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Leo Trotzki 19230710 Der Mensch lebt nicht von „Politik" allein

Leo Trotzki: Der Mensch lebt nicht von „Politik" allein

[Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S1. 17-32, s. auch den russischen Text]

Diesen einfachen Gedanken müssen wir uns ganz klar machen und ihn unter keinen Umständen in unserer mündlichen und Presseagitation und Propaganda vergessen. Andere Zeiten – andere Lieder. Die vorrevolutionäre Geschichte unserer Partei war die Geschichte der revolutionären Politik. Parteiliteratur, Parteiorganisationen – durchweg alles stand unter der Losung der Politik im direkten und unmittelbarsten Sinne, im engsten Sinne dieses Wortes. Die Jahre des revolutionären Umsturzes und des Bürgerkrieges verliehen den politischen Interessen und Aufgaben einen noch schärferen und gespannteren Charakter. Im Laufe dieser Jahre sammelte die Partei in ihren Reihen die aktivsten Elemente der Arbeiterklasse. Die wichtigsten politischen Schlussfolgerungen aus diesen Jahren sind jedoch der Arbeiterklasse im Ganzen klar. Die nackte Wiederholung dieser Schlussfolgerungen bietet ihr bereits nichts mehr, ja sie verwischt sogar eher die Lehren der Vergangenheit in ihrem Bewusstsein. Nach der Eroberung der Macht und ihrer Festigung infolge des Bürgerkrieges verschoben sich unsere Hauptaufgaben in das Gebiet der wirtschaftlich-kulturellen Aufbauarbeit, sie komplizierten sich, zersplitterten sich, wurden detaillierter und gewissermaßen „prosaischer". Zugleich aber wird unser ganzer vorhergehender Kampf, mit allen seinen Mühen und Opfern, nur in dem Maße gerechtfertigt werden, wie wir lernen werden, unsere partiellen, alltäglichen ,,Kultur"aufgaben uns richtig zu stellen und sie zu lösen.

In der Tat: was eigentlich hat die Arbeiterklasse durch den bisherigen Kampf erreicht und gesichert?

1. Die Diktatur des Proletariats (mit Hilfe des von der Kommunistischen Partei geleiteten Arbeiter- und Bauernstaats).

2. Die Rote Armee, als materielle Stütze der Diktatur des Proletariats.

3. Die Nationalisierung der wichtigsten Produktionsmittel, ohne die die Diktatur des Proletariats eine leere Form ohne Inhalt wäre.

4. Das Monopol des Außenhandels, das eine notwendige Bedingung der sozialistischen Aufbauarbeit unter der kapitalistischen Einkreisung ist.

Diese vier Elemente, die unwiderruflich erobert sind, bilden den stählernen Rahmen unserer Arbeit. Dank diesem Rahmen wird jeder unserer wirtschaftlichen oder kulturellen Erfolge – wenn es ein wirklicher und nicht nur ein vermeintlicher Erfolg ist – notwendigerweise zu einem Bestandteil des sozialistischen Bauwerks.

Worin besteht denn heute unsere Aufgabe, was müssen wir vor allem lernen, was anstreben? Wir müssen ordentlich arbeiten lernen: exakt, sauber, ökonomisch. Wir brauchen Kultur in der Arbeit, Kultur im Leben, Kultur im Alltagsleben. Die Herrschaft der Exploiteure haben wir – nach langer Vorbereitung – durch den Hebel des bewaffneten Aufstands gestürzt. Aber es gibt keinen Hebel, um die Kultur mit einem Schlag zu heben. Hier bedarf es eines langen Prozesses der Selbsterziehung der Arbeiterklasse, und mit ihr zusammen und nach ihr auch der Bauernschaft. Über diese Richtungsänderung unserer Aufmerksamkeit, unserer Bemühungen, unserer Methoden, schreibt Genosse Lenin folgendes in seinem Artikel über das Genossenschaftswesen:

