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Leo Trotzki 19231024 Brief an das ZK und die ZKK

Leo Trotzki: Brief an das ZK und die ZKK

[Zusammenfassung der menschewistischen Emigrantenzeitung Sotsialistitscheskij Westnik, nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band I, Westberlin 1976, S 206-208. Der vollständige Text wurde veröffentlicht in Schriften 3.1 Hamburg 1997, S. 171-209]

Wir zitieren wörtlich die wichtigsten Auszüge aus dem zweiten Brief an ZK und ZKK:

Absatz 2: „Die Versuche, den Namen Lenins für unsere Meinungsverschiedenheiten heranzuziehen." „Der Brief der Mitglieder des Politbüros macht den Versuch, den Namen des Gen. Lenin für die gegenwärtigen strittigen Fragen heranzuziehen, wobei die Sache so dargestellt wird, als gäbe es einerseits eine Fortsetzung der Politik des Gen. Lenin und andererseits den Kampf gegen diese Politik. In vorsichtigerer und verdeckterer Form sind Versuche einer solchen Darstellung von Meinungsverschiedenheiten mehrfach gemacht worden – sowohl während der Vorbereitung zum 12. Parteitag als auch besonders danach. Gerade weil diese Versuche die Form von Anspielungen und Andeutungen hatten, war es nicht möglich, darauf zu reagieren. Und gerade darum wurden diese Andeutungen gemacht, weil sie nur mit Schweigen beantwortet werden konnten. Die jetzige ;Antwort' der Mitglieder des Politbüros, die diese Anspielungen konkreter zu formulieren versucht, zeigt eben dadurch, wie wir gleich sehen werden, deren völlige Haltlosigkeit und gibt gleichzeitig die Möglichkeit, sie klar und eindeutig zu widerlegen. Ich werde die strittigen Fragen Punkt für Punkt erörtern und dabei genaue Zitate und Verweise auf leicht der Überprüfung zugängliche Dokumente geben.

1) Eine der zentralen Fragen auf dem Gebiete der Wirtschaft war und ist die Frage nach der Rolle der planvollen Leitung, d. h. der systematischen Verbindung der grundlegenden Elemente der staatlichen Wirtschaft im Rahmen des Prozesses ihrer Anpassung an den wachsenden Markt. Ich stand und stehe auf dem Standpunkt, dass eine der wichtigsten Ursachen für unsere wirtschaftlichen Krisen das Fehlen einer richtigen einheitlichen Regulierung von oben ist. Es ist vollkommen richtig, dass ich in der Frage nach der Organisation der planvollen Leitung Meinungsverschiedenheiten mit dem Gen. Lenin hatte. Die Autorität Lenins bedeutete für mich nicht weniger als für jedes andere Mitglied des ZK. Doch ich war der Meinung und bin es auch jetzt noch, dass die Partei die Mitglieder des ZK dazu auswählt, dass sie im ZK das, was sie in jedem Einzelfall für richtig halten, verteidigen. Wie ist denn das Problem vom Gen. Lenin selbst gelöst worden? Am 2. Juli 1923 hat das Politbüro von Nadeschda Konstantinowna Krupskaja eine besondere Notiz Lenins ,Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission (Gosplan) mit gesetzgeberischen Funktionen' erhalten, die am 27. Dez. 1922 diktiert worden war. In diesem Dokument schreibt Lenin folgendes: ,Diesen Gedanken hat Gen. Trotzki, scheint mir, schon vor langem geäußert. Ich trat dagegen auf, weil ich der Ansicht war, dass sich dann im System unserer gesetzgeberischen Institutionen eine tiefgehende Unstimmigkeit zeigen werde. Aber nach aufmerksamer Prüfung finde ich, dass der Gedanke eigentlich einen gesunden Kern hat, nämlich: die Staatliche Plankommission steht etwas abseits von unseren gesetzgeberischen Institutionen, obwohl sie als ein Gremium von Fachleuten, Experten, Vertretern der Wissenschaft und Technik im Grunde die meisten Voraussetzungen besitzt, um die Dinge richtig zu beurteilen. (…)

In dieser Hinsicht, denke ich, kann und muss man Gen. Trotzki entgegenkommen, nicht aber darin, dass entweder jemand aus dem Kreis unserer politischen Führer oder der Vorsitzende des Obersten Volkswirtschaftsrates usw. der Staatlichen Plankommission vorstehen soll.' und zum Schluss spricht sich Lenin gegen eine Bestimmung der Arbeit der Staatlichen Plankommission aus, in der sie sich nur mit einem bestimmten Auftrag beschäftigt und empfiehlt stattdessen eine Struktur, in der die Mitglieder des Gosplan ,… alle Fragen, für die die Staatliche Plankommission zuständig ist, in ihrer Gesamtheit lösen könnten'.

Wie man sieht, ist das Problem hier hinreichend klar und umfassend behandelt.

