Leo Trotzki: Zur Spaltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion [„Nasche Slowo“, Nr. 79, 2. April 1916, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, стр. 267-271, verglichen mit der französischen Übersetzung] Die Spaltung der deutschen sozialdemokratischen Fraktion eröffnet ein neues Kapitel in der internationalen sozialistischen Bewegung der „Kriegsepoche". Die letzten 10-12 Jahre – etwa zwischen dem englisch-burischen und dem gegenwärtigen Krieg – waren für Europa eine Zeit einer gigantischen Entwicklung der Produktivkräfte und einer mächtigen kapitalistischen Expansion. Parallel dazu fand ein Prozess des Wachstums der Arbeiterbewegung und der Anpassung ihrer Methoden und Formen statt. Im politischen Bereich ist es die formal-selbständige Taktik des Parlamentarismus, die sich in jeder einzelnen Frage an der Linie des „kleinsten Übels" orientiert: durch die Gründung der Labour Party passte sich das englische Proletariat an die allgemeine politische Front an, und im gewerkschaftlichen Bereich verschwanden die Hauptunterschiede zwischen den englischen, französischen und deutschen Typen: zentralisierte Gewerkschaften für die Produktion wurden das dominierende Modell der Organisation, der Tarifvertrag1 wurde die höchste Verfassung der Arbeitsbeziehungen. Die Einheitlichkeit der Bedingungen und Methoden des Klassenkampfes erzeugte die Einheitlichkeit der Psychologie. In den ältesten Ländern des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung löste der Krieg eine in ihrer Beschränktheit einheitliche Reaktion der proletarischen Parteien aus. Welche Art von Blindheit ist nötig, um dies nicht zu sehen und weiterhin nach Erklärungen für den Zusammenbruch der Internationale in Gelb-, Orange- und anderen Büchern der Diplomatie oder in der strategischen Stellung der kriegführenden Armeen zu suchen! Welche Art von ideologischer Lähmung ist notwendig, um einen grundlegenden Gegensatz in den Tendenzen festzustellen, deren Verkörperung hier Renaudel und dort Scheidemann ist. Man lege die ganze Schuld auf die Seite der Diplomatie der zentralen Monarchien: aber ändert das irgendwie den revolutionär-sozialistischen Wert der Plechanow, Potressow, Guesde, Sembat, Renaudel, Longuet um ein Jota, wie er sich im Test der Ereignisse zeigte? Ist es nicht klar, dass, wenn morgen – durch den Willen des Schicksals – an der Spitze Deutschlands solche Muster internationaler Moral wie Romanow und seine Bürokratie oder gar Personen, die den heutigen Herrschern Frankreichs gleichwertig sind, und an der Spitze der Entente gänzlich „Piraten und Banditen" der Hohenzollernschule stünden – wir bitten die Zensur höflichst, uns eine Minute lang eine solche rein logische Annahme zu erlauben – diese Änderung, wenn sie mit Hilfe eines Mikrometerinstruments festgestellt werden könnte, keinen grundlegenden Unterschied im Inhalt des national-politischen Bewusstseins bedeuten würde, mit dem die Scheidemann, Ebert, Plechanow und Renaudel in diesen Krieg eingetreten sind. Aber der Haken an der Sache ist, dass der Sozialpatriotismus nicht nur den Willen, sondern auch den Gedanken2 lähmt. Was für einen Höllenlärm – wirklich rüpelhaft, man wird kein anderes Wort finden – veranstalten die russisch-französischen Chauvinisten unter der Leitung des bezahlten Speichelleckers der Boulevardpresse Laskin und des Orakels der Conciergen Hervé rund um die deutsche Sozialdemokratie. Was sagt ihnen deren Innenleben? Welche Bedeutung hat deren innerer Kampf für sie, wenn er nicht Nikolaus' Truppen den „größtmöglichen Sieg" über Deutschland ermöglicht. Und doch gibt es in der deutschen3 Sozialdemokratie, in dieser klassischen Partei der Zweiten Internationale, den vollständigsten Ausdruck der Prozesse der sozialistischen Krise und Wiedergeburt. Andere Parteien, wie die russische, italienische, serbische, rumänische und bulgarische, erwiesen sich – auf den ersten Blick unerwartet – als standhafter als die Deutschen im Test von Feuer und Eisen des Krieges. Unsere russische Sozialdemokratie – in Gestalt