Wir müssen zugeben, dass sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert hat. Diese grundlegende Änderung besteht darin, dass wir früher das Schwergewicht auf den politischen Kampf, die Revolution, der Eroberung der Macht usw. legten und auch legen mussten. Heute dagegen ändert sich das Schwergewicht so weit, dass es auf die friedliche organisatorische "Kultur"arbeit verlegt wird. Ich würde sagen, dass sich das Schwergewicht für uns auf bloße Kulturarbeit verschiebt, gäbe es nicht die internationalen Beziehungen, hätten wir nicht die Pflicht, für unsere Position in internationalem Maßstab zu kämpfen. Wenn man aber davon absieht und sich auf die inneren ökonomischen Verhältnisse beschränkt, so reduziert sich bei uns jetzt das Schwergewicht der Arbeit tatsächlich auf bloße Kulturarbeit."

Wir werden also nur durch die Aufgaben unserer internationalen Situation von der Kulturarbeit abgelenkt, und auch das ist, wie wir gleich sehen werden, nur zum Teil der Fall. Der wichtigste Faktor ist in unserer internationalen Lage die staatliche Verteidigung, d. h. vor allem die Rote Armee. Aber auf diesem äußerst wichtigen Gebiet läuft unsere Aufgabe gegenwärtig wiederum zu neun Zehnteln auf Kulturarbeit hinaus: das Niveau der Armee muss gehoben werden, sie muss schlechtweg des Lesens und Schreibens kundig werden, sie muss in der Benutzung von Nachschlagewerken, Büchern, Karten unterwiesen werden, sie muss in erhöhtem Maße an Sauberkeit, Genauigkeit, Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Beobachtung gewöhnt werden. Es gibt keine wundertätigen Mittel, die diese Aufgabe auf einen Schlag lösen könnten. Der Versuch, nach Beendung des Bürgerkrieges, beim Übergang zur neuen Epoche unserer Arbeit eine rettende „proletarische Kriegsdoktrin" zu schaffen, war der grellste und schreiendste Ausdruck des Nichtverstehens der Aufgaben der neuen Epoche. Sehr nahe verwandt hiermit sind die hoffärtigen Pläne, auf dem Laboratoriumsweg eine „proletarische Kultur" zu schaffen. In diesem Suchen nach dem Stein der Weisen vereinigt sich die Verzweiflung über unsere Rückständigkeit mit dem Glauben an Wunder, der schon an und für sich ein Merkmal von Rückständigkeit ist. Aber wir haben gar keinen Grund zur Verzweiflung, und es ist höchste Zeit, auf den Wunderglauben und auf kindisches Pfuschertum im Geiste „proletarischer Kulturen" oder „proletarischer Kriegsdoktrinen" zu verzichten. Es muss im Rahmen der proletarischen Diktatur tagtägliche kulturelle und kulturfördernde Arbeit entfaltet werden, die allein den Haupterrungenschaften der Revolution den sozialistischen Inhalt sichern kann. Wer dies nicht begriffen hat, spielt eine reaktionäre Rolle in der Entwicklung des Parteidenkens und der Parteiarbeit.

Wenn Genosse Lenin sagt, dass heute unsere Aufgaben nicht so sehr auf politischem als auf kulturellem Gebiet liegen, so muss man sich, zur Vermeidung einer falschen Auslegung seines Gedankens, hinsichtlich der Terminologie einigen. In gewissem Sinne wird alles von der Politik beherrscht. Schon der Rat des Genossen Lenin, die Aufmerksamkeit von der Politik auf die Kultur zu übertragen, ist ein politischer Rat. Wenn die Arbeiterpartei in diesem oder jenem Lande zu dem Schluss kommt, dass es notwendig sei, in dem gegebenen Moment ökonomische und nicht politische Forderungen in den Vordergrund zu stellen, so hat schon dieser Entschluss politischen Charakter. Es ist ganz klar, dass das Wort „Politik" hier in zwei verschiedenen Bedeutungen benutzt wird; erstens im breiten materialistisch-dialektischen Sinne, der die Gesamtheit aller leitenden Ideen, Methoden und Systeme umfasst, die der Kollektivtätigkeit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens die Richtung geben; zweitens im engen und speziellen Sinne, der einen bestimmten Teil der öffentlichen Tätigkeit charakterisiert, die unmittelbar mit dem Kampfe um die Macht verknüpft ist und der ökonomischen, kulturellen u. a. Arbeit gegenübergestellt wird. Als Genosse Lenin schrieb, dass die Politik konzentrierte Ökonomie sei, hatte er die Politik im breiten philosophischen Sinne im Auge. Wenn Genosse Lenin sagte: „Weniger Politik, mehr Ökonomie", so meinte er die Politik im engen und speziellen Sinne. Sowohl die eine als auch die andere Anwendung des Wortes ist berechtigt, insofern als sie durch den Brauch fest sanktioniert ist. Man muss nur deutlich verstehen, wovon in jedem gegebenen Falle die Rede ist.