2) Die andere wirtschaftliche Frage, in der es im Plenum des ZK kurz vor dem 12. Parteitag Meinungsverschiedenheiten gab, an denen Lenin beteiligt war, betraf das Außenhandelsmonopol, d. h. die Frage, die ich auf dem 12.Parteitag – ohne Einwand von irgend jemandes Seite – als einen der Grundpfeiler der sozialistischen Diktatur unter den Bedingungen kapitalistischer Umzingelung bezeichnete. In dieser Frage habe ich einen ziemlich ausführlichen Briefwechsel mit Lenin. Ich zitiere hier in voller Länge nur den Brief Lenins vom 13. Dez. 1922. Dieser beleuchtet klar die Behandlung der Frage durch ihn." Danach wird der Brief Lenins zitiert, in dem letzterer darauf verweist, dass bei ihm in der angeschnittenen Frage „maximale Übereinstimmung" mit Trotzki besteht, und in dem er diesem die Verteidigung ihres gemeinsamen Standpunktes auf dem bevorstehenden Plenum des ZK überträgt.

3) In diesem Absatz beruft sich Trotzki auf den ihm von Lenin erteilten Auftrag zur Verteidigung der grusinischen Angelegenheit im ZK der Partei (siehe „Sots. Westn." No. 23 – 24 (69 – 70) v. 17. Dez. 1923).

4) „Eines der zentralen Probleme ist die von Lenin aufgeworfene Frage der Reorganisation des Rabkrin (Arbeiter- und Bauerninspektion) und der Zentralen Kontrollkommission. Es ist bemerkenswert, dass sogar diese Frage als Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und Lenin dargestellt wurde und dargestellt wird, obwohl diese Frage, ähnlich der nationalen, eine direkt den Gruppierungen im Politbüro widersprechende Einschätzung ergibt. Es ist völlig richtig, dass ich zum alten Rabkrin ein sehr schlechtes Verhältnis hatte. Doch Lenin hat in seinem Artikel „Lieber weniger und besser" eine derart vernichtende Einschätzung des Rabkrin gegeben, wie ich sie niemals zu geben gewagt hätte: ,Das Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion genießt gegenwärtig nicht die geringste Autorität. Jedermann weiß, dass es keine schlechter organisierten Institutionen als die unserer Arbeiter- und Bauerninspektionen gibt und dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen von diesem Volkskommissariat rein gar nichts zu erwarten ist.'

Wenn man daran denkt, wer am längsten an der Spitze des Rabkrin stand, dann ist es nicht schwer zu verstehen, gegen wen diese Charakteristik ebenso wie auch der Artikel zur nationalen Frage gerichtet ist.

Wie hat sich jedoch das Politbüro zu dem von Lenin vorgeschlagenen Plan der Reorganisierung des Rabkrin verhalten? Bucharin konnte sich nicht entschließen, den Artikel Lenins zu drucken, der seinerseits auf dem unverzüglichen Abdruck bestand. Nad. Konst. Krupskaja informierte mich telefonisch über diesen Artikel und bat um mein Eingreifen mit dem Ziel, den Artikel so schnell wie möglich erscheinen zu lassen. Auf der auf meinen Vorschlag hin unverzüglich einberufenen Sitzung des Politbüros waren alle Anwesenden – Stalin, Molotow, Kuibyschew, Rykow, Kalinin, Bucharin – nicht nur gegen den Plan Lenins, sondern auch gegen den Abdruck des Artikels. Besonders scharf und kategorisch drückten sich die Mitglieder des Sekretariats aus. Angesichts der hartnäckigen Forderungen Lenins, man möge ihm den Artikel abgedruckt zeigen, schlug der Gen. Kuibyschew, der zukünftige Volkskommissar des Rabkrin, auf der genannten Politbürositzung vor, eine besondere Nummer der ,Prawda' mit dem Artikel Lenins in einem Exemplar zu drucken, um ihn zu beruhigen, gleichzeitig aber den Artikel vor der Partei zu verheimlichen … Gen. Kuibyschew, das frühere Mitglied des Sekretariats, wurde an die Spitze der ZKK gestellt. Anstelle des Kampfes gegen den Plan Lenins zur Reorganisierung des Rabkrin wurde der Plan gefasst, diesen Plan zu ,entschärfen'. Hat die ZKK (unter der Leitung von Kuibyschew) hierbei den Charakter einer unabhängigen und unvoreingenommenen Parteiinstitution bewahrt, die die Grundlagen von Parteirecht und -einheit gegen allerlei parteiadministrative Auswüchse verteidigt und stärkt? Ich werde in die Erörterung dieser Frage hier nicht eintreten, weil ich meine, dass die Frage ohnehin klar ist. So also sehen die lehrreichsten Episoden der letzten Zeit in meinem .Kampf gegen die Politik Lenins aus."1

1 Das erste Anführungszeichen hierzu fehlt, es wurde sinngemäß an den Anfang von Punkt 4 gestellt. Anm. d. Übers.

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