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Leo Trotzki 19211205 Militärische Doktrin oder pseudomilitärischer Doktrinarismus?

Leo Trotzki: Militärische Doktrin oder pseudomilitärischer Doktrinarismus?

[Nach Die Kommunistische Internationale, Heft 19 [Anfang 1922], S. 137-164]

Wie manche Pflanzen nur Früchte tragen, wenn sie nicht zu hoch in den Stängel schießen, so müssen in praktischen Künsten die theoretischen Blätter und Blumen nicht zu hoch getrieben, sondern der Erfahrung, ihrem eigentümlichen Boden, nahe gehalten werden."

Clausewitz, „Vom Kriege", Vorrede.

1. Unsere Orientierungsmethode.

In der Roten Armee macht sich zweifellos eine Belebung kriegswissenschaftlichen Denkens und ein Aufschwung der theoretischen Interessen bemerkbar. Mehr als drei Jahre lang formierten wir uns unter dem feindlichen Feuer und kämpften; dann demobilisierten wir und dislozierten unsere Kräfte. Dieser letzte Prozess ist auch heute noch nicht zu Ende, aber die Armee hat sich doch unverkennbar organisatorisch konsolidiert und einigermaßen territorial festgesetzt. Sie empfindet ein immer wachsendes Bedürfnis, auf den zurückgelegten Weg zurückzublicken und die notwendigsten theoretischen und praktischen Folgerungen zu ziehen, um sich für den kommenden Tag besser zu rüsten.

Was verspricht uns aber der kommende Tag? Neue Ausbrüche des von außen unterstützten Bürgerkrieges? Oder einen offenen Angriff der bürgerlichen Staaten auf uns? Welcher Staaten dann? Wie haben wir uns zur Abwehr vorzubereiten? Alle diese Fragen erfordern eine außenpolitische, innenpolitische und kriegspolitische Orientierung. Die allgemeine Lage ändert sich fortwährend; es ändert sich folglich auch die praktische (nicht die prinzipielle) Orientierung. Bisher haben wir die Kriegsaufgaben, die die internationale und die innenpolitische Lage Sowjetrusslands uns stellte, erfolgreich gelöst. Unsere Orientierung hat sich richtiger, weitsichtiger, tiefgreifender gezeigt als die Orientierung der bedeutendsten imperialistischen Großmächte, die nacheinander oder gemeinsam versuchten, uns niederzuwerfen, sich aber nur die Finger verbrannten. Unsere Überlegenheit besteht darin, dass wir eine unersetzliche wissenschaftliche Orientierungsmethode – die marxistische Methode – besitzen. Es ist dies ein mächtiges, aber gleichzeitig auch ein sehr feines Werkzeug: es zu handhaben ist nicht leicht, man muss es lernen. Die Vergangenheit unserer Partei hat uns durch langjährige Prüfungen gelehrt, die marxistischen Methoden inmitten der komplizierten Verflechtung der Faktoren und der Kräfte einer geschichtlichen Umwälzungsepoche anzuwenden. Mit dem Werkzeug des Marxismus bestimmen wir auch die Grundlagen unserer militärischen Aufbauarbeit.

Ganz anders liegen die Dinge in dieser Hinsicht bei unseren Feinden. Hatte die vorgeschrittene Bourgeoisie aus dem technischen Gebiet jede Trägheit, Routine und alle Vorurteile verbannt, hatte sie danach gestrebt, jede Unternehmung auf exakten wissenschaftlichen Grundlagen aufzubauen, so zeigte sie sich auf dem. Gebiete ihrer sozialen Orientierung kraft ihrer Klassenlage unfähig, sich zur Höhe wissenschaftlicher Methoden aufzuschwingen. Unsere Klassenfeinde sind Empiriker, d. h. sie handeln von Fall zu Fall und lassen sich nicht von der Analyse der geschichtlichen Entwicklung, sondern von der praktischen Erfahrung, von der Routine, vom Augenmaß und vom Instinkt leiten.

Freilich gab uns die englische imperialistische Kaste – auf empirischer Grundlage – ein Beispiel des weitesten Raubritterschwungs, der siegreichen Weitsichtigkeit und der klassenmäßigen Konsequenz. Über die englischen Imperialisten ist ja mit Recht gesagt worden, dass sie in Jahrhunderten und in Kontinenten denken. Diese Gewohnheit, die wichtigsten Faktoren und Kräfte praktisch abzuwägen und einzuschätzen, erwarb die leitende britische Kaste dank besonderer Umstände: sie befand sich auf der sicheren Warte ihrer Insel und häufte ihre kapitalistische Macht relativ langsam und planmäßig an; die parlamentarischen Methoden der persönlichen Kombinationen, der Bestechungen, der Überredung, des Schwindels und die kolonialen Methoden des Blutvergießens der Scheinheiligkeit und aller Arten der Schurkerei – alle diese Waffen waren in dem reichen Arsenal der regierenden Clique des größten Imperiums gleicherweise vertreten. Die Erfahrung des Kampfes der englischen Reaktion mit der großen französischen Revolution verfeinerte außerordentlich die Methoden des englischen Imperialismus, machte ihn biegsamer, mannigfaltiger bewaffnet, also gesicherter vor geschichtlichen Überraschungen.

Nichtsdestoweniger erweist sich die große Klassenroutine der weltbeherrschenden englischen Bourgeoisie in der Epoche der gegenwärtigen vulkanischen Erschütterungen des bürgerlichen Regimes immer mehr als bankrott. Wie geschickt die britischen Empiriker der Verfallsepoche – deren vollendetster Vertreter Lloyd George ist, – auch lavieren mögen, sie werden sich unvermeidlich den Hals brechen.

Der deutsche Imperialismus erhob sich als ein Antipode des britischen. Die fieberhafte Entwicklung des deutschen Kapitals ermöglichte es den regierenden Klassen Deutschlands, sehr viel materiell-technische Werte, aber viel weniger an internationaler oder kriegspolitischer Orientierung und Erfahrung anzuhäufen. Der deutsche Imperialismus erschien auf der weltpolitischen Bühne als ein Parvenü, – er verrannte sich, stürzte ab und zerfiel in tausend Stücke. Und doch sahen noch vor kurzem, in Brest-Litowsk, die Vertreter dieses deutschen Imperialismus uns für Phantasten an, die nur zufällig und auf kurze Zeit an die Oberfläche kamen.

Unsere Partei hat Schritt für Schritt die Kunst der allseitigen Orientierung gelernt, von den ersten illegalen Zirkeln durch ihre ganze Entwicklung, mit ihren endlosen theoretischen Diskussionen, mit praktischen Versuchen und Misserfolgen, mit den Angriffen und Rückzügen, mit den taktischen Streitigkeiten und Wendungen. Die russischen Emigrantenmansarden in London, Paris und Genf zeigten sich letzten Endes als Beobachtungsposten von ungeheurer geschichtlicher Bedeutung. Die revolutionäre Ungeduld wurde diszipliniert durch die wissenschaftliche Analyse des historischen Prozesses. Der Aktionswille vereinte sich mit der Zähigkeit des Überlegens Im Prozess ihres Handelns und ihres Denkens hat unsere Partei gelernt, die marxistische Methode anzuwenden. Und jetzt kommt ihr dies Können sehr zustatten …

Wenn man von den weitsichtigsten Empirikern des englischen Imperialismus sagen kann, dass sie in ihrem Bündel eine große Auswahl Schlüssel haben, die für viele typische geschichtliche Situationen passen, so verfügen wir über einen Universalschlüssel, der uns erlaubt, uns in allen Situationen richtig zu orientieren. Und wenn der ganze überlieferte Schlüsselvorrat Lloyd Georges, Churchills und anderer offenbar ungeeignet ist, einen Ausweg aus der revolutionären Epoche zu erschließen, so ist unser marxistischer vor allem für diese Epoche bestimmt. Diese unsere größte Überlegenheit über unsere Gegner scheuen wir uns nicht, offen zu verraten, denn sie sind außerstande, sich unseren marxistischen Schlüssel anzueignen oder ihn nachzumachen.

Wir haben die Unvermeidlichkeit des imperialistischen Krieges als Vorspiel zur Epoche der proletarischen Revolution vorausgesehen. Unter diesem Gesichtswinkel beobachteten wir dann den Fortgang des Krieges, seine Methoden, die wechselnden Gruppierungen der sozialen Klassenkräfte, und an Hand dieser Beobachtung gestaltete sich schon unmittelbar die – wenn man große Worte gebrauchen will – „Doktrin" der Sowjetmacht und der Roten Armee. Die wissenschaftliche Voraussicht des weiteren Entwicklungsganges gab uns eine unerschütterliche Gewissheit, dass die Geschichte für uns arbeite. Diese optimistische Überzeugung bildete und bildet auch weiterhin die Grundlage unserer Arbeit.

Der Marxismus liefert keine fertigen Rezepte. Und am wenigsten könnte er solche auf dem Gebiete der militärischen Aufbauarbeit liefern. Aber auch hier gab er uns eine Methode. Denn wenn es richtig ist, dass der Krieg eine Fortführung der Politik nur mit anderen Mitteln ist – so ist die Armee die Fortführung und die Krönung der gesamten sozialen und staatlichen Organisation, nur mit dem aufgepflanzten Bajonett.

Wir traten an die Kriegsfragen nicht vom Ausgangspunkte irgendeiner „militärischen Doktrin", als Summe dogmatischer Postulate heran, sondern von der marxistischen Analyse der Selbstschutzbedürfnisse der Arbeiterklasse, die die Macht in ihre Hand genommen hat und vor der Notwendigkeit steht, sich zu bewaffnen, die Bourgeoisie zu entwaffnen, die Bauern hinter sich gegen die Junker führen, die Großbauerndemokratie an der Bewaffnung der Bauern gegen den proletarischen Staat zu hindern, sich ein zuverlässiges Kommandopersonal zu schaffen usw.

In der Arbeit am Aufbau der Roten Armee nützten wir sowohl die Rotgardistenabteilungen, als auch die alten Satzungen, die bäuerlichen Anführer und die früheren Zarengenerale aus, was man natürlich auch als Mangel an einer „einheitlichen Doktrin" in Bezug auf die Formierung der Armee und ihres Kommandopersonals bezeichnen kann. Aber eine solche Einschätzung würde nur von pedantischem Banausentum zeugen. Allerdings haben wir uns auf keine dogmatische „Doktrin" gestützt. Wir schufen die Armee tatsächlich aus jenem historischen Material, das uns zur Verfügung stand, und fassten diese Arbeit unter dem Gesichtspunkt des proletarischen Staates zusammen, der um seine Selbsterhaltung, Befestigung und Erweiterung ringt. Will jemand das metaphysisch kompromittierte Wort „Doktrin" absolut nicht entbehren, so kann man ihm sagen, dass wir, indem wir die bewaffnete Macht, die Rote Armee, auf der neuen Grundlage des Klassenkampfes aufbauten, damit auch die neue militärische Disziplin schufen. Denn ungeachtet der Mannigfaltigkeit der praktischen Mittel und des Wechsels der Methoden, gab es in unserer militärischen Aufbauarbeit und konnte es in ihr geben weder einen ideenlosen Empirismus, noch eine subjektive Willkür: die ganze Arbeit würde vom Anfang bis zum Ende durch die Einheit des revolutionären Klassenziels, durch die Einheit des darauf hinarbeitenden Willens, durch die Einheit der marxistischen Orientierungsmethode zusammengeschweißt.

2. Mit Doktrin oder ohne Doktrin?

Versuche, der Arbeit am Aufbau der Roten Armee die proletarische „Militärdoktrin"1 vorauszuschicken, wurden wiederholt gemacht und erneuert. Als Gegenspiel zum imperialistischen Prinzip des „Stellungskrieges" wurde außerdem schon seit dem Ende 1917 das absolute Prinzip des Bewegungskrieges hervorgehoben. Der revolutionären Bewegungsstrategie wurde die Organisationsform der Armee untergeordnet: Korps, Divisionen, selbst Brigaden wurden als zu schwerfällige Körper erklärt. Die Verkünder der proletarischen „Militärdoktrin" schlugen vor, die ganze bewaffnete Macht der Republik in einzelne kombinierte Abteilungen oder Regimenter aufzulösen. Im Grunde genommen war dies eine nur leicht frisierte Ideologie des Partisanenkrieges. Auf dem extremen „linken" Flügel verteidigte man offen den Partisanenkrieg. Allen Satzungen wurde ein heiliger Krieg erklärt: den alten, – weil sie der Ausdruck der überlebten Militärdoktrin, den neuen – weil sie den alten allzu ähnlich seien. Dabei legten die Anhänger der neuen Doktrin damals weder einen Entwurf zu neuen Satzungen vor, noch konnten sie auch nur einen Artikel zusammenbringen, der unsere Satzungen einer ernsten, prinzipiellen oder sachlichen Kritik unterzogen hätte. Die Heranziehung des alten Offiziertums, besonders für Kommandostellungen, wurde als unvereinbar mit der Durchführung der revolutionären Militärdoktrin erklärt usw.