Die kommunistische Organisation ist eine politische Partei im breiten historischen oder, wenn man will, philosophischen Sinn des Wortes. Die anderen heutigen Parteien sind hauptsächlich in jenem Sinne politisch, als sie (kleine) Politik betreiben. Die Verlegung der Aufmerksamkeit unserer Partei auf die kulturelle Arbeit bedeutet deshalb durchaus nicht eine Schwächung der politischen Rolle der Partei. Die historisch ausschlaggebende (d. h. politische) Rolle der Partei wird gerade in der planmäßigen Verlegung der Aufmerksamkeit auf die kulturelle Arbeit und in der Leitung dieser Arbeit zum Ausdruck kommen. Nur im Resultat vieler vieler Jahre innerlich erfolgreicher und äußerlich gesicherter sozialistischer Arbeit könnte sich die Partei allmählich von der Hülle der Parteihaftigkeit befreien und sich im sozialistischen Gemeinwesen auflösen. Bis dahin aber ist es noch so weit, dass gar nicht daran zu denken ist. … Für die nächstliegende Epoche muss die Partei ihre Grundzüge voll und ganz bewahren: geistiger Zusammenschluss, Zentralisation, Disziplin und als Resultat hiervon – Kampffähigkeit. Aber gerade diese unschätzbaren Eigenschaften der kommunistischen Parteihaftigkeit können unter den neuen Verhältnissen nur auf der Grundlage einer immer vollständigeren, geschickteren, genauer und detaillierter werdenden Befriedigung der wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse und Nöte erhalten bleiben und zur Entfaltung kommen. Gerade in Übereinstimmung mit diesen Aufgaben, die heute die dominierende Rolle in unserer Politik spielen müssen, gruppiert und verteilt die Partei ihre Kräfte und erzieht die junge Generation. Mit anderen Worten, die große Politik fordert, dass der Arbeit der Agitation, Propaganda, Kräfteverteilung, Ausbildung und Erziehung heute die Aufgaben und Bedürfnisse der Ökonomie und Kultur, nicht aber der „Politik" im engen und speziellen Sinne dieses Wortes zugrunde gelegt werden.

