Leo Trotzki: Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften Rede auf dem X. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands. Moskau, März 1921. [Nach Russische Korrespondenz, II. Jahrgang, Heft 5, Mai 1921, S. 310-317] Genossen, wir werden gleich eine bestimmte Resolution zur Gewerkschaftsfrage annehmen müssen. Wir wissen selbstverständlich, dass alle unsere Fragen in die Haupt- und Kernfrage der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Klassen und Parteien münden. Im Gegensatz hierzu hat der Genosse Sinowjew bei Beurteilung unseres Streites als wichtigste Voraussetzung betont, dass wir, die „Produktionsprediger", die Rolle der Bauernschaft und ihre Wechselbeziehungen zu der Arbeiterklasse unbeachtet lassen. Auf diesem Kongress sind wir gezwungen, den Verhältnissen des kleinbürgerlichen Besitzes im Wirtschaftsleben und der Psychologie der Bauernschaft große Zugeständnisse zu machen. Dies haben, so sagt der Genosse Sinowjew, die Produktionsprediger d. h. die Anhänger der Plattform Trotzki und Bucharin, übersehen. Bei dieser Frage ist die Fehlerhaftigkeit, das Irrige an der Stellungnahme des Genossen Sinowjew am deutlichsten zu erkennen. Ich muss sagen, dass ich gerade vor einem Jahre auf dem IX. Kongress, nachdem ich etwa 1½ Monate am Ural tätig gewesen war, wo ich mit allen praktischen Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus durch die Räteregierung näher in Berührung gekommen war und vieles bei den Ortsfunktionären hinzugelernt hatte, beim Zentralkomitee im Februar vorigen Jahres einen schriftlichen Antrag eingebracht habe, den ich an alle Mitglieder des Parteitages verteilen kann und der nahezu Wort für Wort mit dem Vorschlag übereinstimmt, die Zwangsablieferung durch eine Lebensmittelsteuer zu ersetzen, und den Ihr jetzt durchberaten und annehmen werdet. Ich habe nachgewiesen, dass es notwendig ist, da unsere Lebensmittelpolitik sich auf der Grundlage einer kleinbürgerlichen Wirtschaft entwickelt, auf diesem Gebiet eine Anregung, das Bestreben zur Hebung der Bauernwirtschaft zu schaffen, was bei Aufrechterhaltung der Diktatur der Arbeiterklasse durch Zugeständnisse wirtschaftlicher Art erreicht werden kann. Nach Verlauf eines Jahres erkannte man die Berechtigung dieses Vorschlages. Ich geriet damals nicht in Verzweiflung, denn ich war überzeugt, dass wir dahin kommen würden. So liegen die Dinge. In dieser Beziehung ist die Richtigkeit der Voraussicht ganz auf unserer Seite. Jetzt einiges über die Wechselbeziehungen zwischen Partei und Klasse. Hier handelte es sich bei uns angeblich um einen Kampf für oder gegen die Arbeiterdemokratie, und die „Arbeiteropposition" trat mit gefährlichen Losungen hervor, indem sie die Prinzipien der Demokratie zum Fetisch erhob. Das Recht der Arbeiterklasse auf Wahlen wurde gewissermaßen über die Partei gestellt. Auf dem formellen Prinzip der Arbeiterdemokratie beruht jedoch die Diktatur in jedem einzelnen Augenblick. Gewiss, die Arbeiterdemokratie ist die einzige Methode, durch die in immer steigendem Maße die Massen in das politische Leben einbezogen werden. Es ist das eine Binsenwahrheit. Ich gebe zu, dass diese Binsenwahrheit mitunter absichtlich oder unabsichtlich in Vergessenheit geriet. Es besteht die Notwendigkeit, sie ins Gedächtnis zurückzurufen, Verbesserungen vorzunehmen, neue Agitationsmethoden zur Anwendung zu bringen u. a. m. Dies alles jedoch unter der Voraussetzung, dass die Partei als Ganzes durch die einmütige Erkenntnis dessen verbunden ist, dass die Partei die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse vertritt, selbst dann, wenn zeitweilig ihre Stimmung schwankend wird. Sollte dies von der sogenannten Arbeiteropposition nicht begriffen werden, so könnte das die unheilvollsten Folgen haben. Ich behaupte, dass der Genosse Sinowjew während der ersten Periode unseres