ihrer verdammten Emigration – spielt nun in hohem Maße und nicht zufällig eine Initiativrolle bei der Schaffung einer neuen Internationalen. Aber es wäre unverzeihlich, sich über die historischen Grenzen dieser Rolle zu täuschen. Nur eine tiefgreifende innere Revolution in der deutschen Sozialdemokratie kann wirklich die Schaffung einer zentralisierten revolutionären Internationale gewährleisten, so wie nur die Machteroberung des Proletariat in Deutschland, in der mächtigsten Zitadelle des Kapitalismus und Militarismus, den Sieg der sozialen Revolution in Europa sichern kann. Deshalb kann man – ohne Überschätzung der Bedeutung parlamentarischer „Ereignisse" – sagen, dass die Spaltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ein neues Kapitel in der europäischen Arbeiterbewegung aufschlägt. Niemand wird sagen, dass die Oppositionsgruppe von Haase-Ledebour ein Übermaß an Ungeduld oder einen Überschuss an revolutionärer Initiative gezeigt hätte. Im Gegenteil, sie tat alles, was sie konnte, und solange es eine physische Möglichkeit gab, ihren Widerstand auf ein Minimum zu reduzieren und dadurch die Einheit oder zumindest deren organisatorisches Erscheinungsbild zu retten. Niemand wird sagen – jedenfalls werden wir das nicht sagen –, dass die Ansichten der Haase-Ledebour-Gruppe durch ihre politische Bestimmtheit und mehr noch durch ihre sozial-revolutionären Entschlossenheit herausstechen. Wie groß die einzelnen Abweichungen in dieser Gruppe auch sein mögen4, ihre Ansichten im Ganzen stehen im Zeichen des sozialistischen Pazifismus: Nach diesem Standpunkt scheint der Krieg kein Schritt in der Entwicklung der Weltwidersprüche und keine Lokomotive der Geschichte zu sein, sondern ein „kolossales Unglück", das die Nationen getroffen und die Entwicklung der Kultur unterbrochen hat, einschließlich derjenigen, die sich in der Organisation und dem Kampf des Proletariats manifestierte. Die gesamte Perspektive läuft für sie auf ein schnelles und womöglich „harmloses" Ende des Krieges hinaus, das die Wiederherstellung der „alten, erfahrenen“ Organisationen und Kampfmethoden sicherstellen muss. Es gibt absolut kein Verständnis dafür, dass der Imperialismus, der zu diesem Krieg geführt hat, der Wunsch nach Weltherrschaft (ein Gedanke nur von „Verrückten und Narren", laut Haase!) die Möglichkeit ausschließt, auf die alten Geleise zurückzukehren, und erfordert, dass das Proletariat aus Angst vor politischen Zerfall einen historischen Sprung auf eine neue höhere Stufe des revolutionären Massenkampfes macht. Nichtsdestotrotz – und in bedeutendem Maße gerade deshalb – ist die Spaltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ein Phänomen von großer Bedeutung. Das deutsche Proletariat wuchs wie die deutsche Industrie mit fieberhafter Geschwindigkeit. Die industrielle Entwicklung führte zu ständigen Widersprüchen, die jedoch durch deren Wucht vorerst verwässert wurden. Das Fehlen einer bürgerlichen Demokratie reduzierte grundsätzlich jedes ernste politische Problem (Republik, allgemeines Wahlrecht in Preußen) auf den Kampf des Proletariats um die Macht.5 Die Taktik der deutschen Sozialdemokraten reduzierte sich darauf, entscheidende Kämpfe mit der konzentrierten Staatsmacht zu vermeiden, ungelöste Aufgaben aufzutürmen und organisatorische Kräfte für ihre zukünftige Lösung zu sammeln. Die ganze Klassenenergie des Proletariats, all sein schöpferischer Idealismus, der nicht sofort in einem offenen, massenhaften, selbstlosen Kampf für das ihm von der Sozialdemokratie offenbarte Ideal Anwendung fand, ging in den organisatorischen Aufbau, die Erweiterung, die Verbesserung, die Bereicherung der Organisationen eben dieser Sozialdemokratie. Das Proletariat fand in seiner Partei und in den mit ihr verbundenen Gewerkschaften6 und Genossenschaften nicht so sehr ein Instrument des unmittelbaren Kampfes wie einen Ersatz für das, was es im Staat7 nicht fand: seine eigene Arbeiterdemokratie, in der er sich als Herr fühlte. Der „Organisationsfetischismus" der deutschen Sozialdemokratie – es