Das Proletariat stellt eine mächtige soziale Einheit dar, die sich vollständig und endgültig in den Perioden angespannten revolutionären Kampfes für die Ziele der ganzen Klasse entfaltet. Aber innerhalb dieser Einheit beobachten wir zugleich eine außerordentliche Mannigfaltigkeit und sogar eine nicht geringe Verschiedenartigkeit. Vom unwissenden und analphabetischen Dorfhirten bis zum hoch qualifizierten Maschinisten gibt es eine große Zahl Qualifikationen, Kulturniveaus und Fertigkeiten des Alltagslebens. Schließlich setzt sich jede Schicht, jede Zunft, jede Gruppe aus lebenden Menschen verschiedenen Alters mit verschiedener Vergangenheit und verschiedenem Temperament zusammen. Wenn es diese Mannigfaltigkeit nicht gäbe, so wäre die Arbeit der kommunistischen Partei auf dem Gebiete der Vereinigung und Erziehung des Proletariats die einfachste Sache. Wie schwierig sie aber in Wirklichkeit ist, das sehen wir in Westeuropa. Man kann sagen, dass je reicher die Geschichte eines Landes und damit auch die Geschichte der Arbeiterklasse selbst ist, je mehr Erziehung, Traditionen, Fertigkeiten sie hat, je mehr alte Gruppierungen es in ihr gibt, desto schwieriger es auch ist, sie zu einer revolutionären Einheit zusammenzuschließen. Unser Proletariat ist sehr arm an Geschichte und Tradition. Das hat zweifellos seine revolutionäre Vorbereitung für die Oktoberrevolution erleichtert. Das hat aber auch zugleich seine Aufbauarbeit nach dem Oktober erschwert. Unserem Arbeiter fehlt es – mit Ausnahme seiner obersten Schicht – durch die Bank an den einfachsten kulturellen Fertigkeiten und Kenntnissen (in Bezug auf Sauberkeit, Lese- und Schreibkundigkeit, Genauigkeit usw.). Der europäische Arbeiter hat sich diese Fertigkeiten im Laufe langer Zeit langsam im Rahmen der bürgerlichen Ordnung erworben: darum ist er – durch seine obersten Schichten – auch so stark mit der bürgerlichen Ordnung mit ihrer Demokratie, der freien kapitalistischen Presse und anderen Wohltaten, verwachsen. Unserem Arbeiter dagegen konnte unsere verspätete bürgerliche Gesellschaftsordnung fast nichts mehr hiervon geben: darum fiel es dem Proletariat Russlands auch leichter, mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu brechen und sie umzustürzen. Aus eben demselben Grunde aber ist unser Proletariat in seiner Mehrheit gezwungen, die einfachsten kulturellen Fertigkeiten erst heute, d. h. bereits auf der Grundlage des sozialistischen Arbeiterstaates, zu erwerben und zu sammeln.

Die Geschichte gibt einem nichts umsonst: und wenn sie auf das eine – die Politik – Rabatt gewährt, so nimmt sie ein Übriges für etwas anderes – für die Kultur. Je leichter – natürlich nur relativ – dem russischen Proletariat der revolutionäre Umsturz geworden ist, desto schwieriger wird ihm die sozialistische Aufbauarbeit. Dafür verleiht aber der von der Revolution geschmiedete Rahmen unseres neuen sozialen Lebens, der durch die vier Grundelemente charakterisiert wird (siehe Anfang dieses Kapitels) allen ehrlichen, eine vernünftige Richtung einschlagenden Bemühungen auf dem Gebiete der Wirtschaft und Kultur einen objektiv sozialistischen Charakter. Unter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bereicherte der Arbeiter, ohne es zu wollen und zu beabsichtigen, die Bourgeoisie umso mehr, je besser er arbeitete. Im Sowjetstaat leistet der gewissenhafte und gute Arbeiter, ohne daran zu denken und sich darum zu kümmern (wenn er ein parteiloser und unpolitischer ist), sozialistische Arbeit und vergrößert die Mittel der Arbeiterklasse. Darin besteht ja gerade der Sinn des Oktoberumsturzes, und in diesem Sinn hat die Neue Ökonomische Politik keine Veränderung hineingetragen.