Kampfes, insbesondere gegen den Genossen Sinowjew, der die ganze Zeit als der hervorragendste Verfechter der Thesen der Zehn auftrat, die Rolle der Partei gegenüber derjenigen der Arbeiterdemokratie zu einer ganz nichtigen machte. Als ich nachwies, dass man die Arbeiterdemokratie dem Kriterium der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse unterordnen müsse, erklärte der Genosse Kamenew, der später der Plattform der Zehn beitrat, im Laufe der Diskussion, die Arbeiterdemokratie wäre für Trotzki ein „bedingter" Grundsatz. Allerdings. Behandeln wir die Frage so, dass wir sagen, die Arbeiterdemokratie wäre etwas Unbedingtes, etwas Allüberragendes, so hätte der Genosse Schljapnikow mit seiner ersten Formulierung recht, die besagt, jedes Werk hätte seine Verwaltung, jeder Bezirkskongress der Erzeuger das leitende Organ zu wählen und so fort bis zum Allrussischen Kongress der Erzeuger. Betrachtet man die Sache vom formellen Standpunkt, so ist das die am deutlichsten hervortretende Richtungslinie der Arbeiterdemokratie. Dieser Frage galt der Hauptkampf. Soweit der Genosse Lenin sich an der ersten Diskussion beteiligte, verhielt er sich dieser Frage gegenüber übertrieben vorsichtig; er sprach nur andeutungsweise, um den Genossen Sinowjew nicht zu sehr aus dem Konzept zu bringen. Diesen Eindruck gewannen die Genossen der verschiedenen Lager in dieser Frage. Und heute hat sich das erneut bestätigt. Zu dem Entwurf der Entschließung der Zehn übergehend, muss ich die Genossen daran erinnern, dass man ja nicht über die Reden, sondern über diesen Entwurf wird abstimmen müssen. Ich behaupte, dass man für diesen Entwurf nicht stimmen darf, da er in höchstem Grade – wie soll ich sagen – unvollkommen ist. Genosse Lenin hat mir hier gewissermaßen zum Vorwurf gemacht (den Genossen Bucharin hat er aus dem gleichen Grunde des Eklektizismus beschuldigt), dass ich angeblich die Wirtschaft der Politik gegenüberstelle, wo doch die Politik eine konzentrierte Ökonomie darstellt. Ich sagte bereits, und sage es wieder, dass die Frage einer Verständigung innerhalb der Partei, einer Erneuerung, eines Kompromisses und insbesondere einer mit allen Mitteln zu fördernden Erweiterung des Rahmens der Arbeiterdemokratie von großer Bedeutung ist, aber trotzdem einem wirtschaftlichen Kriterium unterworfen sein muss. Hierin liegt kein Übersehen der politischen und wirtschaftlichen Wechselbeziehungen. Die heranrückende Krise hatten wir vorausgesehen. Sie trat früher nur als Symptom auf verschiedenen Gebieten der Räte-, Partei- und sonstigen Tätigkeit auf. In den Gewerkschaften kam sie in dem Druck der Konsumentenpsychologie der Arbeiterklasse zum Ausdruck, darin, dass die Arbeitermassen in ungenügendem und in letzter Zeit in immer geringer werdendem Maße die Psychologie von Erzeugern bekundeten. Die Krise bestand darin, dass in den Gewerkschaften der Druck des reinen Konsumentenstandpunktes stärker wurde, der auf die Gewerkschaftler von unten stärker und unmittelbarer als von oben ausgeübt wurde. Dies fand zwar unten keinen theoretischen Ausdruck, wohl aber oben. Genosse Sinowjew sagt, wir hätten es mit einer allgemeinen und nicht mit einer gewerkschaftlichen Krise zu tun. Das ist jedoch nur eine allgemeine Phrase über die Krise. Wir gehen von der Analyse der Krisenerscheinungen auf den verschiedenen Gebieten aus. Wir sagen, dass eine Gewerkschaftskrise bestehe, in der die Krise der Revolution, eine Krise, die wir überwinden werden, die aber in der Tat zurzeit besteht, besonders zum Ausdruck kommt. Hieraus wird überraschenderweise gefolgert, dass wir im Unrecht waren, als wir die Krise konstatierten. Uns wird entgegengehalten, es liege keine Krise, sondern ein Wachstum vor. Das sei das ganze. Genosse Sinowjew hat einfach die zweite Hälfte seiner Behauptung vergessen, nämlich, dass wir es nicht mit einer