In Wirklichkeit waren die lärmenden Neuerer selbst die Gefangenen der alten Kriegsdoktrin: sie suchten nur überall, wo dort ein Plus gestanden hatte, ein Minus zu setzen. Darin bestand ihre ganze Selbständigkeit. Die wirkliche Arbeit an der Schaffung der bewaffneten Macht des proletarischen Staates ging jedoch ganz andere Wege. Wir bemühten uns, – besonders im Anfangsstadium – so weit wie möglich die uns von der alten Armee überlieferten Fertigkeiten, Methoden, Kenntnisse und Mittel auszunützen, ohne uns darum zu kümmern, in welchem Maße die neue Armee in formal-organisatorischer und technischer Hinsicht sich von der alten unterscheiden oder aber ihr gleichen würde. Wir bauten die Armee aus dem vorhandenen menschlichen und technischen Material, suchten nur immer und überall, in ihrer Organisation, d. h. in ihrer persönlichen Zusammensetzung, ihrer Verwaltung, ihrem Bewusstsein und ihren Stimmungen die Herrschaft der proletarischen Vorhut sicherzustellen. Die Einrichtung der Kommissare ist beileibe kein marxistisches Dogma und kein notwendiger Bestandteil der proletarischen „Kriegsdoktrin". Sie erschien unter bestimmten Verhältnissen als notwendiges Werkzeug der proletarischen Kontrolle, Leitung und politischen Erziehung2 in der Armee und gewann dadurch eine ungeheure Bedeutung im Leben der bewaffneten Kräfte der proletarischen Republik. Wir kombinierten das alte Kommandopersonal mit dem neuen und erreichten nur auf diese Weise das notwendige Ergebnis: die Armee zeigte sich kampffähig, und zwar im Dienste der Arbeiterklasse. Ihren Zielen, der überwiegenden Klassenzusammensetzung ihres Kommando- und Kommissarenpersonals, ihrem Geiste, ihrer politischen Moral nach, unterscheidet sich die Rote Armee von Grund aus von allen übrigen Armeen der Welt und ist ihr Gegenteil. Auf dem formal-organisatorischen und technischen Gebiet aber wurde und wird sie ihnen umso ähnlicher, je mehr sie sich entwickelt. Mit den Gelüsten allein, auf diesem Gebiete, ein neues Wort zu sagen, ist es nicht getan.

Die Rote Armee ist der militärische Ausdruck der proletarischen Diktatur. Wer nach einer feierlicheren Formel verlangt, kann sagen, dass die Rote Armee die militärische Verkörperung der „Doktrin" der proletarischen Diktatur ist, und zwar erstens deshalb, weil in der Roten Armee selbst die Diktatur des proletarischen Elements sichergestellt ist, zweitens, weil die proletarische Diktatur als Staatsform ohne die Rote Armee eine Unmöglichkeit wäre.

Bedauerlich ist es nur, dass die Belebung des kriegswissenschaftlichen Interesses zunächst die Wiederbelebung mancher doktrinärer Vorurteile der ersten Periode zeitigte, die zwar ein wenig anders formuliert werden, aber dadurch nicht um ein Jota besser geworden sind. Manche der tiefsinnigeren Neuerer haben auf einmal entdeckt, dass wir ohne jede Kriegsdoktrin leben oder eigentlich nicht leben, sondern nur so dahin vegetieren, ähnlich wie der Andersensche Märchenkönig unangekleidet ging ohne es zu wissen. „Es ist wirklich notwendig, endlich die Doktrin der Roten Armee zu schaffen," sagen die einen; – „Wir irren in allen praktischen Fragen des Armeeaufbaus, weil wir bisher die Grundfragen der Kriegsdoktrin: Was ist die Rote Armee? Welche geschichtlichen Aufgaben hat sie? Wird sie revolutionäre Defensiv- oder Offensivkriege führen? usw. nicht gelöst haben," so stimmen die anderen bei.

Die Dinge scheinen also so zu liegen, dass wir eine Rote Armee und dazu noch eine siegreiche geschaffen, ihr aber leider keine Kriegsdoktrin gegeben haben. Und die Rote Armee lebt nun so in den Tag hinein, ohne sich viele Gedanken zu machen. Auf die direkte Frage: „Wie soll denn die Doktrin der Roten Armee beschaffen sein?" antwortet man uns, sie müsse eine Zusammenfassung der Aufbau-, Erziehungs- und Anwendungsprinzipien unserer bewaffneten Macht sein. Aber diese Antwort hat nur rein formelle Bedeutung. Auch die heutige Rote Armee hat ihre „Aufbau-, Erziehungs- und Anwendungsprinzipien". Die Frage besteht also darin, welche Doktrin uns noch fehlt, d. h. welchen Inhalt jene neuen Prinzipien haben, die dem Programm des Armeeaufbaus einverleibt werden sollen. Und eben hier beginnt die heilloseste Verwirrung. Der eine macht die aufsehenerregende Entdeckung, dass die Rote Armee eine Klassenarmee, eine Armee der proletarischen Diktatur sei. Ein anderer fügt hinzu, dass die Rote Armee, als revolutionäre und internationale Armee, offensiv sein müsse. Ein dritter empfiehlt, für Offensivzwecke ein besonderes Augenmerk auf die Kavallerie und die Luftwaffe zu richten. Schließlich empfiehlt der vierte, die Anwendung der Machnoschen „Tatschanki" nicht zu vergessen. Doch muss man sagen, dass in diesen Entdeckungen der kleine Kern gesunder, zwar nicht neuer aber doch richtiger Gedanken unter dem Wust des leeren Geschwätzes vollkommen verschwindet.

3. Was ist eine Kriegsdoktrin?

Wir werden keine allgemeinen Definitionen suchen, die uns für sich allein kaum aus der Schwierigkeit heraus helfenA Treten wir lieber an die Frage historisch heran. Die alte Anschauung ging dahin, dass die Grundlagen der Kriegslehre ewig und für alle Zeiten und Völker gemeinsam seien. Dagegen habe die konkrete Spiegelung dieser ewigen Wahrheiten einen nationalen Charakter. Daher gebe es eine deutsche, russische, französische usw. Kriegsdoktrin. Wenn wir jedoch das Inventar der ewigen Wahrheiten der Kriegslehre einer Prüfung unterziehen, werden wir nicht viel mehr als einige logische Axiome und euklidische Postulate herausbekommen. Der Flankenschutz, die Sicherung der rückwärtigen Verbindungen, der Stoß in den am wenigsten geschützten Punkt des Gegners usw. usw., all diese Regeln gehen in ihrer allumfassenden Formulierung, im Grunde genommen, weit über die Schranken der Kriegskunst hinaus. Der Esel, der aus einem zerrissenen Sack Hafer stiehlt (die am wenigsten geschützte Stelle des Gegners) und sein Hinterteil in die der erwarteten Gefahr entgegengesetzte Seite richtet, macht dies auf Grund der „ewigen" Grundsätze der Kriegslehre. Indessen kann man kaum im Zweifel sein, dass der Esel, der den Hafer frisst, Clausewitz und selbst Leer nicht gelesen hat.

Der Krieg, von dem wir reden, ist eine soziale und historische Erscheinung, die entsteht, sich entwickelt, ihre Formen ändert und schließlich verschwinden muss. Schon aus diesem Grunde allein kann der Krieg keine ewigen Gesetze haben. Aber das Subjekt des Krieges ist der Mensch, der gewisse stabile anatomische und psychologische Merkmale und die sich aus ihnen ergebenden Methoden und Bräuche hat. Der Mensch handelt in einem bestimmten und verhältnismäßig stabilen geographischen Milieu. Daher traten an allen Kriegen aller Völker gewisse gemeinsame, verhältnismäßig stabile (aber keineswegs absolute) Merkmale hervor. Auf ihrer Grundlage entwickelt sich die historische Kriegskunst. Die Methoden und Mittel dieser Kunst wechseln ebenso wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Kunst bestimmen (Technik, Klassenbau der Gesellschaft, Formen der Staatlichkeit) .

Unter einer nationalen Kriegsdoktrin verstand man eben einen verhältnismäßig stabilen, aber doch zeitweiligen Komplex militärischer Berechnungen, Methoden, Mittel, Gewohnheiten, Losungen, Stimmungen – der ganzen sozialen Ordnung, und vor allem gemäß dem Charakter der herrschen Klassen.

Was ist z. B. die Kriegsdoktrin Englands? Zu dieser Doktrin gehören oder gehörten offenbar: die Anerkennung der Notwendigkeit der Seeherrschaft, Ablehnung des stehenden Landheeres und der allgemeinen Dienstpflicht, oder noch genauer: die Anerkennung der Notwendigkeit für die englische Flotte, immer stärker zu sein, als die zwei nächststärksten Flotten zusammengenommen, um sich dadurch die Möglichkeit zu sichern, nur eine kleine Freiwilligenarmee zu unterhalten. Damit war die Erhaltung eines Zustandes in Europa verbunden, bei dem keine kontinentale Großmacht das entscheidende Übergewicht auf dem Kontinent erlangen konnte.

Zweifelsohne war diese englische „Doktrin" die stabilste aller Kriegsdoktrinen. Ihre Stabilität und Klarheit wurde bedingt durch die andauernde, planmäßige, ununterbrochene Entwicklung der britischen Macht, ohne Ereignisse und Erschütterungen, die die internationalen (oder die europäischen, was früher ein und dasselbe war) Kräfteverhältnisse radikal ändern konnten. Heute aber wurde diese Sachlage endgültig beseitigt. Den stärksten Schlag hat England seiner „Doktrin" während des Krieges versetzt, indem es gezwungen war, seine Armee auf der allgemeinen Dienstpflicht aufzubauen. Das „Gleichgewicht" auf dem europäischen Kontinent ist gestört. Der Stabilität der neuen Machtverhältnisse will niemand recht trauen. Die Macht der Vereinigten Staaten schließt jede Möglichkeit aus, weiterhin die Herrschaft der britischen Flotte automatisch aufrechtzuerhalten. Es wäre noch zu früh, den Ausgang der Washingtoner Konferenz vorauszusagen. Es steht aber außer Zweifel, dass seit dem imperialistischen Weltkriege die „Kriegsdoktrin" Großbritanniens unhaltbar, unzureichend und einfach untauglich wurde. Ein Ersatz aber wurde noch nicht beschafft und es ist sehr zweifelhaft, ob dieser Ersatz überhaupt auftauchen kann, denn die Epoche der militärischen und der revolutionären Erschütterungen, der radikalen Umgruppierung der Weltkräfte, lässt für die eine Kriegsdoktrin in dem Sinne, wie wir sie oben für England bestimmt haben, nur einen sehr engen Spielraum: eine „Kriegsdoktrin" setzt eine relative Stabilität der äußeren und der inneren Lage voraus.

Einen viel weniger bestimmten und stabilen Charakter erhält die Kriegsdoktrin – selbst in der Vergangenheit – wenn wir uns zu den Ländern des europäischen Kontinents wenden. Was war – sagen wir nur während des Zeitraums zwischen dem deutsch-französischen Kriege von 1870-71 und dem imperialistischen Weltkriege von 1914 – der Inhalt der französischen Kriegsdoktrin? Die Feststellung, dass Deutschland der Erbfeind, der unversöhnliche Feind ist, die Revanche-Idee, die Erziehung der Armee und der jungen Generation im Geiste dieser Idee, die Kultivierung des franko-russischen Bundes, die Verbeugung vor der militärischen Macht des Zarismus, endlich die, wenn auch nicht sehr selbstsichere Unterstützung der bonapartistischen Kriegstradition der kühnen Offensive. Die lang andauernde Epoche des bewaffneten Friedens (1871 bis 1914) gab trotz allem der kriegspolitischen Orientierung Frankreichs eine gewisse Stabilität. Aber die rein militärischen Elemente der französischen Kriegsdoktrin waren doch außerordentlich dürftig. Der Krieg hat die Doktrin der Offensive einer schweren Prüfung ausgesetzt. Die französische Armee grub sich gleich nach den ersten Wochen in die Erde ein und obwohl die hurrapatriotischen Generale und die hurrapatriotische Presse während der ersten Kriegsperiode unablässig behaupteten, dass der unterirdische Krieg, der Schützengrabenkrieg, eine niedrige deutsche Erfindung sei und dem Heldengeiste des französischen Kriegers nicht entspreche, spielte sich doch der ganze Krieg als Stellungs- und Ermattungskampf ab. Gegenwärtig stößt die Doktrin der reinen Offensive, obwohl sie in die neuen Satzungen überpflanzt wurde, wie wir sehen werden, auf einen scharfen Widerspruch auch in Frankreich selbst.

Die Kriegsdoktrin des Nachbismarckdeutschlands war, dem Wesen nach, im Einklang mit der Politik des Landes, ungleich aggressiver, aber doch ihrer strategischen Formulierung nach vorsichtiger. „Die strategischen Prinzipien erheben sich in keiner Hinsicht über den gesunden Menschenverstand“ lehrte die deutsche Instruktion für höhere Heeresführer. Doch hob das schnelle Wachstum des kapitalistischen Reichtums und der Bevölkerung die führende Oberschichten, und vor allem die junkerliche Offizierskaste Deutschlands auf eine immer größere Höhe. Die regierenden Klassen Deutschlands besaßen keine Erfahrung in einer Tätigkeit im Weltmaßstabe, sie verrechneten sich in ihren Kräften und Mitteln, sie gaben ihrer Diplomatie und ihrer Strategie einen hoch aggressiven Charakter, der sich vollkommen vom „gesunden Menschenverstande" entfernte. Der deutsche Imperialismus fiel seinem unbändig offensiven Geiste zum Opfer.

Was folgt hieraus? Es folgt, dass man unter einer nationalen Doktrin in verflossenen Epochen einen Komplex der stabilen, leitenden diplomatischen und kriegspolitischen Ideen und der mit ihnen mehr oder weniger verbundenen strategischen Grundsätze verstand. Dabei zeigte sich die sog. Kriegsdoktrin – die Formel der Kriegsorientierung der herrschenden Klasse eines Landes auf internationalem Gebiet – umso vollendeter, je bestimmter, stabiler und in ihrer Entwicklung planmäßiger die innere und internationale Lage des Landes war.

Der imperialistische Krieg und die ihm entsprungene Epoche der größten Unstabilität auf allen Gebieten entzogen den nationalen Kriegsdoktrinen vollkommen den Boden und setzten die Notwendigkeit einer schnellen Einschätzung der wechselnden. Sachlage, ihrer neuen Gruppierungen und Kombinationen eines „prinzipienlosen" Lavierens im Zeichen der täglichen Sorgen und der Rücksichten auf die Tagesordnung. Die Washingtoner Konferenz bietet in dieser Beziehung ein besonders lehrreiches Bild. Es ist völlig unbestreitbar, dass jetzt, nachdem die alten Kriegsdoktrinen der Prüfung im imperialistischen Weltkriege unterzogen wurden, kein Land mehr über stabile Prinzipien und Ideen verfügt, die noch als eine nationale Kriegsdoktrin bezeichnet werden könnten.

