Leo Trotzki: Der Kampf um die Sprachkultur [Nach Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S. 76-84, s. auch den russischen Text] Dieser Tage las ich in einer unserer Zeitungen folgendes: „In der Generalversammlung der Arbeiter der Schuhfabrik ,Pariser Kommune' wurde der Beschluss gefasst, das Schimpfen auszurotten, für ,Ausdrücke' Strafen aufzuerlegen usw. …" Das ist im Wirbel unserer Zeit und an den „Ausdrücken" Lord Curzons gemessen, für die man ihn vorläufig noch nicht bestrafen kann, eine zwar kleine, aber bedeutsame Tatsache. Ihre Bedeutung wird jedoch erst in Abhängigkeit davon zutage treten, was für einen Widerhall diese Initiative finden wird. Das Schimpfen ist ein Erbe der Knechtschaft, der Unterdrückung, der Nichtachtung der menschlichen Würde, der fremden und der eigenen. Von unserem russischen Schimpfen gilt das ganz besonders. Man müsste bei Philologen, Linguisten, Folkloristen anfragen, ob es bei anderen Völkern ein so ungezügeltes, schmieriges und widerliches Schimpfen gibt, wie bei uns. Soviel ich weiß, ist das nicht oder fast gar nicht der Fall. In dem russischen Schimpfen von unten herauf liegt Verzweiflung, Erbitterung und vor allem hoffnungslose, ausweglose Knechtschaft. Dasselbe Schimpfen aber war, wenn es von oben herab aus dem Munde des Adeligen, des Polizeivorstehers erfolgte, der Ausdruck ständiger Überlegenheit, der Sklavenhalterehre, der Unerschütterlichkeit der gesellschaftlichen Grundlagen. … Die Sprichwörter sind, heißt es, der Ausdruck der Volksweisheit, – aber nicht nur der Weisheit, sondern auch der Unwissenheit, der Vorurteile und der Sklaverei. „Schmähreden verweht der Wind" – sagt ein altes russisches Sprichwort, und es spiegelt sich in ihm nicht nur die Tatsache der Knechtschaft, sondern auch die Aussöhnung mit ihr wider. Zwei Ströme russischen Schimpfredens: das satte, schmalzige Schimpfen des Herrn, des Beamten, des Polizisten einerseits, und das hungrige, verzweifelte, krampfhafte Schimpfen der Unterdrückten andererseits, – haben das ganze russische Leben mit einer widerlichen Wortverzierung verbrämt. Und dieses Erbe hat unter vielen anderen die Revolution übernommen. Die Revolution ist ja aber doch vor allem das Erwachen der menschlichen Persönlichkeit in jenen Massen, die früher unpersönlich sein mussten. Die Revolution ist, trotz all der zuweilen in Erscheinung tretenden Grausamkeit und blutigen Erbarmungslosigkeit ihrer Methoden, vor allem und hauptsächlich das Erwachen der Menschlichkeit, ihr Fortschreiten, die Zunahme der Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen und fremden Würde, das Wachsen der Teilnahme für die Schwachen und Schwächsten. Die Revolution ist keine Revolution, wenn sie nicht mit allen ihren Kräften und Mitteln der doppelt und dreifach unterdrückten Frau behilflich ist, die Bahn der persönlichen und öffentlichen Entwicklung zu betreten. Die Revolution ist keine Revolution, wenn sie nicht die größte Teilnahme für die Kinder an den Tag legt: denn diese gerade sind ja die Zukunft, in deren Namen die Revolution vor sich geht. Kann man aber – wenn auch nur brocken- und bruchstückweise – in tagtäglichem Mühen ein neues Leben, das auf gegenseitiger Achtung, auf Selbstachtung, auf kameradschaftlicher Gleichheit der Frau, auf der wahren Sorge für das Kind beruht, gestalten, in einer Atmosphäre, in der das nichts und niemanden schonende herrisch-sklavisch altrussische Schimpfen poltert, grunzt, schallt und tönt? Der Kampf gegen die „Ausdrücke" ist eine ebensolche Voraussetzung der geistigen Kultur, wie der Kampf gegen Schmutz und Läuse die Voraussetzung der materiellen Kultur ist. Die Zügellosigkeit der Zunge auszurotten, ist gar keine so einfache und leichte Aufgabe, da die Wurzeln dieser Ungezügeltheit nicht im Wort, sondern im Seelenleben und im Alltagsleben liegen. Die Initiative der Fabrik „Pariser Kommune" ist natürlich in jeder Weise zu begrüßen, vor allem aber ist den Initiatoren Ausdauer und Hartnäckigkeit zu wünschen, denn die psychischen Gewohnheiten, die von Generation auf Generation übergingen und bis auf den heutigen Tag die ganze Atmosphäre sättigen, lassen sich nicht leicht ausrotten, während wir doch so oft mit aller Wucht vorwärts stürmen, uns überheben, eine resignierende Handbewegung machen und alles beim alten lassen. Wir wollen hoffen, dass