Krise, sondern mit einem Wachstum zu tun hätten. Wie können wir jetzt in diesem Augenblick davon sprechen, dass wir es nicht mit einer Krise, sondern mit einem Wachstum zu tun hätten? Es wäre noch logisch gewesen zu sagen: „Trotzki hatte sich geirrt und nicht begriffen, dass eine tiefgehendere Krise und nicht nur eine selbständige Gewerkschaftskrise heranrückt." Das wäre wenigstens logisch, wenn auch tatsächlich unrichtig gewesen. Wie kann man aber sagen, dass die Krise, die die Gewerkschaften gegenwärtig durchmachen müssen, keine Krise, sondern ein Symptom des Wachstums sei! Statt zu sagen, dass die Gewerkschaftskrise nur die Widerspiegelung einer tiefgehenderen Krise sei, wird uns erklärt, es handle sich um ein Symptom des Wachstums. Ihr habt’s, Genossen, nicht geschafft, und das Kapitel „nicht Krise, sondern Wachstum" muss als unrichtig ganz und gar gestrichen werden. Ferner: die Gewerkschaften als Schule des Kommunismus. Hier, Genossen, finden sich eine Reihe Allgemeinplätze. Man darf die Frage nicht so formlos und flüchtig behandeln. Es heißt da: „Als wichtigste Rolle verbleibt den Gewerkschaften auch in Sowjetrussland ihre Rolle als Schule des Kommunismus." So heißt es gleich zu Anfang: „In Sowjetrussland." Was bedeutet das? Genosse Sinowjew sagt uns, dass die Gewerkschaftsfrage gegenwärtig auch in Europa eine sehr große Rolle spielt. In Europa herrscht jedoch die Diktatur der Bourgeoisie, bei uns die Diktatur des Proletariats. Gerade daher ist ja bei uns diese Frage in neuer Form aufgetaucht Wie können wir sie da in einer allgemein europäischen Frage auflösen? Man muss gegenwärtig von der eigenartigen Lage der Räterepublik und der Diktatur der Arbeiterklasse (allerdings in einem Lande, in dem die Bauernschaft die Mehrheit bildet, was von uns allen berücksichtigt wird) sowie von den besonderen Verhältnissen des Momentes dieser Diktatur ausgehen. Uns zieht man dagegen mit Gewalt von diesem Moment zurück, zurück auch von der Arbeiterrepublik überhaupt und sagt: „Auch in Sowjetrussland wie in den bürgerlichen Ländern." Hiermit beginnt das Kapitel. Ist vom zaristischen Russland, von Deutschland, von Frankreich die Rede? Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Schule des Kommunismus"? Die Aufgabe der Schule des Kommunismus, so heißt es in der Resolution, besteht in der „Bearbeitung" der halbproletarischen Elemente, in deren „Anpassung" an das Werk des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft. Verzeihung, aber das ist ein Gemeinplatz. Was heißt „Bearbeitung", „Anpassung"? Wie? Auf welcher Grundlage? Weiter ist von der Heranziehung „der weiteren Schichten der Werktätigen zu dem wirtschaftlichen und kommunistischen Aufbau" die Rede. Wie? Auf welcher Grundlage? Buchstäblich überall ist davon die Rede. Es gibt kein einziges Dekret, das, um welches Organ immer es sich auch handelt, ein „Heranziehen" nicht verfügt. Aber wie? Wir besitzen ein spezifisches Organ zur „Heranziehung" – die Arbeiter- und Bauerninspektion. In welcher Form geschieht die Heranziehung? Wodurch unterscheiden sich in dieser Hinsicht die Gewerkschaften? Welches sind die konkreten Aufgaben? Es ist nichts darüber gesagt. Auf Seite 7 heißt es: „Für die Gewerkschaften in Sowjetrussland umfasst der Begriff „Schule des Kommunismus" in gleicher Weise das Moment der „Erziehung zur Wirtschaft". Höret: „in gleicher Weise das Moment der Erziehung zur Wirtschaft". Zunächst handelt es sich also um eine Bearbeitung und Anpassung; außerdem umfasst die „Schule des Kommunismus" – seht Ihr wohl – das Moment der Erziehung zur Wirtschaft. Ich fürchte, dass dies nicht Lenin geschrieben hat; das ist nicht seine Hand. „Für die Gewerkschaften in Sowjetrussland umfasst der Begriff „Schule des Kommunismus" in gleicher Weise das Moment …" Ich bitte zu beachten: „das Moment". Das „Moment der Erziehung zur