Man kann freilich zur Annahme neigen, dass die nationalen Kriegsdoktrinen sich wieder herausbilden werden, sobald sich die neuen internationalen Machtverhältnisse und der Platz jedes Staates in diesen Machtverhältnissen geklärt haben werden. Jedoch setzt diese Annahme die Liquidierung der revolutionären Epoche voraus, ihre Ablösung durch eine neue Epoche der organischen Entwicklung. Und gerade zu dieser Voraussetzung haben wir keinen Grund.

4. Gemeinplätze und leeres Geschwätz

Es könnte scheinen, dass der Kampf gegen Sowjetrussland allen kapitalistischen Staaten der Gegenwart ein genügend stabiles Element für eine „Kriegsdoktrin" liefern könnte. Doch ist nicht einmal dies der Fall: die Kompliziertheit der Weltlage, die ungeheuerliche Verflechtung der einander widersprechenden Interessen, und vor allem die Unsicherheit der sozialen Basis der bürgerlichen Regierungen schließen die Möglichkeit der konsequenten Durchführung auch nur einer „Kriegsdoktrin" – des Kampfes gegen Sowjetrussland – aus.

Oder, um es genauer auszudrücken: der Kampf gegen Sowjetrussland ändert so oft seine Form und entwickelt sich in einer so sonderbaren Zickzacklinie, dass es eine tödliche Gefahr für uns bedeuten würde, wollten wir unsere Wachsamkeit mit doktrinären Schlagworten und „Formeln" der internationalen Verhältnisse einschläfern. Die einzige richtige „Doktrin" für uns ist: auf der Hut sein und gut aufpassen. Selbst wenn wir die Frage in gröbsten Umrissen nehmen Und uns fragen, wo der Hauptschauplatz unserer Kriegsaktionen in den nächsten Jahren – ob im Osten oder im Westen? – liegen wird, können wir keine sichere Antwort geben. Dazu ist die internationale Lage zu kompliziert. Der allgemeine Gang der geschichtlichen Entwicklung ist klar, aber die Ereignisse halten sich an keine Reihenfolge und reifen nicht nach dem Kalenderprogramm heran. Und praktisch müssen wir doch nicht auf den „Entwicklungsgang" sondern auf Tatsachen, auf Ereignisse reagieren. Es ist nicht schwer, sich solche historische Alternativen vorzustellen, bei denen wir gezwungen werden, uns vorwiegend im Osten oder auch umgekehrt im Westen festzulegen, die Entwicklung der Revolution durch eine Defensivpolitik zu unterstützen oder umgekehrt zur Offensive überzugehen. Nur die marxistische Methode der internationalen Orientierung, der Einschätzung der Klassenkräfte, ihrer Kombinationen und Änderungen wird uns helfen können, in jedem konkreten Fall die richtige Lösung zu finden. Eine allgemeine Formel auszudenken, die das „Wesen" unserer Kriegsaufgaben im Laufe der nächsten Periode zum Ausdruck bringt, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Man kann aber – und dies wird nicht selten getan – dem Begriff der Kriegsdoktrin einen konkreteren und engeren Inhalt geben, und sie als die Hauptprinzipien der reinen Kriegskunst auffassen, die alle Seiten der militärischen Organisation, Technik und Strategie regulieren. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Kriegsdoktrin unmittelbar den Inhalt der militärischen Satzungen bestimmt. Aber um welche Prinzipien handelt es sich hier? Manche Doktrinäre stellen die Sache in folgender Weise dar: man müsse das Wesen und die Bestimmung der Armee, die vor ihr stehende Aufgabe definieren und daraus schon auf ihre Organisation, ihre Strategie und Taktik schließen und diese Schlüsse in den Satzungen festlegen. In der Tat aber ist diese Auffassung der Frage scholastisch und blutleer.

Welche Banalitäten und welche nichtssagenden Phrasen man unter den Begriff der Grundprinzipien der Kriegskunst fassen will, erhellt aus den feierlich zitierten Worten Fochs, dass das Wesen des modernen Krieges darin besteht, „die feindlichen Armeen aufzufinden, um sie dann zu vernichten, und zwar unter Zugrundelegen einer Handlungsrichtung und einer Taktik, die am schnellsten und sichersten zum Ziele führen". Äußerst inhaltsreich! Äußerst horizonterweiternd! Zur Vervollständigung dieser Worte braucht man nur zu sagen, dass das Wesen der modernen Ernährungsmethoden darin besteht, die Mundöffnung zu finden, dort die Nahrung einzuführen und diese nach ihrer Zerkleinerung unter möglichst geringem Energieaufwand zu verschlucken. Weshalb sollte man nicht versuchen, aus diesem Prinzip, das dem Fochschen Prinzip in nichts nachsteht, deduktiv zu folgern, welche Nahrung die richtige ist, wie man sie zu bereiten hat, wann und von wem sie zu verzehren ist und vor allen Dingen, wie man sich diese Nahrung verschaffen kann?

Die Kriegskunst ist eine sehr empirische, sehr praktische Kunst. Die Versuche, sie zu einem System zu erheben, aus dessen Grundprinzipien man sowohl die Feldsatzungen, als die Divisionsstärken und die Uniformschnitte ableiten kann, sind sehr riskante Übungen. Das verstand schon der alte Clausewitz sehr gut.

Es ist vielleicht nicht unmöglich", schrieb er, „eine systematische Theorie des Krieges voll Geist und Gehalt zu schreiben, unsere bisherigen aber sind weit davon entfernt. Ihres unwissenschaftlichen Geistes gar nicht zu gedenken, strotzen sie, in dem Streben nach Zusammenhang und der Vollständigkeit des Systems, von Alltäglichkeiten, Gemeinsprüchen und Salbadereien aller Art." („Vom Kriege", Vorrede.)

5. Haben wir eine „Kriegsdoktrin" oder nicht?

Brauchen wir also eine Kriegsdoktrin oder nicht? Es haben mir manche vorgeworfen, dass ich der Antwort auf diese Frage „ausweiche". Um aber zu antworten, muss man wissen, worüber man befragt wird, also was die Fragenden unter Kriegsdoktrin verstehen. Solange diese Frage nicht klar und vernünftig gestellt wird, muss man leider der Antwort „ausweichen". Um sich der richtigen Fragestellung zu nähern, wollen wir, nach allem Obengesagten, die Frage selbst in ihre Bestandteile zerlegen. Von diesem Standpunkte können in der Kriegsdoktrin folgende Elemente vertreten sein.

1. Die grundlegende (klassenmäßige) Orientierung unseres Landes, in der Zusammensetzung seiner Regierung, in den Fragen der Wirtschaft, der Kultur usw. d. h. in der Innenpolitik.

2. Die internationale Orientierung des proletarischen Staates. Die großen Linien unserer Weltpolitik und, im Zusammenhang damit, die Hauptschauplätze unserer Kriegsaktionen.

3. Die Zusammensetzung und der Bau der Roten Armee im Einklang mit der Natur des Arbeiter- und Bauernstaates und mit den Aufgaben seiner bewaffneten Macht.

4. Die strategische und taktische Theorie der Roten Armee.

Die Theorie der Heeresorganisation (p. 3) mitsamt der strategischen Theorie (p 4) wird offenbar die Kriegsdoktrin in eigentlichem (oder engem) Sinne des Wortes bilden. Die Zerlegung könnte aber auch weitergeführt werden. So kann man aus den verzeichneten Punkten die Fragen der Technik der Roten Armee, der Organisierung der Armeepropaganda usw. ausscheiden.

Ist es nötig, dass die Regierung, die führende Partei, das Kriegskommissariat in allen diesen Fragen bestimmte Anschauungen hat? Selbstverständlich ist dies nötig. Kann man die Rote Armee aufbauen, ohne bestimmte Ansichten darüber zu haben, welches ihre soziale Zusammensetzung sein soll, woher das Offiziers- und Kommissarenkorps zu ergänzen ist, wie die Armeeteile zu uniformieren, auszubilden und zu erziehen sind usw.? Und weiter, man kann auf diese Frage keine Antworten geben, ohne sich vorher über die innen- und außenpolitischen Grundaufgaben des Arbeiterstaates klar zu werden. Mit anderen Worten, das Kriegskommissariat muss leitende Prinzipien besitzen, auf Grund deren es die Armee aufbaut, erzieht und reorganisiert.

Muss man (und kann man) die Gesamtheit dieser Prinzipien als Kriegsdoktrin bezeichnen?

Darauf antwortete ich und antworte auch jetzt: wenn jemand die Gesamtheit der Prinzipien und der praktischen Methoden der Roten Armee durchaus als Kriegsdoktrin bezeichnen will, so werde ich, obwohl ich diese Vorliebe für den verblassten Plunder der alten Amtsphraseologie nicht teile, doch darum allein keinen Kampf führen (mein „Ausweichen"!). Aber falls jemand zu behaupten wagt, dass wir diese Prinzipien und diese praktischen Methoden überhaupt nicht besitzen,B dass unser Kollektivdenken darüber nicht gearbeitet hat und nicht arbeitet, so antworte ich: Ihr redet Unwahrheiten, Ihr berauscht Euch selbst und die anderen mit leerem Wortgebimmel. Statt über mangelnde Kriegsdoktrin zu schreien, legt uns vor, demonstriert uns, zeigt uns auch nur ein kleines Teilchen jener Kriegsdoktrin, die der Roten Armee fehlt. Aber das ist eben das Unglück: sobald unsere militärischen „Doktrinäre" vom Jammern über den Nutzen der Doktrin zu den Versuchen übergehen, eine solche vorzubringen, oder wenigstens auch nur ihre allgemeinsten Umrisse zu skizzieren, wiederholen sie entweder schlecht und recht das, was schon längst gesagt worden, was in das Bewusstsein eingegangen ist, was durch Beschlüsse der Parteitage und der Sowjetkongresse, durch Dekrete, Gesetze, Satzungen, Instruktionen viel besser und genauer als von unseren Neuerern ausgedrückt wurde, oder sie kommen in Verwirrung, überschlagen sich und geben ein ganz unmögliches Gewäsch zum besten.

Wir werden es gleich an jedem der Bestandteile der sogenannten Kriegsdoktrin im einzelnen zeigen.

6. Welche Armee schaffen wir, und für welche Aufgaben schaffen wir sie?

Die alte Armee fungierte als Werkzeug der Klassenunterdrückung der werktätigen Massen durch die Bourgeoisie. Mit dem Übergang der Staatsgewalt auf die werktätigen und ausgebeuteten Klassen entstand die Notwendigkeit, eine neue Armee zu schaffen, die ein Bollwerk der Sowjetmacht in der Gegenwart, eine Grundlage für die Ersetzung des stehenden Heeres durch die Volksbewaffnung in der nächsten Zukunft und eine Stütze für die sozialistische Revolution in Europa sein soll."

So lautet das Dekret des Rates der Volkskommissare vom 12. Januar 1918 über die Bildung der Roten Armee. Es tut mir sehr leid, dass ich hier nicht alles anführen kann, was unser Parteiprogramm und die Resolutionen unserer Kongresse über die Rote Armee sagen. Ich empfehle den Lesern die Lektüre dieser Entschließungen aufs eindringlichste: es ist dies eine sehr nützliche und lehrreiche Literatur. Dort wurde sehr klar gesagt, „welche Armee wir schaffen und für welche Aufgaben wir sie schaffen." Was wollen also die neu gebackenen Kriegsdoktrinäre in dieser Beziehung noch hinzufügen? Anstatt eine Umformulierung der genauen und klaren Formulierungen auszuklügeln, sollte man sich lieber die propagandistische Aufklärung der jungen Rotarmisten über diese Leitsätze vornehmen. Das wäre viel nützlicher.

Aber, wird man uns sagen, und sagt es auch jetzt: in den Resolutionen und in den Dekreten wurde die internationale Rolle der Roten Armee und insbesondere die Notwendigkeit, sich für die revolutionären Offensivkriege vorzubereiten, nicht genügend betont. Darauf legt Solomin besonderes Gewicht: „ … Wir schaffen eine Klassenarmee des Proletariats, schreibt er an derselben Stelle (S. 22) – eine Arbeiter- und Bauernarmee nicht nur zum Zwecke der Verteidigung gegen die bürgerlich-junkerliche Konterrevolution, sondern auch für die Revolutionskriege, (sowohl defensive, wie offensive) gegen die imperialistischen Mächte, für die Kriege vom Typus der Halbbürgerkriege (?), in denen die Offensivstrategie eine große Rolle spielen kann" Dies ist also die Offenbarung, dies das revolutionäre Fastenevangelium von Solomin. Aber leider irrt unser Verfasser gewaltig – wie dies Aposteln oft zustößt – wenn er sich einbildet, dass er etwas Funkelnagelneues entdeckt. Er formuliert nur schlecht das Alte. Gerade deshalb, weil der Krieg die Verlängerung der Politik mit dem Gewehr in der Hand ist, konnte es und kann es für unsere Partei keinen prinzipiellen Streit über die Rolle geben, die revolutionäre Kriege in der Entwicklung der Weltrevolution der Arbeiterklasse spielen können und müssen. Diese Frage wurde in der russischen marxistischen Presse nicht erst seit gestern gestellt und gelöst. Ich könnte ein Dutzend Leitartikel in der Parteipresse, besonders seit der Zeit des imperialistischen Krieges anführen, in denen der revolutionäre Krieg eines Arbeiterstaates als etwas ganz Selbstverständliches behandelt wird. Ich greife aber auf eine noch weitere Vergangenheit zurück und führe die Zeilen an, die ich selbst 1905 geschrieben habe.

Dies (die Entwicklung der russischen Revolution) gibt den sich aufrollenden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet die größte Perspektive: die politische Befreiung, die von der Arbeiterklasse Russlands geleitet wird, hebt die Leiterin selbst zu einer in der Weltgeschichte nie dagewesenen Höhe empor, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hände und macht sie zur Bahnbrecherin der Weltliquidierung des Kapitalismus, für die alle objektiven Voraussetzungen bereits durch den Gang der Weltgeschichte geliefert wurden.