die Arbeiterinnen, und vor allem die Kommunistinnen, die Initiative der „Pariser Kommune" unterstützen werden. Man kann sagen, dass in der Regel – natürlich gibt es Ausnahmen – ein Schimpfer und Schmäher sich der Frau gegenüber verächtlich und dem Kinde gegenüber achtlos verhalten wird, und das nicht nur unter den rückständigen Massen, sondern nicht selten auch unter den Fortschrittlichsten, zuweilen auch bei sehr „Verantwortlichen". Man kann ja nicht leugnen, dass die alte vaterländische Phraseologie (Schtschedrin nannte sie Mityrognosie) bei uns auch heute noch, im sechsten Jahre nach dem Oktober, und zwar sogar unter den so genannten „Spitzen" entwickelt ist. Außerhalb der Stadtgrenzen, im Besonderen außerhalb der Grenzen der Hauptstädte, halten es manche „Würdenträger" gewissermaßen sogar für ihre Pflicht, mit „Ausdrücken" um sich zu werfen, da sie darin offenbar einen der Wege sehen, mit der Bauernschaft in enge Berührung zu kommen…. Unser Leben ist in seiner wirtschaftlichen Grundlage und in seinen kulturellen Formen sehr widerspruchsvoll. Wir sehen hier bei uns, im Mittelpunkt des Landes, in unmittelbarer Nähe von Moskau, ungeheure Sumpfflächen, unwegsame Wälder und gleich dicht daneben Fabriken, die den europäischen oder amerikanischen Ingenieur durch ihre Technik in Erstaunen versetzen. Dieselben Kontraste bestehen auch in unseren Sitten. Und zwar nicht nur in jenem Sinne, dass wir Schulter an Schulter mit Kit Kitytsch dem Jüngeren, der durch die Revolution, die Expropriation, das Gaunertum, die illegale Spekulation und die legalisierte Spekulation hindurchgegangen ist und sein inneres Vorstädternaturell fast unberührt erhalten hat, den besten Typ des Arbeiterkommunisten sehen, der Tag für Tag den Interessen der Weltarbeiterklasse lebt und bereit ist, in einem beliebigen Moment für die Sache der Revolution in einem beliebigen Lande zu kämpfen, das er selbst vielleicht nicht einmal auf der Karte zu finden in der Lage sein würde. Neben diesem sozialen Kontrast – dem Schweinestumpfsinn und dem höchsten revolutionären Idealismus – können wir nicht selten psychische Kontraste in einem und demselben Kopfe, in einem und demselben Bewusstsein beobachten. Da ist einer ein aufrichtiger und treuer Kommunist, die Frauen aber sind für ihn „Weiberpack" (was für ein widerliches Wort!), von dem man gar nicht ernsthaft reden kann. Oder ein verdienter Kommunarde macht plötzlich eine Äußerung, dass man geradezu aus dem Zimmer hinauslaufen möchte. Das geschieht daher, weil die verschiedenen Gebiete des menschlichen Bewusstseins sich durchaus nicht parallel und gleichzeitig verändern und umgestalten. Hier herrscht auch eine eigene Art der Ökonomie. Das Seelenleben ist sehr konservativ, und unter dem Einflüsse der Anforderungen und Schläge des Lebens verändern sich in erster Linie jene Gebiete des Bewusstseins, die diesen Schlägen unmittelbar ausgesetzt sind. Unsere soziale und politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte dagegen verlief in einem noch nie dagewesenen und unerhörten Tempo, mit noch nie dagewesenen und unerhörten plötzlichen Wendungen und Sprüngen. Darum sind ja auch die Zerrüttung und das Chaos bei uns so tief. Aber es wäre unrichtig, zu meinen, dass diese Geschwister nur in der Produktion oder im Staatsapparat wirtschaften. Nein, man braucht es gar nicht zu verhehlen, dass sie auch in den Köpfen herrschen und die unglaublichsten Kombinationen der fortschrittlichsten, aufrichtigsten und durchdachtesten Überzeugungen (in dieser Hinsicht geben wir Europa und Amerika manche Lehre!) in Verbindung mit Gesinnungen, Gewohnheiten und teilweise auch Ansichten erzeugen, die geradezu aus dem Mittelalter kommen. Die geistige Front auszurichten, d. h. alle Gebiete des Bewusstseins mit der marxistischen Methode durchzuarbeiten, – das ist die allgemeine Formel der Erziehung und Selbsterziehung, vor allem für unsere eigene Partei, von ihren Spitzen beginnend. Und diese Aufgabe ist wiederum furchtbar kompliziert und nicht allein durch Schul- und Literaturmittel lösbar, denn die letzten Wurzeln der Gegensätze und der psychischen Unstimmigkeit liegen in der Zerrüttung und dem Chaos des Seins. Denn das Bewusstsein wird ja letzten Endes durch das Sein bestimmt. Aber die Abhängigkeit ist hier keine mechanische und keine automatische, sondern