter der gegenwärtigen Lage und im gegenwärtigen Moment lediglich durch eine falsche Einschätzung der Gefahren und des Grades ihrer Wichtigkeit erfolgen. Die jetzige Stimmung der Jugend, die, wie das jedem denkenden Parteimitglied klar, ist, einen im höchsten Grade symptomatischen Charakter trägt, ist ausgerechnet durch diese Methoden der „unbedingten Stille" hervorgerufen worden, die die einstimmig angenommene Resolution des Politischen Büros verurteilt, mit anderen Worten, gerade die „unbedingte Stille" hat in sich die Gefahr einer wachsenden Entfremdung zwischen der führenden Parteischicht und den jüngeren Mitgliedern, das heißt ihrer überwiegenden Mehrheit, hervorgerufen. Die Tendenz des Parteiapparats, für die Partei zu denken und zu entscheiden, führt in seinem Gefolge zu dem Bestreben, die Autorität der führenden Kreise nur auf die Tradition aufzubauen. Die Achtung der Parteitradition gegenüber ist fraglos das notwendigste Bestandselement der Parteierziehung und der Parteiverschmelzung; dieses Element aber kann lebendig und widerstandsfähig nur in dem Falle sein, wenn es fortwährend genährt und durch eine selbständige und aktive Kontrolle der Parteitradition durch die kollektive Ausarbeitung der laufenden Parteipolitik gestärkt wird. Ohne diese Aktivität und Eigentätigkeit kann die Achtung gegenüber der Tradition sich in eine behördliche Romantik oder direkt in einen nackten Behördenfimmel auswachsen, das heißt in eine Form ohne Inhalt. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine solche Art der Fühlung unter den Generationen vollkommen ungenügend und unzuverlässig wäre. Äußerlich mag sie fest erscheinen bis fünf Minuten vor dem Moment, in dem die drohenden Risse aufgedeckt werden. Gerade hier liegt die Gefahr des Kurses des Apparats, der sich auf die „unbedingte Stille" in der Partei stützt. Und so weit die revolutionär gebliebenen und nicht schief gelaufenen Vertreter der älteren Generation, das heißt – wie wir fest glauben – ihre überwiegende Mehrheit sich vollkommene Rechenschaft hinsichtlich der oben charakterisierten Perspektive abgeben und, indem sie sich auf den Boden der Resolution des Politischen Büros stellen und alles aufbieten werden, um der Partei zu helfen, die Resolution in die Tat umzusetzen, insoweit wird die Hauptquelle einer möglichen Ausspielung der verschiedenen Generationen in der Partei gegeneinander verschwinden. Die einen oder die anderen „Übertreibungen" oder das zu starke Auftreten der Jugend auf dieser Linie lässt sich dann verhältnismäßig leicht überwinden. Aber es ist vor allem notwendig, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Parteitradition nicht im Apparat konzentriert, sondern lebe und sich erneuere in der lebendigen Praxis der Partei. Dadurch allein wird auch eine andere Gefahr vermieden: die Zersplitterung der älteren Generation in Menschen „des Apparats", das heißt in solche, die die „unbedingte Stille" unterstützen, und in Elemente, die damit nichts zu tun haben. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass der Apparat der Partei, das heißt ihr organisatorisches Skelett, das aus der sich selbst genügenden Abgeschlossenheit heraustritt, nicht schwächer werden, sondern stärker werden wird. Darüber aber, dass wir einen mächtigen zentralisierten Apparat brauchen, können in unserer Partei nicht zwei Meinungen bestehen.

Es lässt sich vielleicht noch einwenden, dass die in dem Briefe gebrachte Bezugnahme auf die apparatmäßige Ausartung der Sozialdemokratie nicht richtig ist – angesichts des tiefen Unterschiedes der Epochen: der damaligen stillstehenden reformistischen und der jetzigen revolutionären. Es versteht sich, dass ein Beispiel nur ein Beispiel ist und keinesfalls eine Identität. Indes entscheidet diese Gegenüberstellung der Epochen in Bausch und Bogen an sich noch nichts. Nicht umsonst verweisen wir ja auf die Gefahren der „Nep", die eng mit dem schleppenden Charakter der internationalen Revolution verbunden sind. Unsere alltägliche praktische Staatsarbeit, die immer mehr detailliert und spezialisiert wird, birgt in sich, wie in der Resolution des Politischen Büros betont wird, die Gefahr einer Verengung des Horizontes, das heißt einer opportunistischen Ausartung. Es ist ganz klar, dass diese Gefahren um so ernster werden, je mehr die Parteiführung abgelöst wird von einer in sich selbst zurückgezogenen „sekretärmäßigen" Befehlshaberei. Wir würden schlechte Revolutionäre sein, wollten wir darauf hoffen, dass uns der „revolutionäre Charakter der Epoche" helfen wird, mit allen, ganz besonders mit allen inneren Schwierigkeiten fertig zu werden. Man muss der „Epoche", wie es sich gehört, durch eine richtige Verwirklichung des neuen Parteikurses, den das Politische Büro des ZK. einstimmig verkündet, helfen.

Zum Schluss noch eine Bemerkung. Vor zwei oder drei Monaten, als die Fragen, die den Gegenstand der augenblicklichen Diskussion bilden, erst noch sozusagen auf die Tagesordnung der Partei gestellt wurden, waren einige verantwortliche Genossen aus der Provinz geneigt, herablassend mit den Achseln zu zucken; das waren ja nur lauter Moskauer Einfälle, in der Provinz sei es mit allem glänzend bestellt.

Und auch jetzt vernehmen wir in der einen oder anderen Korrespondenz aus der Provinz dieselbe Note, das verseuchte oder aufgeregte Moskau wird gegen „die ruhige und vernünftige Provinz" ausgespielt. Das bedeutet nichts anderes als einen heftigen Ausdruck desselben Bürokratismus, wenn auch in provinzieller Ausgabe. In der Tat ist die Moskauer Organisation unserer Partei die umfangreichste, die mit Kräften am reichsten ausgestattete und die lebendigste. Selbst in den Momenten .der ausgeprägtesten Flaute war das selbständige Leben und die Aktivität der Moskauer Organisation trotz alledem höher als irgendwo anders. Wenn sich Moskau gegenwärtig durch irgendetwas von anderen Punkten unterscheidet, so nur dadurch, dass es die Initiative der Revision des Parteikurses auf sich genommen hat. Das ist kein Minus, sondern ein Verdienst. Die ganze Partei wird im Gefolge Moskaus das notwendige Stadium der Umwertung gewisser Werte der abgelaufenen Periode durchmachen. Je weniger sich der provinzielle Parteiapparat dem widersetzen wird, um so planmäßiger werden die provinziellen Organisationen durch das unvermeidliche Stadium der Kritik und der Selbstkritik hindurch kommen. Die Partei wird das Resultat in der Form einer gesteigerten inneren Festigkeit und einer Hebung des Niveaus der Parteikultur ernten.

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