Wird das russische Proletariat, wenn es die Macht zeitweilig in die Hände bekommt, nicht aus eigener Initiative die Revolution auf den europäischen Boden tragen, so wird es dazu durch die europäische feudal-bürgerliche Reaktion gezwungen werden.

Es wäre selbstverständlich unnütz, jetzt die Wege voraussehen zu wollen, auf denen die russische Revolution auf das alte kapitalistische Europa übergreifen wird: diese Wege können ganz unerwartet sein. Eher um unsere Gedanken zu illustrieren, als um zu prophezeien, wollen wir uns bei Polen, als Bindeglied zwischen dem revolutionären Osten und dem revolutionären Westenaufhalten.

Der Triumph der Revolution in Russland bedeutet unvermeidlich den Sieg der Revolution in Polen. Es ist nicht schwer, sich zu denken, dass das revolutionäre Regime in den zehn Gouvernements Russisch-Polens unvermeidlich Galizien und Posen wecken wird.C Die Hohenzollernsche und die Habsburgische Regierung werden hierauf mit der Zusammenziehung ihrer Truppen an der polnischen Grenze antworten, um diese dann zu überschreiten und den Feind in seiner Hauptstadt, in Warschau zu schlagen. Es ist klar, dass die russische Revolution ihre westliche Vorhut nicht in den Händen der preußisch-österreichischen Soldateska lassen kann. Der Krieg mit den Regierungen Wilhelms II. und Franz Josephs wird unter solchen Umständen zum Selbsterhaltungsgesetz für die revolutionäre Regierung Russlands werden. Welche Stellung wird dabei das deutsche und österreichische Proletariat einnehmen? Es ist klar, dass es dem konterrevolutionären Kreuzzug seiner nationalen Armeen nicht gleichgültig zusehen kann. Ein Krieg des feudal-bürgerlichen Deutschlands gegen das revolutionäre Russland bedeutet unvermeidlich eine proletarische Revolution in Deutschland. Wem eine solche Behauptung zu kategorisch scheint, der möge sich ein anderes geschichtliches Ereignis ausdenken, das mehr geeignet wäre, die deutschen Arbeiter und die deutsche Reaktion auf den Weg einer offenen Machtprobe zu stoßen." (Siehe Trotzki „Unsere Revolution", S, 280, russisch.)

Selbstredend sind die Ereignisse nicht in derselben geschichtlichen Reihenfolge eingetreten, die nur hypothetisch, der Anschaulichkeit wegen in diesen Zeilen vor 16 Jahren vorgezeichnet wurden. Aber der allgemeine Entwicklungsgang bestätigte und bestätigt auch weiterhin die Voraussage, dass die Epoche der proletarischen Revolution unvermeidlich zu einer Epoche der revolutionären Kriege werden wird und dass die Machteroberung durch das junge russische Proletariat es unvermeidlich auf den Krieg mit den Mächten der Weltreaktion stoßen wird. Schon vor anderthalb Jahrzehnten also waren wir uns im Hauptsächlichen darüber klar, „welche Armee" und „für welche Aufgaben" wir sie werden schaffen müssen.

7. Revolutionäre Politik und Methodismus.

Also existiert für uns in Bezug auf den revolutionären Offensivkrieg prinzipiell keine Frage. Aber bezüglich dieser „Doktrin" muss der proletarische Staat dasselbe sagen, was bezüglich der revolutionären Offensive der Arbeitermassen im bürgerlichen Staate (der „Offensivtheorie") der letzte Kongress der Kommunistischen Internationale sagte: Nur ein Verräter kann die Offensive prinzipiell ablehnen; nur ein Einfaltspinsel aber die ganze Strategie auf die Offensive beschränken.

Bedauerlicherweise finden sich unter unseren neu gebackenen Doktrinären sehr viele solcher offensiven Einfaltspinsel, die unter der Flagge der Kriegsdoktrin in unseren militärischen Betrieb dieselben einseitigen „linksradikalen" Tendenzen hineinzuschmuggeln versuchen, die zur Zeit des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale ihren vollkommenen Ausdruck in der „Offensivtheorie" gefunden hatten: „Da (!) wir in einer revolutionären Epoche stehen, folgt (!), dass die Kommunistische Partei eine Offensivpolitik führen muss." Die Übersetzung des „Linksradikalismus" in die Sprache der Kriegsdoktrin bedeutet eine Potenzierung des Fehlers. Indem die marxistische Taktik die prinzipielle Grundlage des unversöhnlichen Klassenkampfes wahrt; zeichnet sie sich gleichzeitig durch eine außerordentliche Biegsamkeit, Beweglichkeit oder, um in der militärischen Sprache zu reden, durch ihre Manövrierfähigkeit aus. Gegen diese prinzipielle Festigkeit bei gleichzeitiger Biegsamkeit der Methoden und der Form tritt nur ein steifer Methodismus auf, der aus der Beteiligung oder Nichtbeteiligung an der parlamentarischen Tätigkeit, aus der Anerkennung oder Ablehnung der Verständigung mit den nichtkommunistischen Parteien und Organisationen eine absolute, angeblich für alle Verhältnisse geeignete Methode macht.

Das Wort „Methodismus" selbst wird am häufigsten in der militärisch-strategischen Literatur angewandt. Das Streben, eine bestimmte Handlungsweise, die bestimmten Verhältnissen entspricht, zu einem ständigen System zu erheben, charakterisiert Epigonen, mittelmäßige Heerführer und Routiniers. Da die Menschen sich nicht unausgesetzt, sondern nur mit großen Unterbrechungen bekriegen, ist der Druck der Methoden und Mittel des letzten Krieges auf das Bewusstsein der Kriegsleute der Friedensepoche eine gewöhnliche Erscheinung. Der Methodismus äußert sich daher am grellsten auf dem Gebiete der Kriegswissenschaft. Es steht außer Zweifel, dass die irrigen Tendenzen des Methodismus, gerade in den Versuchen zum Ausdruck kommen, eine Doktrin des „revolutionären Offensivkrieges" zu konstruieren.

Diese Doktrin enthält zwei Elemente: das international-politische und das operativ-strategische. Denn erstens handelt es sich darum, eine, wie man in der Kriegssprache sagt, „offensive Außenpolitik" zum Zwecke der Beschleunigung der revolutionären Lösung zu entfalten, zweitens darum, der Strategie der Roten Armee selbst einen offensiven Charakter zu geben. Diese zwei Fragen müssen, obwohl sie in gewisser Beziehung verknüpft sind, hier doch auseinandergehalten werden.

Dass wir auf revolutionäre Kriege nicht verzichten, zeigen nicht nur die Artikel und Resolutionen, sondern auch die großen historischen Ereignisse. Nachdem die polnische Bourgeoisie uns im Frühjahr 1920 einen Verteidigungskrieg aufgezwungen hatte, versuchten wir, unsere Verteidigung zur revolutionären Offensive zu entwickeln. Dieser Offensive war zwar kein Erfolg beschieden, aber eben daraus ergibt sich eine nicht unwichtige zusätzliche Folgerung: der revolutionäre Krieg, der unbestreitbar ein Werkzeug unserer Politik unter bestimmten Umständen ist, kann unter anderen Umständen ein unseren Berechnungen direkt entgegengesetztes Ergebnis zeitigen.

In der Periode des Brester Friedens mussten wir zum ersten Mal in einem breiten Maßstabe den politisch-strategischen Rückzug anwenden. Damals glaubten viele, dass dies uns zum Verderben gereichen werde. Aber schon nach einigen Monaten hat es sich gezeigt, dass die Zeit gut für uns gearbeitet hatte. Im Februar 1918 war der deutsche Militarismus, obwohl schon untergraben, doch noch stark genug, um unsere damals noch verschwindend geringen Kräfte zu erdrücken. Im November ging er schon in die Brüche. Unser Brester außenpolitischer Rückzug war unsere Rettung geworden.

Nach Brest mussten wir einen ununterbrochenen Krieg gegen die weißen Armeen und die fremden Okkupationstruppen führen. Dieser Kleinkrieg war sowohl defensiv als auch offensiv, und zwar sowohl in politischer als auch in militärischer Hinsicht. Als Ganzes jedoch war unsere staatliche Außenpolitik während dieser Periode vornehmlich eine Verteidigungs- und Rückzugspolitik. (Verzicht auf die Sowjetisierung der Ostseestaaten, unsere wiederholten Friedensangebote, mit der Bereitschaft zu den weitestgehenden Zugeständnissen, die „neue" Wirtschaftspolitik, die Anerkennung der Schulden usw.) Wir zeigten insbesondere die größte Nachgiebigkeit gegenüber Polen, dem wir günstigere Bedingungen anboten, als sie ihm von der Entente in Aussicht gestellt wurden. Unsere Bemühungen hatten keinen Erfolg. Pilsudski griff uns an. Der Krieg nahm einen auf unserer Seite offenbar defensiven Charakter an. Diese Tatsache trug im höchsten Grade dazu bei, die öffentliche Meinung nicht nur der Arbeiter und der Bauern, sondern auch der zahlreichen bürgerlich-intellektuellen Elemente um uns zu scharen. Die erfolgreiche Verteidigung entfaltete sich naturgemäß zur siegreichen Offensive. Wir überschätzten jedoch den revolutionären Charakter der damaligen inneren Lage Polens. Diese Überschätzung kam in der außerordentlichen, d. h. unseren Machtmitteln nicht entsprechenden Offensivität unserer Operationen zum Ausdruck. Wir stürmten allzu unbesorgt vorwärts und das Ergebnis ist bekannt: wir wurden zurückgeworfen.

Fast gleichzeitig mit diesen Ereignissen zerschellte eine machtvolle revolutionäre Welle in Italien, weniger am Widerstande der Bourgeoisie als an der verräterischen Passivität der leitenden Arbeiterorganisationen. Der Misserfolg unseres Augustfeldzuges gegen Warschau und die Niederlage der Septemberbewegung in Italien änderten die Machtverhältnisse in ganz Europa zugunsten der Bourgeoisie. Die politische Lage der Bourgeoisie wurde seitdem fester, ihr Verhalten selbstsicherer. Der Versuch der Kommunistischen Partei Deutschlands, durch eine künstliche Generaloffensive die Lösung zu beschleunigen, ergab nicht das gewünschte Ergebnis und konnte es nicht ergeben. Die revolutionäre Bewegung zeigte ein langsameres Tempo, als wir es 1918-19 erwartet hatten. Der soziale Boden blieb indessen unterminiert. Die Industrie- und Handelskrise nahm ungeheuerliche Dimensionen an. Jähe Wendungen der politischen Entwicklung, in der Form von revolutionären Ausbrüchen, sind in der nächsten Zukunft vollkommen möglich. Aber im allgemeinen erhielt die Entwicklung einen mehr schleppenden Charakter. Der III. Kongress der Internationale rief die kommunistischen Parteien zur sorgfältigen und unermüdlichen Vorbereitung auf. In vielen Ländern waren die Kommunisten gezwungen, weitgehende strategische Rückzüge auszuführen und auf die unmittelbare Losung jener Aufgaben zu verzichten, die sie sich noch kurz vorher gestellt hatten. Die Angriffsinitiative wurde auf eine gewisse Zeit von der Bourgeoisie übernommen. Die Tätigkeit der kommunistischen Parteien hat zur Zeit einen vorwiegend defensiven und organisatorisch-vorbereitenden Charakter. Unsere revolutionäre Defensive bleibt nach wie vor elastisch, d. h. fähig, sich bei einem entsprechenden Wechsel der Verhältnisse in eine Gegenoffensive zu verändern, die ihrerseits mit einer Entscheidungsschlacht endigen kann.

Der Misserfolg des Feldzuges gegen Warschau, der Sieg der Bourgeoisie in Italien, die zeitweilige Ebbe in Deutschland hatten uns gezwungen, einen großen Rückzug zu vollziehen, der mit dem Rigaer Vertrag begann und mit der bedingten Anerkennung der alten Schulden endete.

Auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Aufbaus hatten wir im Laufe dieser Periode einen nicht weniger großen Rückzug vollzogen: Zulassung von Konzessionen, Abschaffung des Getreidemonopols, Verpachtung von zahlreichen Industriebetrieben usw. Die Grundursache dieser aufeinanderfolgenden Rückzugsbewegungen ist die Tatsache der fortbestehenden kapitalistischen Einkreisung d. h. der relativen Stabilität des kapitalistischen Regimes.

Was wollen also eigentlich jene Verkünder der Kriegsdoktrin, (wir nennen sie kurz Doktrinäre – sie verdienen es wohl) die verlangen, dass wir die Rote Armee unter dem Gesichtswinkel des revolutionären Offensivkrieges orientieren? Wollen sie die bloße Anerkennung des Prinzips? Dann rennen sie offene Türen ein. Oder sind sie der Meinung, dass in der internationalen Lage oder in unserer inneren Lage solche Bedingungen eingetreten sind, die den revolutionären Offensivkrieg für uns auf die Tagesordnung stellen? Dann müssten unsere Doktrinäre ihre Hiebe nicht gegen das Kriegskommissariat, sondern gegen unsere Partei und gegen die Kommunistische Internationale richten, denn niemand anders als der Weltkongress hat im Sommer 1921 die revolutionäre Offensivstrategie als unzeitgemäß abgewiesen, alle Parteien zur sorgfältigen Vorbereitungsarbeit, aufgerufen und die defensive Bewegung in der Politik Sowjetrusslands als den Verhältnissen entsprechend gebilligt.

