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Leo Trotzki 19230711 Auf dem Wege zur Umgestaltung der Sitten

Leo Trotzki: Auf dem Wege zur Umgestaltung der Sitten

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 150 (24. September 1923), S. 1299 f.]

Die kommunistische Theorie ist unserer russischen alltäglichen Wirklichkeit um einige Dutzend Jahre, auf manchen Gebieten sogar um einige Jahrhundert voraus. Ohne dies würde die Kommunistische Partei keine große revolutionäre Kraft in der Geschichte sein. Die kommunistische Theorie findet durch ihren Realismus und durch ihren dialektischen Scharfsinn die politischen Methoden, die den Einfluss der Partei in jeder beliebigen Situation sichern. Aber der politische Gedanke ist ein Ding und die Volkssitten sind ein anderes Ding. Die Politik wandelt sich schnell, aber die Sitten hängen zäh am Alten.

Daraus erklären sich die vielen Konflikte in den Arbeiterkreisen, wo die neue Erkenntnis mit dem alten Herkommen kämpft. Diese Konflikte sind um so schwerer, als sie ihren Ausdruck nicht in der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Lebens finden. Die Literatur und unsere Presse sagen darüber nichts. Die neuen literarischen Richtungen, die mit der Revolution gehen wollen, kümmern sich nicht um die Sitten, denn sie wollen das Leben umgestalten, aber nicht das Leben schildern! Man kann indessen neue Sitten nicht aus dem Nichts schaffen, man muss sie herbeiführen mit Hilfe der schon vorhandenen, einer Entwicklung fähigen Elemente. Daher muss man wissen, welches diese Elemente sind. Dies gilt nicht nur für die Umgestaltung der Sitten, sondern überhaupt für jede bewusste menschliche Tätigkeit. Man muss also zuerst wissen, was da ist, und in welcher Weise es sich umgestaltet, um an der Neuschaffung der Sitten mitwirken zu können.

Darum muss man uns zunächst zeigen, was sich wirklich in der Fabrik, in den Arbeiterkreisen, in der Genossenschaft, im Klub, in der Schule, auf der Straße, im Kabarett abspielt. Dies muss man verstehen, das heißt, die Überbleibsel der Vergangenheit und die Keime der Zukunft erkennen. Die Forderung, in diesem Sinn zu arbeiten, richtet sich an unsere Schriftsteller und Journalisten. Sie sollen uns das Leben schildern, wie es aus dem Revolutionssturm hervorgegangen ist. Das Studium der Arbeitersitten muss eine Hauptaufgabe unserer Journalisten werden, mindestens derer, die für solche Dinge Augen und Ohren haben. Unsere Presse muss dafür sorgen, dass die Geschichtsschreibung der revolutionären Sitten zustande kommt. Die Presse muss auch die Aufmerksamkeit ihrer Mitarbeiter aus der Arbeiterschaft auf diese Fragen lenken. Unsere meisten Zeitungen könnten in dieser Hinsicht viel mehr und viel besseres bieten.

Um eine höhere Kulturstufe zu erreichen, muss die Arbeiterklasse und vor allem ihre Vorhut bewusst ihre Sitten umändern. Sie muss bewusst auf dieses Ziel hinarbeiten. Die Bourgeoisie hat, durch ihre Intellektuellen, diese Aufgabe schon in weitem Umfange erfüllt, bevor sie noch zur Macht kam. Schon damals, als die Bourgeoisie noch eine oppositionelle Klasse war, haben die Maler, die Dichter und die Schriftsteller für sie gedacht. In Frankreich war das 18. Jahrhundert, das man das Jahrhundert der Aufklärung nennt, gerade die Zeit, in der die bürgerlichen Philosophen die Auffassung über die gesellschaftlichen und privaten Sitten änderten und sich bemühten, die Sitten der Herrschaft der Vernunft unterzuordnen. Sie beschäftigten sich mit politischen Fragen, mit der Kirche, mit den Beziehungen zwischen Mann und Frau, mit der Erziehung usw. Ohne Zweifel hat schon die bloße Tatsache, dass diese Probleme diskutiert wurden, stark dazu beigetragen, die geistige Kultur der Bourgeoisie zu heben. Aber alle Anstrengungen, die die Philosophen des 18. Jahrhunderts machten, um die gesellschaftlichen und privaten Beziehungen der Herrschaft der Vernunft zu unterwerfen, scheiterten an der Tatsache des Privateigentums an den Produktionsmitteln, das die Grundlage der im Sinne der Vernunft aufgebauten Gesellschaft sein sollte. Denn das Privateigentum bedeutet das freie Spiel der wirtschaftlichen, durchaus nicht von der Vernunft beherrschten Kräfte auf dem Markt. Diese wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmen die Sitten, und solange das Bedürfnis des Warenmarktes die Gesellschaft regiert, ist es nicht möglich, die Volkssitten der Vernunft unterzuordnen. Daher erklärt sich die geringe praktische Wirkung, die von den Gedanken der Philosophen des 18. Jahrhunderts ausging, ungeachtet des Scharfsinns und der Kühnheit ihrer Schlussfolgerungen.