Es gibt sehr viele parteilose Arbeiter, die der Produktion, der Technik und der Werkbank tief ergeben sind. Man kann nur bedingt von ihrem „Apolitizismus", d. h. vom Fehlen des Interesses für die Politik bei ihnen sprechen. In allen wichtigen und schwierigen Momenten der Revolution standen sie auf unserer Seite. In der erdrückenden Mehrheit erschraken sie nicht vor dem Oktober, desertierten nicht, verübten nicht Verrat. Während des Bürgerkrieges standen viele von ihnen an den Fronten, während andere wieder ehrlich für die Bewaffnung der Armee arbeiteten. Dann gingen sie zur Friedensarbeit über. Man nennt sie – und nicht ohne gewissen Grund – unpolitisch, weil für sie das produktiv-zünftlerische oder Familieninteresse, wenigstens in der gewöhnlichen „ruhigen" Zeit, über dem politischen steht. Jeder von ihnen will ein guter Arbeiter werden, sich in seiner Arbeit vervollkommnen, in eine höhere Kategorie emporsteigen, sowohl zur Verbesserung der Lage seiner Familie, als auch aus berechtigtem Berufsehrgeiz. Jeder von ihnen leistet hierbei, wie wir bereits sagten, sozialistische Arbeit, ohne sich dieses Ziel zu setzen. Aber wir, die Kommunistische Partei, haben ein Interesse daran, dass diese in der Produktion tätigen Arbeiter ihre tagtägliche produktive Teilarbeit bewusst mit den Aufgaben des sozialistischen Aufbaus als Ganzes verbinden. Im Resultat einer solchen Verknüpfung würden die Interessen des Sozialismus besser gesichert sein, während die mit der Kleinarbeit des Aufbaues Beschäftigten eine tiefere moralische Befriedigung haben würden.

Wie aber soll man das erreichen? Rein politisch ist es schwer, an diesen Arbeitertyp heranzutreten. Er hat schon alle Reden angehört. Es zieht ihn nicht in die Partei. Seine Gedanken sind bei der Werkbank, – und er ist nicht besonders mit jenen Zuständen zufrieden, die vorläufig rings um diese Werkbank, in der Werkstatt, in der Fabrik, im Trust herrschen. Solche Arbeiter bemühen sich, allen Dingen durch selbständiges Denken auf den Grund zu kommen, leben oftmals zurückgezogen, und aus ihrer Mitte gehen die autodidaktischen Erfinder hervor. Von der Politik her kann man nicht an ihn herantreten, wenigstens kann man ihn jetzt nicht bei der Seele packen, dafür kann und muss man aber an ihn von der Produktion und Technik her herantreten.

Genosse Koljzow (Moskauer Rayon Krasnaja Presnja), einer der Teilnehmer der bereits erwähnten Besprechung der Moskauer Massenagitatoren, wies auf den bei uns herrschenden, außerordentlichen Mangel an Sowjetlehrbüchern, Leitfäden zum Selbstunterricht und Lehrmitteln für die einzelnen technischen Spezialgebiete und Handwerke hin. Die alten Bücher dieser Art sind vergriffen, außerdem sind manche von ihnen technisch rückständig, während sie politisch gewöhnlich von knechtisch-kapitalistischem Geiste durchdrungen sind. Die neuen Lehrmittel dieser Art aber kann man an den Fingern her zählen; es ist schwer, sie aufzutreiben, da sie zu verschiedener Zeit von verschiedenen Verlagen und Behörden ohne jeglichen gemeinsamen Plan herausgegeben wurden. In technischer Hinsicht sind sie nicht immer geeignet, sind nicht selten allzu theoretisch, akademisch, während es ihnen in politischer Hinsicht gewöhnlich an jeglicher Farbe fehlt, da sie im Grunde genommen nur maskierte Übersetzungen aus fremden Sprachen sind. Wir aber brauchen eine Reihe neuer Taschenlehrbücher – für den Sowjetschlosser, für den Sowjetdreher, für den Sowjetelektromonteur usw. usw. Diese Lehrbücher müssen unserer heutigen Technik und Ökonomie angepasst sein, sie müssen sowohl unsere Armut, als auch unsere großen Möglichkeiten berücksichtigen, müssen bestrebt sein; unserer Industrie neue, rationellere Methoden und Fertigkeiten aufzupflanzen. Sie müssen in mehr oder weniger starkem Maße sozialistische Perspektiven eröffnen – vom Gesichtspunkt der Bedürfnisse und Interessen der Technik selbst (hierher gehören die Fragen der Normalisierung, Elektrifizierung, Planwirtschaft). Die sozialistischen Ideen und Schlussfolgerungen müssen in solchen Ausgaben einen organischen Teil der praktischen Theorie des gegebenen Arbeitszweiges bilden, keineswegs aber den Charakter äußerlicher, aufdringlicher Agitation annehmen. Das Bedürfnis nach solchen Ausgaben ist ein ungeheures. Es geht hervor aus der Not der qualifizierten Arbeiter und aus dem Bestreben der Arbeiter selbst, ihre Qualifikation zu verstehen. Dieses Bedürfnis ist verschärft worden durch die Unterbrechung der Produktionsstetigkeit in den Jahren des imperialistischen und des Bürgerkrieges. Hier erhebt sich vor uns eine sehr dankbare und wichtige Aufgabe.