Oder ist etwa irgendeiner unserer Doktrinäre der Meinung, dass während die „schwachen" kommunistischen Parteien in den bürgerlichen Staaten die vorbereitende Arbeit zu führen hätten, die „allmächtige" Rote Armee einen revolutionären Offensivkrieg entfalten müsse? Vielleicht schicken sich manche ungeduldigen Strategen auch wirklich an, die Last des internationalen oder auch nur des europäischen „letzten Gefechtes" der Roten Armee aufzubürden. Wer eine derartige Politik im Ernst predigt, der wird besser tun, sich einen Mühlstein an den Hals zu hängen und auch im Übrigen dem bekannten Hinweis des Evangeliums gemäß zu handeln.

8. Die Erziehung im „Offensivgeiste".

In dem Bestreben, sich aus den Widersprüchen der Offensivdoktrin im Zeitalter des defensiven Rückzugs herauszuwinden, gibt Genosse Solomin der „Doktrin" des revolutionären Krieges eine … erzieherische Bedeutung. Gegenwärtig – gibt er zu, – seien wir wirklich am Frieden interessiert und wir würden ihn mit allen Mitteln schützen. Aber trotz unserer Verteidigungspolitik seien revolutionäre Kriege unvermeidlich. Wir müssten uns auf sie vorbereiten und folglich auch den „Offensivgeist" für die Zukunftsbedürfnisse züchten. Die Offensive ist also nicht im Fleisch, sondern im Geiste und in der Wahrheit zu verstehen. Mit anderen Worten, Genosse Solomin will neben dem Mobilisationsvorrat an Militärzwieback auch einen Mobilisationsstock der offensiven Begeisterung haben. Immer besser! Haben wir oben bei unserem gestrengen Kritiker das Unverständnis für die Methoden der revolutionären Strategie gesehen, so stellen wir hier die Verkennung der Gesetze der revolutionären Psychologie fest.

Wir brauchen den Frieden nicht aus Rücksichten der Doktrin, sondern deshalb, weil die Werktätigen kriegsmüde sind. Unsere Anstrengungen sind darauf gerichtet, für die Arbeiter und Bauern eine möglichst lang andauernde Friedensperiode zu erkämpfen. Wir setzen es der Armee selbst auseinander, dass wir nur deshalb nicht demobilisieren können, weil uns neue Überfälle drohen. Aus diesen Verhältnissen zieht Solomin den Schluss, dass wir die Rote Armee in der Ideologie des revolutionären Offensivkrieges „erziehen müssen". Welch' idealistische Auffassung der „Erziehung"! „Wir sind außerstande Krieg zu führen und beabsichtigen es auch nicht", – räsoniert Genosse Solomin melancholisch, – „wir müssen aber bereit sein, und darum müssen wir uns zur Offensive vorbereiten, – so ist die widerspruchsvolle Formel, zu der wir gekommen sind …" Die Formel ist wirklich widerspruchsvoll. Wenn aber Solomin denkt, dass dieser Widerspruch ein „guter", ein dialektischer ist, so irrt er gewaltig: er ist einfach ein Widersinn.

Unsere innere Politik stellte sich in der letzten Periode die Annäherung an die Bauernschaft als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Besonders akut ist für uns die Frage der Bauernschaft gestellt in der Armee. Glaubt Solomin im Ernst, dass jetzt, wo die unmittelbare Gefahr der Junkerherrschaft beseitigt ist und die europäische Revolution potentiell bleibt, wir die zu neun Zehnteln bäuerliche, über eine Million Mann zählende Armee unter dem Banner des Offensivkrieges, im Namen der Erkämpfung der proletarischen Revolution zusammenschließen können? Eine derartige Propaganda wäre blutleer.

Selbstverständlich denken wir keinen Augenblick daran, es vor den Werktätigen, darunter auch vor der Roten Armee zu verheimlichen, dass wir grundsätzlich immer für den revolutionären Offensivkrieg sein werden, soweit er zur Befreiung der Werktätigen in den anderen Ländern beitragen kann. Aber wer sich einbildet, dass er auf Grund dieser prinzipiellen Erklärung die entsprechende Ideologie der Roten Armee unter den gegenwärtigen Bedingungen schaffen oder „anerziehen" kann, der versteht weder die Rote Armee noch die gegenwärtigen Verhältnisse. In der Tat weiß jeder denkende Rotarmist, dass wir, wenn im Winter und im Sommer kein Überfall auf uns erfolgt, sicher nicht den Frieden stören, im Gegenteil die Atempause mit allen Kräften zur Heilung unserer Wunden ausnutzen werden. In unserem erschöpften Lande lernen wir die Kriegskunst, bewaffnen uns, bauen eine große Armee, um uns gegen einen Überfall verteidigen zu können. Da haben wir eine „Doktrin", die klar, einfach und der Wirklichkeit entsprechend ist.

Gerade deshalb, weil wir im Frühling 1920 die Frage in dieser Weise gestellt hatten, lernte es jeder Rotarmist gut verstehen, dass das bürgerliche Polen uns den Krieg aufgezwungen hatte, den wir nicht gewollt, und den wir dem Volke um den Preis der äußersten Zugeständnisse ersparen wollten. Gerade aus diesem Bewusstsein heraus erwuchs die höchste Empörung und der Hass gegen den Feind; gerade dank dieser Sachlage konnte sich der Krieg, der als ein Defensivkrieg begann, zu einem Offensivkrieg entfalten.

Der Widerspruch zwischen der defensiven Propaganda und dem letzten Endes offensiven Charakter des Krieges ist ein „guter", realer, dialektischer Widerspruch. Und wir haben keinen Grund, den Charakter und die Richtung unserer kriegserzieherischen Arbeit den Konfusionisten zuliebe zu ändern, mögen sie auch im Namen der „Kriegsdoktrin" reden.

Wenn man von revolutionären Kriegen spricht, lässt man sich am häufigsten durch die Erinnerung an die Kriege der großen Französischen Revolution leiten. Dort fing man auch zunächst mit der Verteidigung an, schuf in dieser Verteidigung die Armee und ging dann zur Offensive über. Unter den Klängen der Marseillaise durchfegten die bewaffneten Sansculotten mit dem revolutionären Besen ganz Europa.

Die geschichtlichen Analogien sind sehr verlockend. Doch muss man sich ihrer mit der größten Vorsicht bedienen. Sonst kann man über die formellen Ähnlichkeitszüge die materiellen Unterschiede übersehen. Das Frankreich vom Ende des XVIII. Jahrhunderts war das reichste und das zivilisierteste Land des europäischen Kontinents. Das Russland des XX. Jahrhunderts ist das ärmste und das zurückgebliebenste Europas. Die revolutionäre Aufgabe der französischen Armee hatte einen viel oberflächlicheren Charakter, als jene revolutionären Aufgaben, die jetzt vor uns stehen: damals ging es um den Sturz der „Tyrannen", um die Beseitigung oder Milderung der feudalen Leibeigenschaft. Für uns dagegen geht es um die volle Vernichtung der Ausbeutung und der Klassenunterdrückung.

Aber auch bezüglich der bürgerlich-revolutionären Aufgaben zeigte sich die Rolle der französischen Waffen, d.h. der Waffen eines Landes, das gegenüber dem zurückgebliebenen Europa fortgeschritten war, sehr beschränkt und vergänglich. Nach dem Falle des Bonapartismus, der aus dem revolutionären Kriege hervorgegangen war, kehrte Europa zu seinen Königen und Feudalen zurück.

In dem gigantischen Klassenkriege, der sich gegenwärtig abspielt, kann die Rolle der militärischen Intervention von außen nur eine begleitende, mitwirkende sekundäre Bedeutung haben. Die militärische Intervention kann die Lösung beschleunigen und den Sieg erleichtern. Dazu muss aber die Revolution nicht nur in den sozialen Verhältnissen, sondern auch im politischen Bewusstsein herangereift sein. Die militärische Intervention wirkt ähnlich wie die Geburtszange: rechtzeitig angewendet, kann sie die Geburtswehen kürzen, vorzeitig ins Werk gesetzt, kann sie nur eine Fehlgeburt zeitigen.

9. Der strategische und technische Inhalt der „Kriegsdoktrin". (Manövrierfähigkeit)

Das Obengesagte bezieht sich weniger auf die Rote Armee selbst, auf ihren Bau und ihre Wirkungsmethoden, als auf die politischen Aufgaben, die der Arbeiterstaat dieser Armee stellt.

Gehen wir jetzt auf die Kriegsdoktrin in engerem Sinne des Wortes ein. Wir haben vom Genossen Solomin gehört, dass solange wir die Doktrin des revolutionären Offensivkrieges nicht festgelegt haben werden, wir zur Verwirrung und zu Missgriffen in den organisatorischen, kriegspädagogischen und anderen Fragen verurteilt sein werden. Doch dieser Gemeinplatz macht den Kohl nicht fett. Statt zu wiederholen, dass aus einer guten Doktrin sich gute, praktische Folgerungen ergeben müssen, sollte man doch versuchen, diese Folgerungen vorzubringen!

Aber leider: Sobald unsere Doktrinäre versuchen, an die Folgerungen zu gehen, tischen sie uns entweder das hilfloseste Nachplappern der alten Binsenwahrheiten auf oder den schädlichsten selbst bereiteten Unsinn.

Am energischsten bemühen sich unsere Doktrinäre die Kriegsdoktrin in den operativen Fragen zu verankern. In strategischer Beziehung unterscheide sich die Rote Armee, nach ihren Aktionen prinzipiell von allen anderen Armeen, denn in unserer Epoche des bewegungslosen Stellungskrieges seien die Grundzüge der Operationen der Roten Armee die des Bewegungs- und die des Offensivkrieges.

Kein Zweifel: die Operationen des Bürgerkrieges zeichnen sich durch ihre außerordentliche Beweglichkeit aus. Man muss aber genau die Frage überlegen: entspringt die Bewegungstaktik der Roten Armee ihren inneren Eigenschaften, ihrem Klassencharakter, ihrem revolutionären Geiste, ihrem Kampfschwunge oder ergibt sie sich aus den objektiven Bedingungen: aus der ungeheuren Ausdehnung der Kriegsschauplätze und aus der relativen numerischen Schwäche der kämpfenden Heere? Diese Frage hat eine wesentliche Bedeutung, wenn man die Annahme macht, dass revolutionäre Kriege nicht nur am Don und an der Wolga, sondern auch an der Seine, der Schelde und der Themse zu führen sein werden.

Aber kehren wir vorläufig zu unseren heimischen Gewässern zurück. Hat nur die Rote Armee den Bewegungskrieg angewendet? Nein, auch die Strategie der Weißen war durchweg eine Bewegungsstrategie. Ihre Truppen waren meistenfalls numerisch und moralisch schwächer als die unsrigen, dagegen waren sie uns in Hinsicht auf die militärische Ausbildung überlegen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit der Bewegungsstrategie vor allem für die Weißen. Wir lernten von ihnen in der ersten Zeit diese Strategie. In der letzten Periode des Bürgerkrieges antworteten wir immer mit unseren Manövern auf ihre Manöver. Und durch die größte Beweglichkeit zeichneten sich schließlich die Operationen der Unger- und der Machnobanden aus – dieser räuberischen Entartungen des Bürgerkrieges. Welches ist die Folgerung daraus? Die Bewegungsstrategie ist nicht nur einer revolutionären Armee, sondern jedem Bürgerkriege als solchem eigen.

Die Operationen in den Nationalkriegen werden von einer Furcht vor Entfernungen begleitet. Trennt sich eine Armee – oder eine Abteilung von ihrer Basis, von ihren Volksgenossen, von ihrer Muttersprache, so gerät sie in eine ihr absolut fremde Umgebung, wo sie keinen Rückhalt, keine Deckung, keine Unterstützung findet. In einem Bürgerkriege wird jede der kämpfenden Parteien hinter der Front des Gegners in größerem oder kleinerem Grade Sympathien und Unterstützung finden. Die Nationalkriege werden (oder wurden wenigstens) mit schwerfälligen Massen unter der Ausnützung aller nationalstaatlichen Hilfsmittel der beiden Parteien geführt. Ein Bürgerkrieg bedeutet eine Entzweiung der Kräfte und der Hilfsmittel des durch die Revolution erschütterten Landes und wird, .besonders in der ersten Zeit, durch die initiatorische Minderheit jedes Landes, folglich von mehr oder weniger dünnen und daher beweglichen Massen geführt, er hängt also in viel größerem Maße von Improvisationen und Zufälligkeiten ab.

Die Bewegung charakterisiert den Bürgerkrieg in beiden Lagern. Man kann also die Bewegungstaktik auf keinen Fall als einen speziellen Ausdruck des revolutionären Charakters der Roten Armee betrachten.

Im Bürgerkrieg haben wir gesiegt. Wir haben keinen Grund zum Zweifel, dass die Überlegenheit der strategischen Führung auf unserer Seite war. Letzten Endes jedoch verdankten wir unseren Sieg der Begeisterung und der Selbstaufopferung der proletarischen Vorhut und der Unterstützung der Bauernmasse. Aber diese Bedingungen werden nicht von der Roten Armee geschaffen, sie sind vielmehr historische Voraussetzungen ihres Entstehens, ihrer Entwicklung und ihrer Erfolge.

Genosse Warin spricht in der Zeitschrift „Kriegswissenschaft und Revolution" darüber, dass die Beweglichkeit unserer Truppen alle geschichtlichen Vorbilder übertrifft. Diese Behauptung ist sehr interessant. Es wäre erwünscht, sie recht sorgfältig nachzuprüfen. Es steht außer Zweifel, dass die außerordentliche Schnelligkeit der Bewegungen, die Ausdauer und Selbstaufopferung erfordert, durch den revolutionären Geist der Armee, durch den Schwung, den die Kommunisten in die Armee hinein trugen, bedingt wurde. Für die Hörer unserer Kriegshochschule bietet sich hier eine interessante Aufgabe: die Feldzüge der Roten Armee vom Standpunkte der Schnelligkeit ihrer Bewegungen aus mit anderen geschichtlichen Beispielen, insbesondere mit den Feldzügen der Armeen der großen Französischen Revolution zu vergleichen. Andererseits wären dieselben Elemente bei den Roten und bei den Weißen in unserem Bürgerkriege zu vergleichen. Stießen wir vor, so zogen sie sich zurück und umgekehrt. Haben wir wirklich in unseren Märschen durchschnittlich größere Ausdauer gezeigt und in welchem Maße war diese Eigenschaft einer der Faktoren unseres Sieges? Dass in einzelnen Fällen die kommunistische Hefe eine übermenschliche Kraftanstrengung zuwege bringen konnte, steht außer Zweifel. Ob sich aber dieses Ergebnis an den Erfolgen der ganzen Kampagne zeigt, in deren Verlaufe sich die Schranken der physischen Leistungsfähigkeit des Organismus offenbaren mussten, – das ist die Frage, die man durch besondere Untersuchungen aufklären müsste Von einer solchen Untersuchung dürfte man freilich keine umwälzenden Folgen für die ganze Kriegslehre erwarten. Sie würde aber zweifellos unsere Kenntnis vom Wesen des Bürgerkriegs und der revolutionären Armee mit gewissen wertvollen, tatsächlichen Beiträgen bereichern.