Wirtschaft", „in gleicher Weise". Hier hat man an den Produktionsstandpunkt Zugeständnisse gemacht und sagt uns: „Die Gewerkschaften – sind eine Schule des Kommunismus, die bearbeitet, anpasst und außerdem noch ein kleines Moment, nämlich, die Erziehung zur Wirtschaft umfasst. Ferner heißt es, in völligem Gegensatz zu dem vorher Gesagten, dass „die Gewerkschaften ihre Rolle als Schule des Kommunismus insoweit erfüllen würden, als sie Führer der proletarischen Massen und der praktischen Reorganisation der Wirtschaft auf kommunistischer Grundlage sind." Wenn es also „insoweit … als" ist – was haben dann das „Moment" und „in gleicher Weise" damit zu tun? Ich wiederhole, dass man hier auf Schritt und Tritt auf Widersprüche und Verwirrung stößt. Es ist das flüchtig, eklektisch, widerspruchsvoll. Das darf nicht sein. Das nächste Kapitel lautet: „Die Frage der Verstaatlichung der Gewerkschaften". Auch dies Kapitel ist durchaus nicht besser. „Eine rasche Verstaatlichung der Gewerkschaften wäre ein grober Fehler," heißt es da. Was heißt „rasch"? Wie viel Kilometer die Stunde? Das ist absolut oberflächlich, unverständlich, nachlässig abgefasst. Man muss sagen: Entwickeln wir uns nach der Richtung einer Verstaatlichung der Gewerkschaften oder nicht? Im Ja-Falle muss man klarlegen, wovon das Tempo dieser Entwicklung abhängt. Es hängt augenscheinlich von einer tatsächlichen Verstärkung der Rolle der gewerkschaftlich organisierten Arbeitermassen in Bezug auf den Aufbau der Wirtschaft selbst ab, mit anderen Worten, das Anwachsen der Rolle der Gewerkschaften in der Wirtschaft bedeutet gleichzeitig auch eine allmähliche Verstaatlichung. Wenn wir es uns zur Aufgabe machen, die Stärkung der Rolle der Gewerkschaften in der Produktion zu fördern, so fördern wir damit gleichzeitig deren Verstaatlichung. Was heißt „rasch"? Ich kann das nicht begreifen. „Eine künstliche Beschleunigung des Tempos der Verstaatlichung würde dahin führen, dass die Rolle der Gewerkschaften als einer Schule des Kommunismus nur erschwert werden würde." Hier fehlt eine Erklärung dafür, was unter der „künstlichen Beschleunigung des Tempos" zu verstehen ist. Wir haben gegenwärtig eine Abkehr der Gewerkschaften von der Produktion, ein Überhandnehmen der Konsumentenpsychologie zu beobachten. Was ist denn da von einer künstlichen Beschleunigung des Tempos zu reden? Weshalb würde ferner die Verstaatlichung an sich ihrer Rolle als Schule des Kommunismus Abbruch tun? Wenn die nichtstaatliche Schule des Kommunismus besser ist, weshalb schaffen wir denn da neben ihr eine staatliche Schule nach den gleichen Grundsätzen? Nehmt den Bericht der Arbeiter- und Bauerninspektion zum 8. Rätekongress zur Hand. Auf der ersten Seite heißt es: Die Aufgabe der Arbeiter- und Bauerninspektion ist, ein Schule des Kommunismus zu sein. Es ist das ein staatliches Organ, das seine Betriebszellen ähnlich den Verbandszellen aufbaut. Weshalb ist die Verstaatlichung im Arbeiterstaat an sich ein Hindernis für die Schule des Kommunismus? Wenn wir die staatlichen Organe nicht in Schulen des Kommunismus umzuwandeln vermögen, so müssen wir, Genossen, auch noch auf einiges mehr verzichten. Ferner bedeuten die Worte „Methoden der Überzeugung und Methoden des Zwangs durch die Gewerkschaften" keine sehr genaue, aber im Großen und Ganzen richtige Formulierung. Wir haben hiergegen nichts einzuwenden. Um Beschwerden, Missverständnisse und Demagogie auf diesem Boden zu verhindern, haben wir diesen Punkt vollinhaltlich in unsere Thesen aufgenommen. Als ich von der Auswahl des leitenden Personals der Gewerkschaften sprach, als ich sagte, wir müssten die Gewerkschaftsfunktionäre unter dem Gesichtswinkel der Produktion auswählen, erklärte der Genosse Tomski, eine solche Auswahl sei soviel wie eine Ernennung. Wir entgegneten Tomski: Welchen Platz sie in den Gewerkschaften einnehmen