In Deutschland kam die Periode der Aufklärung und der Kritik um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Das „junge Deutschland" unter Führung von Heine und Börne stellte sich an die Spitze der Bewegung. Wir sehen hier die kritische Arbeit des linken Flügels der Bourgeoisie, der dem Knechtssinn, der kleinbürgerlichen Verdummung und den Vorurteilen den Krieg erklärt, und mit noch mehr Skeptizismus als seine französischen Vorgänger die Herrschaft der Vernunft aufzurichten versucht. Diese Bewegung verschmolz später mit der kleinbürgerlichen Revolution von 1848, die, weit davon entfernt, das gesamte menschliche Leben umzugestalten, nicht einmal die vielen kleinen deutschen Dynastien wegfegen konnte.

In unserem rückständigen Russland erlangten die Aufklärung und die Kritik der Gesellschaft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung. Tschernyschewski, Pissarew und Dobroljubow, herangebildet in der Schule von Bielinski, richteten ihre Kritik gegen die Rückständigkeit und den reaktionären asiatischen Charakter der Sitten viel stärker als gegen die wirtschaftlichen Verhältnisse. Dem hergebrachten Menschentypus setzten sie den neuen realistischen Menschen entgegen, der gemäß der Vernunft leben will und zu einer Persönlichkeit wird, die mit der Waffe des kritischen Gedankens ausgestattet ist. Diese Bewegung, die mit den sogenannten „volkstümlichen" Evolutionären (Narodniki) in Verbindung steht, hatte nur geringe kulturelle Bedeutung. Denn, wenn die französischen Denker des 18. Jahrhunderts nur einen sehr geringen Einfluss auf die Sitten gewannen – da diese von den ökonomischen Verhältnissen und nicht von der Philosophie beherrscht werden – und wenn der unmittelbare kulturelle Einfluss der deutschen Gesellschaftskritiker noch bescheidener war, so war der direkte Einfluss dieser russischen Bewegung auf die Volkssitten völlig unbedeutend. Die historische Rolle dieser russischen Denker einschließlich der Narodniki bestand darin, dass sie die Bildung der Partei, des revolutionären Proletariats vorbereiteten.

Nur die Eroberung der Macht durch die. Arbeiterklasse schafft die Bedingungen für eine vollständige Umgestaltung der Sitten. Man kann die Sitten nicht rationalisieren, d. h. in Einklang mit den Forderungen der Vernunft bringen, ohne auch die Produktion zu rationalisieren, denn die Wurzeln der Sitten liegen in der Produktion. Der Sozialismus hat das Ziel, die gesamte Produktion der menschlichen Vernunft unterzuordnen. Dagegen beschränkten sich die fortgeschrittensten Richtungen der Bourgeoisie darauf, auf der einen Seite die Technik zu rationalisieren (durch Anwendung der Naturwissenschaft, der Technologie, der Chemie, der Erfindungen, der Maschinen) und auf der anderen Seite die Politik (durch den Parlamentarismus), aber nicht die Wirtschaft, die der Herrschaft der blinden Konkurrenz unterworfen blieb. Deshalb bleiben die Sitten der bürgerlichen Gesellschaft von einem blinden und nicht rationellen Element abhängig.

Wenn die Arbeiterklasse die Macht übernimmt, stellt sie sich die Aufgabe, die ökonomischen Grundlagen der gesellschaftlichen Verhältnisse einer Kontrolle und einer bewussten Ordnung zu unterwerfen. So und nur so ergibt sich die Möglichkeit einer bewussten Umgestaltung der Sitten, Unsere Erfolge auf diesem Gebiet sind von unseren Erfolgen auf wirtschaftlichem Gebiet abhängig. Indessen könnten wir schon in unserer jetzigen wirtschaftlichen Lage in unsere Sitten viel mehr Kritik, Initiative und Vernunft hinein tragen. Es ist dies eine der Aufgaben unserer Zeit. Freilich, es ist klar, dass die völlige Umgestaltung der Sitten: die Befreiung der Frau von der Haussklaverei, die gesellschaftliche Erziehung der Kinder, die Befreiung der Ehe von jedem wirtschaftlichen Zwang usw., erst das Ergebnis einer langen Entwicklung sein und sich in dem Maße herausbilden wird, wie die wirtschaftlichen Kräfte des Sozialismus über die Kräfte des Kapitalismus die Oberhand gewinnen. Die kritische Umgestaltung der Sitten ist erforderlich, damit die konservativen, althergebrachten Lebensformen nicht fortbestehen, trotz der Fortschrittsmöglichkeit, die unsere wirtschaftlichen Hilfsquellen uns schon heute gestatten oder doch morgen gestatten werden.

Auf der anderen Seife stärken auch die geringsten Erfolge auf dem Gebiet der Sitten, die eine Hebung der Kulturstufe des Arbeiters und der Arbeiterin herbeiführen, unsere Fähigkeit, die Produktion zu rationalisieren und die sozialistische Akkumulation zu fördern. Diese gibt uns ihrerseits die Möglichkeit, neue Eroberungen auf dem Gebiet der Sitten zu machen. Zwischen den beiden Gebieten besteht also eine dialektische Abhängigkeit. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind der grundlegende Faktor der Geschichte, aber wir als Kommunistische Partei und als Arbeiterstaat können die Wirtschaft nur mit Hilfe der Arbeiterklasse . beeinflussen, indem wir unaufhörlich die technische und kulturelle Leistungsfähigkeit ihrer einzelnen Elemente fördern. Im Arbeiterstaat arbeitet die Kultur für den Sozialismus, der Sozialismus aber bietet die Möglichkeit zur Schaffung einer neuen Menschheitskultur, die von Klassenunterschieden nichts weiß.

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