gibt keinen Schuhplattler tanzenden Iwanuschka8, der den „Deutschen"9 nicht deswegen verspottet hätte – war ein historische Niederschlag10 des organisatorischen Wachstums des deutschen Proletariats in seiner Selbständigkeit. Hilferding, Rudolf wiederholte kürzlich die paradoxe Idee, die mehr als einmal zum Ausdruck gebracht wurde: Die deutsche Sozialdemokratie wurde durch den Willen der historischen Dialektik zu einem antirevolutionären Faktor, der die Klassenenergie des Proletariats einschränkte. Jedem Mechanismus ist tote Trägheit eigen, die nur durch die lebendige Kraft von Dampf, Elektrizität usw. überwunden werden kann. Die gleiche Trägheit besitzt auch der gleiche Mechanismus der Arbeiterorganisation, die durch die lebendige Energie der Klasse in Bewegung gesetzt wird. Aber in der Partei, die sich jahrzehntelang „für die Zukunft", für künftiges entscheidendes Handeln entwickelte, musste diese organisatorische Trägheit kolossale Ausmaße annehmen. Als der imperialistische Krieg die kapitalistischen Grundlagen der Gesellschaften erschütterte, die Frage der gesamten Entwicklung Europas und der Stunde des „entscheidenden Handelns" des Proletariats stellte, geriet der Organisationsapparat, der im Vorbereitungsstadium eine tiefe innere Degeneration erfuhr, in völligen Widerspruch zu seinem Ziel. Das Führungspersonal der Sozialdemokratie entpuppte sich als in ihrer Stellung und ihrer Ideologie viel enger mit den Bedürfnissen des Kapitalismus als mit den Aufgaben des Sozialismus verbunden, und in der sozial-patriotischen Orientierung, die daraus entsprungen ist, führt es heute weitgehend die breiten Arbeitermassen11. Das unmittelbare reaktionäre Werkzeug in den Händen des Führungspersonals, das sich durch die Lage und das Kriegsregime12 in eine Oligarchie verwandelte, war die Idee der organisierten Disziplin und organisatorischen Einheit. Wie in Frankreich das ideologische Mittel zur Hypnotisierung der Arbeiter vor allem die Idee der Republik, das Erbe der Revolution usw. war, so in Deutschland – die Idee der Arbeiterdemokratie. Die Ausbeutung des Organisationsfetischismus der Massen wurde von den Sozialpatrioten mit aktiver Unterstützung des oppositionellen Zentrums vollzogen, das die Einheit der Organisation über das Ziel stellte, für das die Organisation gegründet worden war. Es brauchte 20 Monate Krieg, der den Sozialpatriotismus den elementarsten Interessen der arbeitenden Massen feindlich entgegensetzte, um es zur Spaltung der Fraktion zu bringen. Aber diese selbe Spaltung der Fraktion versetzt dem Organisationsfetischismus einen tödlichen Schlag. Vor dem deutschen Proletariat stehen nun zwei Fraktionen, die es zwingen, im Feuer der Ereignisse eine Entscheidung zu treffen, und es von der Automatik der Disziplin zu befreien, die zum Instrument der imperialistischen Reaktion wurde. Nur durch die Zerstörung der organisatorischen Routine wird das Proletariat Deutschlands zur Einheit und Disziplin des revolutionären Handelns kommen. Die Spaltung der Fraktion ist die wichtigste Etappe auf diesem Weg. 1 In der französischen Übersetzung: „Zollabkommen“ – offenbar hat der Übersetzer das Wort „Tarif“ in den falschen Hals bekommen 2 In der französischen Übersetzung: „Willen und Denken“ 3 Fehlt in der französischen Übersetzung 4 In der französischen Übersetzung: „trotz starker individueller Abweichungen in der Gruppe“. 5 In der französischen Übersetzung: „Das Fehlen der bürgerlichen Demokratie führte zum Kampf des Proletariats um die Machteroberung.“ 6In der französischen Übersetzung: „Komitees“ 7In der französischen Übersetzung: „Regierung“ 8 In der französischen Übersetzung: „Muschik“, im Original ist von Kamarinski, einem ländlichen Tanz die Rede 9 In der französischen Übersetzung: „,Fritz'“ 10 In der französischen Übersetzung: „Schwächung“ 11 In der französischen Übersetzung: „die sozialpatriotische Strömung führt die Massen mit sich“ 12 In der französischen Übersetzung fehlt: „durch die Lage und das Kriegsregime“ |
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