werden, wollen wir nach den Methoden der gewerkschaftlichen Organisation feststellen; aussuchen müssen wir sie jedoch in der Partei. Tomski wollte kein Entgegenkommen zeigen. Er sagte, die Auswahl bestände in einer Umschüttlung, Ernennung u. a. m. Und jetzt finden wir in der von Tomski unterzeichneten Resolution die Worte: „Die Auswahl des leitenden Personals erfolgt durch die Partei" usw. – Es folgt weiter das Kapitel „Die Gewerkschaften und politischen Abteilungen". Es ist dies nicht der prinzipiell wichtigste, aber ein Anstoß erregender Punkt, da er in hohem Maße ungerecht ist. Genossen, ich will Euch doch ins Gedächtnis zurückrufen, unter welchen Umständen die Hauptstelle für politische Aufklärung unter den Eisenbahnern entstanden ist. In der Resolution des 9. Parteitages ist hierüber zu lesen: „Der Parteitag anerkennt gleichzeitig die vollständige und unbedingte Notwendigkeit, außergewöhnliche und außerordentliche Maßnahmen (Kriegszustand usw.) zu treffen, die sich aus dem erschreckenden Zerfall des Transportwesens ergeben und zur Aufgabe haben, durch Ergreifung von keinen Aufschub duldenden Maßnahmen seine völlige Lahmlegung und den mit ihr verbundenen Untergang Sowjetrusslands zu verhindern." Ihr seht: „die völlige Lahmlegung des Transportwesens und den Untergang der Räterepublik zu verhindern." Es ist gerade ein Jahr her, oder etwas mehr, seitdem beschlossen wurde, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen. Die Hauptstelle für politische Aufklärung unter den Eisenbahnern entstand und entwickelte sich nach dem 9. Parteitag in erster Linie, um das Transportwesen zu retten. Zunächst versuchten einige, die Ergebnisse ihrer Tätigkeit in Abrede zu stellen. Ich weiß nicht, ob Ihr die Statistik des Transportwesens kennt. Es ist ganz gut, die grundlegenden Tatsachen des Wirtschaftslebens zu kennen. Die vorerwähnte Hauptstelle hat einen großen Sieg errungen. Dank der heldenmütigen Anstrengungen von einigen tausend Kommunisten, denen diese außerordentlich schwierige Arbeit auferlegt wurde, wurden die ersten ernsten Erfolge erzielt. Wir arbeiteten einen Plan für zehntausend Lokomotiven aus, an denen im Laufe eines Jahres Reparaturarbeiten mittleren Umfangs ausgeführt werden sollten. Zum zweiten Halbjahr 1920 waren die Reparaturen an 6000 Lokomotiven ausgeführt, so dass im Jahre 1921 (wenn die Arbeiten nicht minder erfolgreich fortgeführt werden sollten) mindestens 12.000 Lokomotiven aus den Reparaturwerkstätten werden kommen können. Die Arbeiten auf diesem Gebiet wurden natürlich mit entschlossenen Maßnahmen durchgeführt; die Partei überwachte jedoch die Arbeiten, sie war genau über alles unterrichtet und konnte sie jeden Augenblick einstellen. Am 28. August wurde das Zentralkomitee für das Transportwesen geschaffen. Die Funktionäre dieses Zentralkomitees erhielten vom 9. Parteitag einen Anstoß und übten eine heroische Tat aus, die im Wesentlichen einen gewaltigen Erfolg zeitigte und das Transportwesen, das sich in einer verzweifelten Lage befand, rettete. Es wäre falsch, wollte der Parteitag diesen Erfolg nicht anerkennen, nachdem die Fraktion des VIII. Rätekongresses nach erfolgter Besprechung seine Anerkennung ausgesprochen hat; es wäre verurteilenswert, das zu bestätigen, was im Entwurf der Zehn gesagt ist, es wäre eine himmelschreiende Ungerechtigkeit in Bezug auf jene Funktionäre, denen Ihr die Arbeit zugewiesen habt und die Ihr nicht abberuft. Ich gehe nunmehr zu der Frage der praktischen Vorschläge über. Sie sind bereits so eingehend besprochen worden, dass ich Euch mit ihnen nicht lange aufhalten werde. Eine Kommission wird eingesetzt werden, und in dieser Kommission werden wir über einzelne praktische Vorschläge ausführlicher sprechen können. Sollten wir uns dort nicht verständigen können, so werden wir erneut an Euch herantreten. Das eine muss jedoch