Das Bestreben, alle die strategischen und taktischen Züge der Roten Armee, die sie im Laufe der vergangenen Periode kennzeichneten, zu einem festen Prinzip, zu einem Dogma zu erheben, könnte sehr schädlich und selbst verhängnisvoll werden. Man kann von vornherein sagen, dass die Operationen der Roten Armee auf dem asiatischen Kontinent, – falls sie auf diesem Gebiete kämpfen müsste – notgedrungen einen ausgesprochenen Bewegungscharakter trügen. Die wichtigste, in vielen Fällen auch die einzige Rolle würde die Kavallerie spielen müssen. Andererseits aber unterliegt es keinem Zweifel, dass die Kriegsoperationen auf dem westlichen Kriegsschauplatz einen viel mehr gebundenen Charakter hätten. Die Operationen auf einem national anders beschaffenen und dichter bevölkerten Territorium müssten – bei größerer numerischer Stärke der Armeen im Verhältnis zum Territorium – den Krieg zweifelsohne dem Stellungskrieg nähern und jedenfalls der Bewegungsfreiheit viel engere Schranken setzen.

Die Feststellung, dass die Rote Armee zur Verteidigung von befestigten Punkten unfähig sei (Tuchatschewski), resümiert die Lehren der vergangenen Periode im Großen und Ganzen richtig, sie kann aber unter keinen Umständen als unbedingte Richtlinie für die Zukunft anerkannt werden. Die Verteidigung der befestigten Punkte erfordert Festungstruppen oder richtiger, sie erfordert hochwertige, durch Erfahrung zusammengekittete und selbstsichere Truppen. Im Laufe der vergangenen Periode häuften wir diese Eigenschaften nur an. Jedes Regiment für sich und die Armee als Ganzes waren eine lebendige Improvisation. Man konnte den Aufschwung, den Elan sichern – und dies erreichten wir – aber man konnte die nötige Routine, die automatische Geschlossenheit, das Vertrauen der einander benachbarten Armeeteile zur gegenseitigen Hilfe nicht künstlich herstellen. Die Tradition konnte man nicht durch einen Befehl schaffen. Jetzt besteht dies alles in bedeutendem Maße und wird sich mit der Zeit immer mehr anhäufen. Dadurch werden die Voraussetzungen für eine bessere Führung von Bewegungsoperationen und nötigenfalls von Stellungsoperationen erzeugt.

Man muss auf die Versuche verzichten, eine absolute revolutionäre Strategie aus den Elementen der beschränkten Erfahrung des dreijährigen Bürgerkrieges zu bauen, da Armeeteile von einer bestimmten Qualität unter bestimmten Bedingungen kämpften. Davor hat Clausewitz sehr richtig gewarnt.

Was ist natürlicher", – schrieb er – als dass der Revolutionskrieg Frankreich seine eigene Weise hatte, die Dinge zu machen, und welche Theorie hätte die Eigentümlichkeit mit aufzufassen vermocht? Das Übel ist nur, dass eine solche aus dem einzelnen Fall hervorgehende Manier sich selbst leicht überlebt, weil sie bleibt, während die Umstände sich unvermerkt verändern; das ist es, was die Theorie durch eine lichte und verständige Kritik verhindern soll.D Und er erwähnt, dass 1806 die preußischen Generale diesem Methodismus verfielen. Leider neigen nicht nur preußische Generale zum Methodismus, d. h. zur toten Schablone.

10. Offensive und Defensive im Lichte des imperialistischen Krieges.

Für den ersten spezifischen Bestandteil der revolutionären Strategie wird die Offensivtaktik, erklärt. Der Versuch, auf dieser Grundlage eine Doktrin aufzubauen, ist umso einseitiger, als in der Epoche, die dem Weltkrieg vorausging, die Offensivstrategie in den keineswegs revolutionären Stäben und Kriegsakademien fast aller großen Länder Europas kultiviert wurde. Trotz allem was Genosse Frunse schreibt,E war (und bleibt formell auch jetzt) die Offensive die offizielle Doktrin der Französischen Republik. Jaurès kämpfte unermüdlich gegen den Doktrinarismus der reinen Offensive, dem er den pazifistischen Doktrinarismus der reinen Defensive entgegenstellte. Eine jähe Reaktion gegen die traditionelle offizielle Doktrin des französischen Generalstabs trat infolge des letzten Krieges ein. Es wird nicht nutzlos sein, hier zwei krasse Belege dafür anzuführen. Die französische Militärzeitschrift „Revue Militaire Francaise" (vom 1. September 1921, S. 366) führt folgenden Lehrsatz an, der vom französischen Generalstab dem den Deutschen entlehnten „Reglement über die Kampfoperationen mit großen Einheiten" einverleibt wurde: „Die Lehren der Vergangenheit haben ihre Früchte gebracht: die französische Armee, zu ihren Überlieferungen zurückgekehrt, lässt von nun an in ihren Operationen kein anderes Gesetz außer dem der Offensive zu." „Dieses Gesetz“ – schreibt die Zeitschrift, – „das seitdem in unseren Reglements für die allgemeine Taktik und für die Sondertaktik der einzelnen Waffengattungen aufgenommen wurde, sollte die Grundlage für unsere ganze Kriegslehre abgeben, die mittels der Aussprachen, der praktischen Übungen auf der Karte oder im Gelände, und schließlich mittels der sog. großen Manöver in das Bewusstsein sowohl der Hörer unseres Generalstabs, als auch unseres Armeekommandos eingepflanzt wurde."

Dieser Umstand“, – fährt die militärische Zeitschrift fort, – „rief damals eine derartige Begeisterung für das berühmte Offensivgesetz hervor, dass jeder, der es gewagt hätte, mit irgendeinem Vorbehalt zugunsten der Defensive aufzutreten, schlecht angekommen wäre. Um ein guter Hörer des Generalstabs zu sein, musste man, sei es auch unbefriedigend, das Zeitwort „angreifen" fortgesetzt deklinieren."

Das konservative „Journal des Débats" unterzieht in seiner Nr. vom 5. Oktober 1921 unter demselben Gesichtswinkel die in diesem Sommer erschienenen Satzungen für Infanteriemanöver einer sehr scharfen Kritik. „Zu Anfang dieses vorzüglichen Buches", sagt die Zeitung, „wird eine Reihe von Prinzipien dargelegt, die als offizielle Kriegsdoktrin von 1921 aufgestellt werden. Diese Prinzipien sind vortrefflich; aber warum leisteten die Verfasser der alten Sitte Tribut, warum widmen sie die erste Seite der Lobpreisung der Offensive? Warum stellen sie auf den eminentesten Platz des Axiom: wer zuerst angreift, wirkt auf die Psychologie des Gegners durch die Äußerung eines überlegenen Willens ein?"

Nachdem die Zeitung die Erfahrung zweier hervorragender Kampfmomente an der französischen Front analysiert hat, sagt sie weiter: „Die Offensive kann nur auf die Psychologie eines Gegners einwirken, wer keine Mittel hat oder in einem solchen Grade schwach ist, dass man damit niemals rechnen darf. Auf einen Gegner, der seiner Kraft bewusst ist, übt ein Angriff keine niederdrückende Wirkung aus. In der Tatsache der feindlichen Offensive sieht er keineswegs die Äußerung eines überlegenen Willens. Ist die Verteidigung bewusst gedacht und vorbereitet, wie im August 1914 (bei den Deutschen) oder im Juli 1918 (bei den Franzosen), so glaubt der sich Wehrende im Gegenteil, dass sein Wille stärker ist, weil der Gegner in die Falle geht."

Ihr macht einen seltsamen psychologischen Fehler“, – fährt der Militärkritiker fort. – „wenn Ihr die Passivität des Franzosen und seine Vorliebe für die Defensive fürchtet. Der Franzose ist immer bereit, sich als erster oder als zweiter in die Offensive zu stürzen, aber in eine gehörig organisierte Offensive. Doch erzählt ihm keine Märchen aus Tausend und eine Nacht über den Herrn, der zuerst angreift, weil er willensstärker ist. Durch die bloße Tatsache der Offensive ist der Erfolg noch keineswegs garantiert. Die Offensive ist erfolgreich, wenn man für sie die verschiedenartigsten Mittel vorbereitet, die die Mittel des Gegners übertreffen. Denn schließlich siegt immer derjenige, der sich im Augenblick des Kampfes als der Stärkere zeigt."

Man kann natürlich versuchen, diesen Schluss, als dem Stellungskrieg entnommen, zu entkräften. Aber in Wirklichkeit ergibt er sich aus dem Bewegungskrieg mit noch größerer Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, obwohl in einer anderen Gestalt. Der Bewegungskrieg ist ein Krieg der großen Entfernungen. In dem Bestreben, die lebendige Kraft des Feindes zu vernichten, legt er auf die Entfernung keinen Wert. Seine Beweglichkeit findet ihren Ausdruck nicht nur in der Offensive, sondern auch im Rückzug, der nur eine Stellungsänderung ist.

11. Der Offensivgeist, die Initiative und die Aktivität.

Während der ersten Revolutionsperiode wichen die roten Truppen überhaupt der Offensive aus und zogen ihr die Verbrüderung und die Gespräche mit dem Feinde vor. In der Periode, da die revolutionäre Idee sich spontan über das Land verbreitete, war diese Methode sehr wirksam. Die Weißen bemühten sich während jener Periode umgekehrt, die Offensiven zu forcieren, um ihre Truppen vor der revolutionären Zersetzung zu bewahren. Selbst nachdem die Gespräche aufgehört hatten, das wichtigste Hilfsmittel der revolutionären Taktik zu sein, zeichneten sich die Weißen auch weiterhin durch stärkeren Offensivgeist aus als wir. Nur allmählich entwickelten die roten Truppen in sich die Aktivität und Selbstsicherheit, die ihnen die Möglichkeit der entschiedenen Aktionen sicherten. Der Bewegungskrieg kennzeichnet in hohem Maße die nachfolgenden Operationen der Roten Armee. Der krasseste Ausdruck dieser Bewegungsfähigkeit sind die Reiterzüge. Diese Reiterzüge hat uns Mamontow gelehrt. Auch scharfe Durchbrüche, Umzingelungen, Operationen im Rücken des Gegners lernten wir bei den Weißen. Erinnern wir uns doch! Zunächst bemühten wir uns, Sowjetrussland gegen die Weißen durch eine Postenkette zu schützen, wobei wir uns aneinander klammerten. Erst dann lernten wir am Beispiel des Feindes, uns zu Fäusten zusammenzuballen, wir gaben dann diesen Fäusten Beweglichkeit, setzten die Arbeiter auf Pferde, lernten große Reiterangriffe machen. Schon diese kleine Erinnerung genügt, um zu verstehen, wie grundlos, einseitig, theoretisch und praktisch falsch die' „Doktrin" klingt, nach welcher einer revolutionären Armee als solcher die offensive Bewegungsstrategie eigen ist. Unter bestimmten Verhältnissen ist eine solche Strategie vielmehr einer konterrevolutionären Armee eigen, die ihre zahlenmäßige Unterlegenheit durch die Tätigkeit der ausgebildeten Kader ersetzen muss.

Gerade im Bewegungskrieg verwischt sich die Grenze zwischen der Defensive und der Offensive in außerordentlichem Maße. Das Ziel der Bewegungsschlachten ist die Vernichtung der lebendigen Kraft des Gegners – ob sie sich nun 100 Kilometer näher oder weiter befindet. Der Bewegungskrieg verspricht uns den Sieg, sofern wir die Initiative in unserer Hand behalten. Die Hauptzüge der Bewegungsstrategie sind nicht die formelle Offensivtaktik, sondern die Initiative und die Aktivität.

Der Gedanke, dass die Rote Armee zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur an der wichtigsten Front entschieden offensiv vorging, indem sie sich zeitweise an den übrigen Fronten schwächte, und dass eben dieser Umstand das charakteristischste Moment ihrer Strategie während des Bürgerkrieges war (Artikel des Genossen Warin), ist im Wesen richtig, aber falsch ausgedrückt, und liefert daher nicht alle notwendigen Folgerungen. Indem wir an einer Front, die wir aus politischen oder aus anderen Gründen momentan für die wichtigste hielten, angriffen, schwächten wir uns an anderen Fronten, wo wir es für möglich hielten, uns zu verteidigen und uns zurückzuziehen. Das aber bezeugt eben – sonderbarerweise bemerkt man es nicht, – dass der Rückzug ebenso in unseren operativen Gesamtplan gehörte. Jene Fronten, wo wir uns defensiv zurückzogen, waren nur Abschnitte unserer ringförmigen Gesamtfront. An diesen Fronten fochten die Teile derselben Roten Armee, Kämpfer wie Führer. Wäre unsere ganze Strategie auf der Offensive aufgebaut, so ist es klar, dass die Truppen an jenen Fronten, an denen wir uns auf die Defensive beschränken, uns sogar zurückziehen, dem Zerfall und der Demoralisation verfallen müssen. Die Erziehungsarbeit in der Armee muss offenbar auch den Gedanken einschließen, dass der Rückzug keine Flucht ist, dass es strategische Rückzüge gibt, die sich aus dem Bestreben ergeben, bald die lebendige Kraft unversehrt zu erhalten, bald die Front zu verkürzen, bald den Feind näher heran zu locken, um ihn desto sicherer zu erdrücken. Und ist der strategische Rückzug als gesetzmäßig erkannt, so ist es unrichtig, die ganze Strategie auf die Offensive zu beschränken. Dies ist besonders – um es zu wiederholen – in Bezug auf die Bewegungsstrategie klar und unbestreitbar. Es ist klar, dass die Manöverstrategie eine komplizierte Kombination von Bewegungen und von Stößen, von Umgruppierungen, Märschen und Kämpfen ist, – mit dem endgültigen Zweck, den Feind zu vernichten. Wenn man aber aus der Manöverstrategie den strategischen Rückzug ausschließen will, so ist es klar, dass die Strategie einen außerordentlich starren Charakter annehmen, also aufhören wird, eine Manöverstrategie zu sein.