eine aktive oder auf gegenseitiger Aktivität beruhende. Man muss darum an die Lösung der Aufgabe von verschiedenen Seiten her und unter anderem auch von jener Seite her herantreten, von der aus es die Arbeiter der Fabrik „Pariser Kommune" taten. Wir wünschen ihnen also Erfolg! P. S. Der Kampf gegen die Schimpfworte ist zugleich ein Bestandteil des Kampfes um die Reinheit, Klarheit und Schönheit der Sprache. Reaktionäre Dummköpfe behaupten, dass die Revolution, wenn sie die russische Sprache auch noch nicht zugrunde gerichtet hat, sie doch jetzt zugrunde richtet. Es ist bei uns tatsächlich eine ungeheure Zahl von Worten zufälliger Herkunft gebräuchlich geworden, die zuweilen offenkundig überflüssig sind, provinzielle Ausdrücke, die zuweilen dem Geiste der Sprache von Grund aus feindlich sind usw. Die reaktionären Dummköpfe irren sich aber hinsichtlich der Schicksale der russischen Sprache in der gleichen Weise wie hinsichtlich alles Übrigen. Die Sprache wird aus den revolutionären Erschütterungen erstarkt, verjüngt, – mit gesteigerter Elastizität und Sensibilität hervorgehen. Unsere vorrevolutionäre, offenkundig in der Verknöcherung befindliche Kanzlei- und liberale Zeitungssprache wird bereichert werden – ist schon in bedeutendem Maße bereichert worden – durch neue wortplastische Mittel, durch neue viel genauere und dynamischere Ausdrücke. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass im Laufe dieser stürmischen Jahre auch eine nicht geringe Verunreinigung der Sprache eingetreten ist. Die Hebung unseres Kulturniveaus muss und wird unter anderem auch zum Ausdruck kommen in der Ausscheidung aller unnötigen oder der Natur der Sprache fremden Worte und Ausdrücke aus dem Wörterschatz unserer Sprache, unter Beibehaltung der unbestreitbaren und unschätzbaren sprachlichen Errungenschaften der revolutionären Epoche. Die Sprache ist ein Instrument des Denkens. Genauigkeit und Richtigkeit der Sprache sind notwendige Voraussetzungen der Richtigkeit und Genauigkeit des Denkens. Zum ersten Mal in der Geschichte ist bei uns die Arbeiterklasse zur Macht gelangt. Sie hat einen reichen Vorrat werktätiger Lebenserfahrung und eine auf dieser Erfahrung gewachsene Sprache mitgebracht. Aber sie hat auch eine ungenügende elementare, geschweige denn literarische Bildung mitgebracht. Das ist der Grund, warum die regierende Arbeiterklasse, die durch ihre ganze soziale Natur Garantien einer weiteren mächtigen Entwicklung der russischen Sprache gibt, nicht immer den in die Alltags- und Zeitungssprache eingedrungenen Wörtern und Ausdrücken – die überflüssig, unnütz, unrichtig und zuweilen widerlich sind – den notwendigen Widerstand entgegensetzt.1 Bei uns sind grobe Sprachunrichtigkeiten gebräuchlich geworden, deren Ursache die Umgestaltung von Fremdworten und ihre Anpassung an die russische Sprache ist. So sagen bei uns nicht selten sehr gute Arbeiterredner: konstantieren statt konstatieren; Inzindent statt Inzident; und umgekehrt Instikt statt Instinkt; legulieren und legulär statt regulieren und regulär. Diese Verstümmelungen waren im Arbeitermilieu auch früher, vor der Revolution, üblich. Aber jetzt erwerben sie gewissermaßen Bürgerrecht. Solche und ähnliche fehlerhafte Ausdrücke werden von niemandem korrigiert, offenbar aus Erwägungen falscher Eigenliebe. Das geht nicht. Der Kampf um die Elementarbildung und Kultur muss für die fortgeschrittenste Schicht der Arbeiter den Kampf um die Beherrschung der russischen Sprache in ihrem ganzen Reichtum, in ihrer ganzen Elastizität und Feinheit bedeuten. Die erste Bedingung hierfür muss die Ausrottung der falschen, fremdstämmigen Worte und Ausdrücke aus der lebendigen Alltagssprache sein. Auch die Sprache bedarf ihrer eigenen Hygiene. Die Arbeiterklasse bedarf einer gesunden Sprache nicht weniger, sondern noch mehr als alle anderen Klassen, denn zum ersten Mal in der Geschichte beginnt die Arbeiterklasse die ganze Natur, das ganze Leben bis in seine tiefsten Grundlagen mit seinem eigenen Denken zu durchdenken: für diese Arbeit braucht sie das Instrument des klaren, reinen geschliffenen Wortes. 1 Der Verfasser führt im Weiteren eine Reihe von falschen Redewendungen und Ausdrücken an, die sich nicht ins Deutsche übertragen lassen. Anm. d. Übers. |
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