Man darf natürlich die Augen nicht dem gegenüber verschließen, dass es nicht leicht ist, eine Serie solcher Lehrbücher zu schaffen. Die praktischen Arbeiter, selbst solche hoher Qualifikation, sind unfähig, Lehrbücher zu schreiben. Die technischen Schriftsteller, die diese Arbeit übernehmen, kennen sie oftmals nicht von der praktischen Seite. Schließlich sind unter ihnen wenig sozialistisch denkende Leute. Nichtsdestoweniger ist diese Aufgabe lösbar, jedoch nicht mit „einfachen", d. h. routinenhaften, sondern mit kombinierten Mitteln. Um ein Lehrbuch zu schreiben oder es wenigstens zu revidieren, muss ein Kollegium gebildet werden, sagen wir einmal ein Dreierausschuss aus einem technisch gebildeten Fachschriftsteller, der nach Möglichkeit den Zustand des entsprechenden Gebiets unserer Produktion kennt oder fähig ist, es kennen zu lernen; aus einem hoch qualifizierten Arbeiter des gleichen Produktionszweiges mit Produktionsinteressen und nach Möglichkeit mit Erfinderbegabung; und aus einem marxistischen Schriftsteller, einem Politiker, mit einigen produktiv-technischen Interessen und Kenntnissen. Auf diese oder eine ähnliche Weise muss eine Musterbibliothek produktiv-technischer Lehrmittel (nach Berufsarten) geschaffen werden, – die selbstverständlich gut gedruckt, gut broschiert, im Format bequem und nicht teuer sein müssen. Eine solche Bibliothek würde eine doppelte Rolle spielen: sie würde zur Erhöhung der Qualifikation der Arbeit und folglich zu Erfolgen des sozialistischen Aufbaus beitragen; sie würde zugleich helfen, eine sehr wertvolle Gruppe in der Produktion tätiger Arbeiter mit der Sowjetwirtschaft als Ganzes und folglich auch mit der Kommunistischen Partei zu verknüpfen.

Die Sache kann sich selbstverständlich nicht allein auf eine Serie von Lehrmitteln beschränken. Wir hielten uns so ausführlich bei diesem Einzelbeispiel auf, weil es, wie es scheint, ein ziemlich anschauliches Beispiel eines neuen Weges in Übereinstimmung mit den neuen Aufgaben der heutigen Periode gibt. Der Kampf um die geistige Gewinnung der „unpolitischen" Produktionsproletarier kann und muss mit verschiedenen Mitteln betrieben werden. Es sind technisch-wissenschaftliche, nach Produktionen spezialisierte Wochen- und Monatszeitschriften notwendig, es sind wissenschaftlich-technische Vereine notwendig, die auf diesen Arbeiter zugeschnitten sind. Nach ihm muss sich zur guten Hälfte unsere Gewerkschaftspresse richten, soweit sie eine Presse sein will, die nicht nur für das Dienstpersonal der Gewerkschaften bestimmt ist. Aber das überzeugendste politische Argument für Arbeiter dieses Typs ist jeder unserer praktischen Erfolge auf dem Gebiete der Industrie, jede reale Arbeitsregelung in der Fabrik oder Werkstatt, jede durchdachte Bemühung der Partei in dieser Richtung.