12. Die Sehnsucht nach stabilen Schemen.

Welche Armee schaffen wir denn und zu welchem Zwecke schaffen wir sie?", fragt Genosse Solomin. „Anders ausgedrückt: welche Feinde bedrohen uns und mit welchen strategischen Mitteln (Defensive oder Offensive) werden wir sie am schnellsten und „am wirtschaftlichsten" erledigen." („Die Kriegswissenschaft und die Revolution", Nr. 1, S. 19).

Diese Fragestellung bezeugt am grellsten, dass Solomin selbst, der über die neue Kriegsdoktrin doziert, vollkommen der Gefangene der Methoden und der Vorurteile des alten Doktrinarismus ist. Der österreichisch-ungarische Generalstab hatte (wie übrigens auch andere Generalstäbe) im Laufe von Jahrzehnten ausgearbeitete Kriegsvarianten: die Variante „I" (gegen Italien) und Variante „R" (gegen Russland), sowie entsprechende Kombinationen dieser Varianten. Die zahlenmäßige Stärke der italienischen und der russischen Heere, ihre Bewaffnung, die Bedingungen ihrer Mobilisation, ihrer strategischen Konzentrierung und Entfaltung, standen in diesen Varianten als feststehende oder wenigstens stabile Größen. In dieser Weise wusste die österreichisch-ungarische „Kriegsdoktrin", auf bestimmte historische Voraussetzungen gestützt, genau, welche Feinde die habsburgische Monarchie bedrohten, und dachte Jahr für Jahr darüber nach, wie man diese Feinde „am wirtschaftlichsten" erledigen könne. Die Gedanken der Theoretiker des Generalstabs bewegten sich in allen Ländern/in dem festgelegten Flussbett der „Varianten". Auf die Erfindung eines besseren Panzers beim zukünftigen Feind antwortete man mit der Verstärkung der Artillerie und umgekehrt. Die in dieser Tradition erzogenen Routiniers müssten sich inmitten unserer militärischen Aufbauarbeit sehr unbehaglich fühlen. Welche Feinde bedrohen uns? Wo sind unsere Generalstabsvarianten für die zukünftigen Kriege? Und mit welchen strategischen Mitteln (Defensive oder Offensive) gedenken wir, die vorgezeichneten Varianten zu verwirklichen?

Wenn ich den Artikel Solomins lese, taucht unwillkürlich die humoristische Figur des lebenden Zitatearchivs der Kriegsdoktrin, des Generals des Generalstabs, Borissow, vor mir auf. Welche Frage auch zur Beratung stand, Borissow hob stets seine zwei Finger hoch, um die Gelegenheit zu haben, zu sagen: „Diese Frage kann nur im Zusammenhang mit den anderen Fragen der Kriegsdoktrin entschieden werden, man muss daher vor allem einen Chef des Generalstabs einsetzen.'' Aus dem Schoß dieses Chefs des Generalstabs musste der Baum der Kriegsdoktrin emporschießen und alle nötigen Fruchte bringen, ähnlich wie dies im Altertum mit der Tochter eines orientalischen Königs geschehen sein soll. Solomin seufzt eigentlich ebenso wie Borissow nach dem verlorenen Paradies der stabilen Voraussetzungen der „Kriegsdoktrin", wo man zehn, zwanzig Jahre im Voraus wusste, welche Feinde, von wo und in welcher Weise sie drohten. Solomin braucht, ebenso wie Borissow, einen universalen Chef des Generalstabs, der die Scherben der zerschlagenen Gefäße sammeln, zusammenkleistern, auf das Regal stellen und die Zettel ankleben würde: Variante „P", Variante „R" usw. usw. Vielleicht wird Solomin bei dieser Gelegenheit auch den Universalkopf nennen, den er im Sinne hat? Was uns betrifft, so kennen wir leider keinen ähnlichen Kopf und denken sogar, dass er gar nicht existieren kann, weil seine Aufgaben ganz unerfüllbar sind.

Indem Solomin auf Schritt und Tritt von revolutionären Kriegen und von der revolutionären Strategie redet, übersieht er gerade den revolutionären Charakter der gegenwärtigen Epoche, der eine vollkommene Vernichtung der Stabilität, sowohl in den internationalen, wie in den inneren Beziehungen zur Folge hat. Deutschland existiert als Militärmacht nicht mehr. Nichtsdestoweniger ist der französische Militarismus gezwungen, mit fiebernden Augen die unbedeutendsten Vorkommnisse und Veränderungen im inneren Leben Deutschlands und an seinen Grenzen zu verfolgen: was dann, wenn Deutschland auf einmal einige Millionen Menschen auf die Beine stellt? Welches Deutschland? Vielleicht wird es das Deutschland Ludendorffs sein? Vielleicht aber wird dieses Deutschland nur den Anstoß geben, der für das heutige morsche Gleichgewicht tödlich sein muss und dem Deutschland Liebknechts und Luxemburgs den Weg ebnet? Wie viele „Varianten" muss der Generalstab besitzen? Wie viele Kriegspläne muss man haben, um „am wirtschaftlichsten" alle Gefahren abzuwehren?

Ich besitze in meinem Archiv nicht wenige Denkschriften, dicke, dünne und mittlere, deren gelehrte Verfasser mit liebenswürdiger pädagogischer Geduld uns darüber aufklären, dass eine Macht, die auf sich selbst etwas hält, bestimmte, geregelte Beziehungen aufstellen, sich über ihre eventuellen Feinde von vornherein klar werden, sich entsprechende Verbündete anschaffen oder nach Möglichkeit alle Mächte, die sie nur kann, neutralisieren muss usw. Denn, – führten die Verfasser der Denkschriften aus, – man kann sich für die neuen Kriege nicht mit geschlossenen Augen rüsten: man muss gewisse Unterlagen besitzen, um die zahlenmäßige Stärke der Armee, ihre Bestände, ihre Dislokation bestimmen zu können. Unter diesen Denkschriften stand die Unterschrift Solomins, soweit es mir erinnerlich ist, nicht, aber seine Gedanken standen dort unzweifelhaft. Die Verfasser waren, wie zum Trotz, alle aus der Borissowschen Schule.

Die internationale Orientierung, unter anderem auch die internationale militärische Orientierung, ist heutzutage schwieriger als in der Zeit des Dreibundes und des Dreiverbandes, Aber dagegen lässt sich nichts machen: die Epoche der größten militärischen und revolutionären Erschütterungen der Weltgeschichte hat so manche Varianten und Schablonen durchbrochen. Eine stabile, traditionelle, konservative Orientierung ist heutzutage undenkbar. Die Orientierung muss wachsam, beweglich und stoßkräftig, wenn man will – manövrierfähig sein. Stoßkräftig bedeutet nicht offensiv, sondern nur, dass sie der gegenwärtigen Kombination der internationalen Beziehungen entsprechen und auf die Gegenwartsaufgabe das Maximum der Kräfte konzentrieren muss.

Die Orientierung in den heutigen internationalen Verhältnissen erfordert eine viel größere Menge qualifizierter Gedankenarbeit als die Ausarbeitung der konservativen Elemente der Kriegsdoktrin in den vergangenen Zeiten. Dafür wird diese Arbeit auch in einem viel breiteren Maßstab und unter Anwendung von viel wissenschaftlicheren Methoden ausgeführt.

Die Hauptarbeit an der Einschätzung der internationalen Lage und der sich hieraus für die proletarische Revolution und für die Sowjetrepublik ergebenden Aufgaben wird von der Partei geleistet, durch ihr kollektives Denken, das seinen Ausdruck findet in den Formen der Führung, den Parteitagen und dem Zentralkomitee. Wir haben hier nicht nur die Kommunistische Partei Russlands, sondern auch unsere internationale Partei im Sinne. Wie pedantisch erscheinen die Forderungen Solomins, einen Katalog unserer Feinde aufzustellen und zu bestimmen, ob und wen wir angreifen werden, – im Vergleich mit der Arbeit der Einschätzung aller Kräfte der Revolution und der Konterrevolution in ihrem heutigen Zustande und in ihrer Entwicklung, die vom letzten Weltkongress der Kommunistischen Internationale geleistet wurde. Welche „Doktrin" braucht ihr denn noch?

Der Genosse Tuchatschewski hat sich an die Kommunistische Internationale mit dem Vorschlag gewandt, bei ihr einen internationalen Generalstab einzusetzen. Selbstredend war dieser Vorschlag verfehlt, er entsprach nicht der Lage und den Aufgaben, die der Kongress sich stellte. Konnte die Kommunistische Internationale selbst erst tatsächlich geschaffen werden, nachdem in den wichtigsten Ländern die starken kommunistischen Organisationen entstanden waren, so könnte der internationale Generalstab nur auf der Grundlage der nationalen Generalstäbe einiger proletarischer Staaten entstehen. Solange diese proletarischen Staaten nicht existieren, müsste der internationale Generalstab sich unvermeidlich in eine Karikatur verwandeln. Tuchatschewski hielt es für notwendig, seinen Irrtum noch zu betonen, indem er seinen Brief am Schlusse seines interessanten Buches „Der Krieg der Klassen" zum Abdruck brachte. Dieser Irrtum ist einer von derselben Art wie der heftige Vorstoß des Genossen Tuchatschewski gegen das Milizheer, das angeblich im Widerspruch zur Kommunistischen Internationale steht. Die „ungesicherten Offensiven" sind überhaupt, nebenbei gesagt, die schwache Seite des Genossen Tuchatschewski, eines unserer begabtesten jungen Kriegsfachleute.

Doch hat unser internationaler Kongress auch ohne den der Lage nicht entsprechenden und darum phantastischen internationalen Generalstab als Vertretung der revolutionären Arbeiterparteien die geistige Hauptaufgabe des internationalen „Generalstabes" vollzogen und vollzieht sie auch weiter: er machte eine Aufstellung der Freunde und Feinde, neutralisierte die Schwankenden zu dem Zweck, sie im weiteren auf die Seite der proletarischen Revolution zu ziehen, er schätzte die wechselnde Lage ein, er setzte die dringendsten Aufgaben fest und konzentrierte die Anstrengungen auf diese Aufgaben im internationalen Maßstab.

Die Schlüsse aus dieser Orientierung sind sehr kompliziert. Sie lassen sich in ein paar Stabsvarianten nicht hineinzwängen. Aber unsere Epoche ist einmal so. Die Überlegenheit unserer Orientierung besteht eben darin, dass sie dem Charakter der Epoche und ihren Verhältnissen entspricht. Nach dieser Orientierung richten wir uns auch in unserer Kriegspolitik. Am meisten sorgen wir dabei dafür, unserer militärischen Ideologie, unseren Methoden und unserem Apparat die elastische Biegsamkeit zu sichern, die uns ermöglichen soll, bei jedem Umschwung der Ereignisse die Hauptkräfte in der Hauptrichtung zu konzentrieren.

13. Defensivgeist und Offensivgeist.

Aber es ist ja „unmöglich, gleichzeitig im Defensivgeist und im Offensivgeist zu erziehen", sagt Solomin (S. 22). Das ist es eben, was wir Doktrinarismus nennen! Warum ist es unmöglich? Wer sagte, dass es unmöglich ist? Wo und wer hat es bewiesen? Niemand und nirgends, weil es grundverkehrt ist. Die ganze Kunst unseres militärischen (und nicht nur militärischen) Aufbaus in der Sowjetrepublik besteht eben darin, die internationalen revolutionär-offensiven Tendenzen der proletarischen Vorhut mit den revolutionär-defensiven Tendenzen der Bauernmasse und selbst der breiten Kreise der Arbeiterklasse selbst zu verbinden. Diese Verbindung entspricht der ganzen internationalen Lage. Indem wir den Sinn dieser Lage den fortgeschrittensten Elementen der Armee klarmachen, lehren wir sie dadurch, die Defensive und die Offensive richtig, nicht nur im strategischen, sondern auch im revolutionär-historischen Sinn dieser Worte, zu verbinden. Glaubt Solomin vielleicht, dass dadurch der „Geist" getötet werde? Bei ihm wie bei seinen Gesinnungsgenossen kann man Anspielungen in diesem Sinne begegnen. Das ist aber schon das reinste Linkssozialrevolutionärtum! Die Klärung des Wesens der äußeren und inneren Lage und die aktive, „manövrierfähige" Anpassung an diese Lage können unter keinen Umständen den Geist töten, sie können ihn nur abhärten.