schon gleich über die Stärkung der Rolle der Gewerkschaften in Bezug auf die Produktion gesagt werden. Im Entwurf der Zehn heißt es überall, dass die Rolle der Gewerkschaften in der Produktion gering sei, dass man sie erweitern und vergrößern müsse. Hierbei, Genossen, ist jedoch das eine übersehen worden, nämlich, dass die Gewerkschaften jetzt nicht so leben und arbeiten wie Ende 1917 oder Anfang 1918, als sie hinsichtlich der Organisation der Wirtschaft eine Wüste oder eine von unseren Feinden besetzte Ortschaft vor sich sahen. Jetzt besitzen wir ein mehr oder minder harmonisches oder plumpes System wirtschaftlicher Organisationen. Man sagt zu den Gewerkschaften: „Ihr müsst Euren organisatorischen Einfluss auf die Produktion erweitern. Ihr müsst mehr denn sonst die unmittelbare Leitung der Wirtschaftsorganisation in die Hand nehmen." Davon ist in den Thesen zwei- oder dreimal die Rede. Was soll das heißen? Wie soll das geschehen? Ihr wisst, dass gegen das Verwachsen angekämpft wurde. Die Gewerkschaften haben jedoch auf dem Gebiete der Wirtschaft einen bestehenden organisatorischen staatlichen Räteapparat vor sich. Auf welche Weise können die Gewerkschaften ihre führende Rolle in der Wirtschaft vergrößern? Unter Umgehung dieses Apparates, durch dessen Vermittlung oder durch ein organisatorisches Verwachsen mit ihm? Dies ist die Frage, auf die wir alle Augenblicke stoßen. Die Arbeiteropposition hatte die Tendenz, die Frage dahin zu entscheiden, dass die Gewerkschaftsverbände von der Wirtschaft Besitz ergreifen, die Wirtschaftsorgane beiseite schieben, in denen die Erfahrungen unserer drei Jahre währenden aufbauenden Tätigkeit aufgespeichert sind. Diese Lösung ist durchaus falsch. Hier in dem Entwurf der Zehn ist gesagt, dass die Gewerkschaften und Wirtschaftsorgane in der Vergangenheit parallel waren, und dass dies dadurch gerechtfertigt erschien, dass die Wirtschaftsorgane schwach waren. Was soll nun weiter geschehen? Weiter werden die Gewerkschaften augenscheinlich nicht unter Umgehung der Wirtschaftsorgane, nicht gegen sie oder über ihre Köpfe hinweg, ihre Tätigkeit ausüben; sie werden die Wirtschaftsorgane nicht hinwegfegen und nicht parallel mit ihnen arbeiten, sondern eine organisatorische Verbindung erreichen, die auf das Verwachsen hinausläuft. Auf diesem Gebiete haben wir bereits einige Zugeständnisse von Eurer Seite erreicht. Wir haben durchgesetzt, dass die allrussischen Kongresse der Gewerkschaften und der Volkswirtschaftsräte gleichzeitig mit einer gemeinsamen Tagesordnung tagen werden, die gleiche grundlegende Arbeit, gemeinsame Arbeiten in den Sektionen usw. leisten werden. Sollten die Verhältnisse dies zu verwirklichen gestatten, so werden wir einen ernsten Schritt vorwärts tun auf dem Gebiete der organisatorischen Vereinigung und des organisatorischen Verwachsens. Hierzu ist jedoch notwendig, diese durchaus falschen Thesen, diese wirre Formulierung, die weder für unsere Partei noch für die Internationale eine Bereicherung bedeutet, aus dem Wege zu räumen. Das ist der Grund, Genossen, weshalb wir Euch nicht empfehlen können, für diese Resolution zu stimmen. Der Genosse Sinowjew hat Euch nachzuweisen gesucht, dass diese Resolution alles umfasst, dass wir aus ihr erkannt hätten, dass zwei Weltanschauungen, zwei Arbeitsmethoden, zwei Arten im Verhalten der Partei gegenüber der Arbeiterklasse und der Bauernschaft bestehen usw. usw. Dem ist jedoch nicht so. Es ist dies eine ungeheuerliche Übertreibung. Wir stehen vor einer äußerst schwierigen Periode und vor den gewaltigsten Anstrengungen. Wenn Ihr die Gewerkschaftsfrage unter diesem Gesichtswinkel betrachtet so werdet Ihr die größte Ruhe gegenüber den Differenzen bewahren und den richtigen Ton finden, der am meisten zu einer Einigung der Partei beitragen wird. |
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