Die politische Weltanschauung des uns gegenwärtig interessierenden Produktionsarbeiters kann man etwa durch folgende Formulierung der von ihm nicht selten ausgesprochenen Gedanken zum Ausdruck bringen: „Was die Revolution und den Sturz der Bourgeoisie anbelangt, so braucht man gar nicht davon zu reden, das ist in der Ordnung, das ist ein für allemal geschehen. Wir brauchen die Bourgeoisie nicht. Die menschewistischen und anderen Kommis der Bourgeoisie brauchen wir auch nicht. Was die ,Freiheit der Presse' anbelangt, so ist das nicht so wichtig, es handelt sich nicht darum. Wie aber werden wir mit der Wirtschaft fertig werden? Ihr Kommunisten habt die Leitung in die Hand genommen. Eure Ziele und Pläne sind gut – das wissen wir; wiederholt es nicht, wir haben es gehört, wir sind einverstanden, wir werden euch unterstützen; wie aber wollt ihr diese Aufgaben in der Praxis lösen? Bis jetzt war es mehr als einmal der Fall, man braucht es nicht zu verhehlen, dass ihr eure Finger dort hattet, wo sie nicht hingehörten. Wir wissen, wir wissen, es lässt sich nicht alles auf einmal machen, man muss lernen, Fehler sind unvermeidlich. Das ist schon einmal so. Und wenn wir die Verbrechen der Bourgeoisie duldeten, umso mehr werden wir die Fehler der Revolution ertragen. Doch darf das nicht endlos so bleiben. Unter euch Kommunisten gibt es ja auch verschiedene Leute, wie unter uns sündigen Menschen: die einen lernen wirklich, verhalten sich gewissenhaft zur Sache, sind bemüht, zu einem praktischen wirtschaftlichen Resultat zu gelangen, während die anderen uns nur mit leeren Reden beruhigen. Und jene, die nur leere Reden führen, richten nicht wenig Schaden an, weil ihnen die Arbeit unter den Fingern wegläuft." So also sieht dieser Typ aus: ein strebsamer, eifriger Dreher oder Schlosser oder Gießer, der sich für seine Arbeit interessiert, kein Enthusiast, in der Politik eher passiv, aber nachdenklich, kritisch gestimmt, zuweilen etwas skeptisch, aber stets seiner Klasse treu – ein hochwertiger Proletarier. Auf diesen Typ muss die Partei ihren Kurs in der gegenwärtigen Epoche ihrer Arbeit richten. Der Grad der Gewinnung dieser Schicht durch uns – in der Praxis, in der Wirtschaft, in der Produktion, in der Technik – wird der sicherste politische Gradmesser unserer Erfolge auf dem Gebiete der Kulturarbeit, dieses Wort im breiten Leninschen Sinne verstanden, sein.

Die Orientierung auf den tüchtigen Arbeiter widerspricht natürlich durchaus nicht der zweitwichtigen Aufgabe der Partei: die junge Generation des Proletariats zu gewinnen. Denn gerade die junge Generation wächst unter den Bedingungen einer bestimmten Periode heran, formiert sich, erstarkt und wird gestählt auf dem Gebiete der Lösung bestimmter Aufgaben. Die junge Generation muss vor allem eine Generation hoch qualifizierter und ihre Arbeit liebender Arbeiter sein. Sie muss im Bewusstsein dessen heranwachsen, dass ihre Produktionsarbeit zugleich ein Dienst am Sozialismus ist. Das Interesse für die eigene berufliche Ausbildung, das Bestreben, in seiner Arbeit Meister zu werden, wird natürlich in den Augen der Jugend die Autorität der tüchtigen Arbeiter aus der Zahl der „Alten" sehr stark heben, die, wie bereits gesagt, in ihrer Mehrheit heute außerhalb der Partei bleiben. Die Orientierung auf den tüchtigen, gewissenhaften, fähigen Arbeiter wird folglich zugleich zur Direktive der Erziehung des proletarischen Jugendlichen. Ohne das wäre eine Vorwärtsbewegung zum Sozialismus unmöglich.

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