Oder kann man vielleicht unter rein militärischen Gesichtspunkten die Armee unmöglich sowohl für die Defensive wie für die Offensive vorbereiten? Auch das ist Unsinn. Tuchatschewski unterstreicht in seinem Buche den Gedanken, dass die Defensive im Bürgerkriege in keinem oder in fast keinem Fall die Zähigkeit eines Stellungskrieges haben konnte. Hieraus zieht Tuchatschewski den richtigen Schluss, dass die Verteidigung unter solchen Umständen notgedrungen denselben Charakter eines aktiven Bewegungskrieges haben muss wie der Angriff. Sind wir für eine Offensive zu schwach, so bemühen wir uns, der Umklammerung durch den Feind zu entgehen, um uns dann im Weiteren zu einer Faust zusammenzuballen und ihn an der schwachen Stelle anzugreifen und zu schlagen. Unrichtig bis zur Unsinnigkeit ist die Behauptung Solomins, dass die Armee für eine Spezialität – für Defensive oder für Offensive – dressiert werden muss. In der Tat wird die Armee für den Kampf und für den Sieg ausgebildet. Die Defensive und die Offensive kommen als Wechselfaktoren in den Krieg hinein, und erst recht in einen Bewegungskrieg. Wer sich gut verteidigt, wo es auf die Verteidigung ankommt, und gut angreift, wo der Angriff nottut, der gewinnt. Das ist die einzige gesunde Erziehung, die wir unserer Armee und vor allem ihrem Kommandopersonal geben müssen. Das Gewehr mit dem Bajonett eignet sich ebenso gut für die Verteidigung wie für den Angriff. Dasselbe gilt für die Hand eines Kämpfers. Der Kämpfer selbst und der Armeeteil, dem er angehört, müssen zum Kampfe, zur Selbstverteidigung, zur Abwehr des Feindes, zur Besiegung des Feindes vorbereitet sein. Gut angreifen kann nur jenes Regiment, das sich gut zu wehren weiß. Sich gut verteidigen kann nur jenes Regiment, das angreifen will und kann. Die Satzungen müssen uns kämpfen lehren und nicht zur Offensive anreizen.

Der Revolutionarismus ist ein Geisteszustand und nicht eine fertige Antwort auf alle Fragen. Er kann den Aufschwung geben, den Elan sichern. Der Aufschwung und der Elan sind die wertvollste Kampfbedingung, aber nicht die einzige. Umsicht und Ausbildung tun Not! Und die Fesseln der Doktrin müssen fort!

14. Die nächsten Aufgaben.

Heben sich aber in der komplizierten Verflechtung der internationalen Beziehungen nicht klarere und deutlichere Elemente heraus, nach denen wir uns in unserer Kriegsarbeit der nächsten Monate richten müssen?

Derartige Elemente bestehen wirklich, und sie sprechen für sich allzu laut, als dass man sie als ein Geheimnis behandeln könnte. Es sind dies im Westen Polen und Rumänien und hinter ihrem Rücken Frankreich. Im fernen Osten ist es Japan. Um den Kaukasus herum England. Wir wollen uns hier nur bei der Frage Polens, als der brennendsten und klarsten, aufhalten.

Der französische Premierminister Briand erklärte in Washington, dass wir für den Sommer einen Angriff auf Polen vorbereiteten. Bei uns weiß nicht nur jeder militärische Führer und jeder Rotarmist, sondern auch jeder Arbeiter und Bauer, dass das der reinste Blödsinn ist. Auch Briand weiß es selbstverständlich sehr gut. Wir haben schon bisher die größeren und kleineren Banditen so teuer bezahlt, damit sie uns wenigstens zeitweilig in Ruhe lassen, dass man von einem „Plan" unserer Offensive gegen Polen nur sprechen kann, um einen teuflischen Anschlag gegen uns zu verschleiern. Welches ist also unsere wirkliche Orientierung gegenüber Polen?

Wir beweisen den polnischen Volksmassen unzweideutig, fortwährend, nicht in Worten, sondern in Taten – und vor allem durch die strengste Erfüllung des Rigaer Vertrages –, dass wir den Frieden wünschen, und tragen dadurch am wirksamsten zu seiner Erhaltung bei.

Wird die polnische militärische Clique durch die französische Börsenclique angetrieben, sich trotz alledem im Frühjahr auf uns zu stürzen, so wird der Krieg auf unserer Seite sowohl tatsächlich, als auch im Volksbewusstsein einen wirklich defensiven Charakter tragen. Gerade dieses klare und deutliche Bewusstsein unseres Rechts in dem uns aufgezwungenen Kriege wird allen Elementen unserer Armee – dem fortgeschrittenen kommunistischen Proletarier, dem parteilosen, aber der Roten Armee ergebenen Spezialisten, dem zurückgebliebenen bäuerlichen Rotarmisten – die höchste Geschlossenheit geben und unsere Armee umso besser zur aktiven und selbstaufopfernden Offensive in diesem Verteidigungskriege vorbereiten. Wem diese unsere Politik unklar erscheint, wer nicht begreift, „welche Armee wird vorbereiten und für welche Zwecke", wer glaubt, dass es unmöglich ist, gleichzeitig im Defensiv- und im Offensivgeist zu erziehen, der versteht nichts, der wird besser tun, wenn er schweigt und die anderen nicht stört ...

Wenn wir aber in der internationalen Lage so komplizierte Kombinationen der Faktoren erblicken, wie sollen wir uns dann praktisch im Armeeaufbau orientieren? Wie zahlreich muss unsere Armee sein? In welchen Formationen? Mit welcher Dislokation?

Alle diese Fragen lassen keine absolute Lösung zu. Man kann sie empirisch nur annähernd lösen und diese Lösungen je nach den Veränderungen der Lage jeweilig berichtigen. Nur hoffnungslose Doktrinäre können sich einbilden, dass die Antworten auf die Fragen der Demobilisation, der Formierung, der Ausbildung, der Erziehung, der Strategie und der Taktik auf dem deduktiven, formal-logischen Wege aus den Voraussetzungen der heiligen „Kriegsdoktrin" gezogen werden können. Nicht magische, alleinseligmachende Formeln fehlen uns, sondern es fehlt uns eine sorgfältigere, aufmerksamere, genauere, wachsamere, gewissenhaftere Arbeit auf den Grundlagen, die von uns bereits festgelegt sind. Unsere Reglements, unsere Programme, unsere Etats sind unvollkommen. Das unterliegt keinem Zweifel. Mängel, Unrichtigkeiten, Veraltetes, Unvollendetes haben wir übergenug. Alles dies ist zu berücksichtigen, zu verbessern, exakter zu machen. Aber wie und unter welchem Gesichtspunkte?

Man sagt uns, dass wir zur Grundlage der Revision und der Berichtigungen die Doktrin des Offensivkrieges machen müssten „Diese Formel bedeutet“ – schreibt Solomin, – „die ausschlaggebende (I) Wendung (im Aufbau der Roten Armee); wir müssen alle (!) bei uns zur Geltung gekommenen Anschauungen einer Revision unterziehen, eine vollständige (!) Umwertung aller Werte vom Standpunkte des Übergangs von der rein defensiven zur offensiven Strategie vollbringen. Die Erziehung des Kommandopersonals, die Vorbildung des Einzelkämpfers ... die Bewaffnung – all dies muss von nun an unter dem Zeichen der Offensive vonstatten gehen" … (S. 22).

Nur wenn wir einen derartigen Einheitsplan besitzen“, – schreibt derselbe Solomin, – „wird die begonnene Reorganisierung der Roten Armee aus dem Stadium der Formlosigkeit, des Chaos, der Zusammenhanglosigkeit, des Schwankens und des Mangels an klarem Zielbewusstsein herauskommen." Die Ausdrücke Solomins sind, wie wir sehen, streng, offensiv, aber die Behauptungen sind unsinnig. Die Formlosigkeit, das Schwanken und das Chaos bestehen in seinem eigenen Kopfe. Objektiv fehlt es in unserer Aufbauarbeit nicht an Schwierigkeiten und an praktischen Fehlern. Aber es gibt hier weder Chaos, noch Schwanken, noch eine Zusammenhanglosigkeit. Und die Armee wird den Solomins nicht erlauben, ihren organisatorischen und strategischen Blödsinn zu schreiben und dadurch Schwanken und Chaos in sie hineinzuragen.

Die Reglements und die Programme müssen nicht vom Standpunkte der doktrinären Formel der „reinen Offensive", sondern vom Standpunkte der während der vier Jahre gemachten Erfahrungen revidiert werden. Man muss die Reglements auf den Beratungen des Kommandopersonals lesen, erörtern und nachprüfen. Man muss die noch lebendigen Erinnerungen an die großen und kleinen Kampfaktionen den Formeln der Reglements gegenüberstellen, und jeder Truppenführer muss sich überlegen, ob die Worte zu den Tatsachen passen und ob und worin sie einander widersprechen. Diese geordnete Erfahrung zu sammeln, sie zu summieren, sie im Zentrum an Hand des strategischen, taktischen, organisatorischen, politischen Kriteriums einer höheren Erfahrung abzuschätzen, die Programme und die Reglements von allem veralteten, überflüssigen zu entlasten, sie der Armee näher zubringen und die Armee empfinden zu lassen, wie sehr sie dieser Reglements bedarf und in welchem Maße sie ihr die Improvisation ersetzen können – da haben wir eine wirklich große und dringende Aufgabe!

Eine großzügige internationale Orientierung mit großem geschichtlichen Schwung besitzen wir schon. Ein Teil dieser Orientierung hat sich schon erfahrungsgemäß bewährt; ein anderer Teil wird erst nachgeprüft und besteht erst seine Probe. An der revolutionären Initiative und am Offensivgeiste mangelt es der kommunistischen Vorhut wahrlich nicht. Was wir brauchen, ist nicht das wortreiche, marktschreierische Neuerertum auf dem Gebiete der Kriegsdoktrinen und nicht die hochfahrende Verkündung der neuen Doktrinen, sondern eine Systematisierung der Erfahrung, eine Verbesserung der Organisation, die Beachtung der Kleinigkeiten.

Es wäre ein großer Fehler, wollten wir die Mängel unserer Organisation, unserer Zurückgebliebenheit und Armut, besonders in technischer Beziehung, zum Credo erheben. Im Gegenteil, wir müssen alles aufbieten, um sie zu beseitigen und uns in dieser Beziehung den imperialistischen Armeen zu nähern, die allesamt verdienen, vernichtet zu werden, die aber manche Überlegenheit aufweisen; sie haben die hochentwickelte Luftwaffe, reichliche Verbindungsmittel, ein gut ausgebildetes, sorgfältig ausgewähltes Kommandopersonal, eine genaue Übersicht über ihre Hilfsmittel, die Planmäßigkeit ihres Zusammenwirkens. Allerdings ist dies nur die organisatorisch-technische Hülle. Moralisch, politisch befinden sich die bürgerlichen Armeen im Zerfallsprozess oder nähern sich diesem Zustande. Der revolutionäre Charakter unserer Armee, die klassenmäßige Homogenität des Kommandopersonals und der kämpfenden Masse, die kommunistische Führung – das ist unsere mächtigste und unerschütterlichste Kraft. Diese Kraft kann uns niemand nehmen.

Die ganze Aufmerksamkeit muss jetzt nicht auf die phantastische Reorganisierung, sondern auf die Besserung und die Präzisierung des Vorhandenen gerichtet werden. Den Armeeteilen ihre Verpflegung regelmäßig zustellen, die Lebensmittel nicht verfaulen lassen, gutes Essen bereiten, die Ausrottung des Ungeziefers und die physische Reinlichkeit lehren, die Übungen richtig durchführen, und zwar möglichst wenig in verschlossenen Räumen, möglichst viel im Freien, die politischen Aussprachen vernünftig und konkret vorbereiten, jeden Rotarmisten mit einem Dienstbuch versorgen und die Vermerke systematisch führen, das Gewehrreinigen, das Stiefelschmieren, das Schießen lehren, dem Kommandopersonal helfen, die Vorschriften der Reglements über Verbindungen, Auskundschaftungen, Meldungen, Bewachung zur Regel machen, die Anpassung an örtliche Verhältnisse lernen und lehren, die Wickelgamaschen richtig wickeln, damit diese die Beine nicht wund scheuern; noch einmal die Stiefel schmieren – das ist unser Programm für das nächste Jahr und für das nächste Frühjahr.

Wer dieses sachliche Programm bei irgendeiner feierlichen Gelegenheit als eine Kriegsdoktrin wird bezeichnen wollen, dem kann man das Vergnügen lassen.

L. Trotzki

1Hier und wenige Zeilen später steht in der „Kommunistischen Internationale“ „Militärdiktatur“ statt „Militärdoktrin“. Das ist hier geändert nach der englischen Fassung.

2 Hier steht in der „Kommunistischen Internationale“ „Einziehung“ statt „Erziehung“. Das ist hier geändert nach der englischen Fassung.

A Genosse Frunse schreibt: Man könnte die „einheitliche Kriegsdoktrin" in folgender Weise definieren: sie ist die in der Armee des betreffenden Staates angenommene einheitliche Theorie, die die Aufbauformen der bewaffneten Armeekräfte, die Methoden der militärischen Heeresausbildung und ihrer Führung bestimmt auf Grund der im Staate herrschenden Anschauungen über den Charakter der vor ihm liegenden Kriegsaufgaben und über die Mittel zu ihrer Lösung, die sich aus dem Klassenwesen des Staates und aus dem Zustande seiner Produktivkräfte ergeben" (die „Krasnaja Nowj" Nr. 2, S. 94. M. Frunses Artikel „Die einheitliche Kriegsdoktrin und die Rote Armee").

Diese Definition kann mit Vorbehalten angenommen werden. Doch bereichern, wie der Artikel des Genossen Frunse es am besten darlegt, die Schlüsse zu der angeführten Definition in keiner Weise das geistige Arsenal der Roten Armee. Übrigens werden wir darauf später noch näher eingehen.

B Genosse Solomin wirft uns in der kriegswissenschaftlichen Zeitschrift „Wojennaja Nauka i revolutzja" (..Kriegswissenschaft u. Revolution") vor, dass wir die Frage: Welche Armee schaffen wir, und für welche Aufgaben schaffen wir sie? – bis jetzt nicht beantwortet hätten.

C Ich erinnere daran, dass diese Worte 1905 geschrieben worden sind.

D s. Clausewitz „Vom Kriege" II. Buch, 4. Kap.

E Siehe den zitierten Artikel der „Krasnaja Nowj".

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