Leo Trotzki‎ > ‎1910‎ > ‎

Leo Trotzki 19100800 Die bulgarische und serbische Sozialdemokratie

Leo Trotzki: Die bulgarische und serbische Sozialdemokratie

[L. Trotzki und Ch. Kabaktschiew, „Abriss des politischen Bulgariens“. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit einer älteren deutschen Übersetzung]

Als die Große Französische Revolution der europäischen Reaktion Platz machte, die die heilige Allianz hervorrief; als die Konterrevolution alle ihre Kräfte anspannte, um das Vermächtnis des Jahres 1848 zu erledigen – zeigte sich jedes Mal die orientalische Frage auf der Szene. Darauf verwies bereits Marx. Und nun, nach der Niederlage der Revolution in Russland* wird erneut die orientalische Frage auf die Tagesordnung gestellt, als ob man Skeptikern das Recht geben wollte, zu behaupten, dass sich die Geschichte in einem verzauberten Kreis dreht. Aber welche riesige Differenz! Damals kritzelten die europäische Diplomaten mit ihren Fingernägeln die Karte der Balkanhalbinsel voll, wie sie wollten, und entschieden das Schicksal der Völker; nun werden die Balkanvölker selbst zu historischem Leben aufgeweckt, die Balkanfrage wird ihre eigene Frage, der Rückkehr des Zarismus auf den Balkan stellt die Türkei ihre eigene Revolution gegenüber; der Balkan-Kapitalismus wird fest auf den Beinen; aus dem jahrhundertelangen Chaos erscheint die Sozialdemokratie der Balkanvölker. Und wenn sogar für die europäische Diplomatie die Südostecke Europas aufhört, passives Objekt von Raubkombinationen zu sein, dann muss sie sich für die europäische Sozialdemokratie umso mehr aus einem unpersönlichen geografischen Terminus in einen lebenden politischen Begriff zu verwandeln: da erwächst die Balkansektion der Internationale und nimmt immer bestimmtere Formen an.

Die kapitalistische Entwicklung des Nahen Ostens zeichnet sich durch einen Kolonialcharakter aus. Die europäische Börse umwickelte die Balkanstaaten mit einem Netz von Schuldverpflichtungen, ruiniert mit Hilfe des „nationalen“ Fiskalapparats die Bauern und Arbeiter der Balkanhalbinsel, ohne Unterschied von Stamm1 und Rasse; europäische Waren töten die Kustarindustrie und das Handwerk; schließlich unterwirft sich das europäische industrielle Kapital den einheimischen Kapitalismus, führt auf dem Balkan die Eisenbahn und Industrieunternehmen neuesten kapitalistischen Musters ein. Diese Entwicklung presst die Kleinbourgeoisie bereits vom ersten Anfang ihres historischen Daseins im Schraubstock zusammen. Ihre ökonomische Verwesung wird durch ihr politisches Verfaulen ergänzt; zusammen mit der ruinierten Bauernschaft wird sie Kanonenfutter für Politikaster, Straßendemagogen, dynastische und antidynastische Scharlatane, die wie Pilze aus dem Mist des Agrar-und-Kolonial-Parlamentarismus erwachsen. Eine unbedeutende Zwischenschicht der großen Bourgeoisie, die in ihre historischen Gebiete mit den Wörtern „Kartell“ und „Lockout“ im Mund eingetreten ist, ist von den Massen politisch vollkommen abgeschnitten und sucht eine Stütze in den europäischen Banken. Der koloniale Charakter der kapitalistischen Entwicklung der Balkanländer tritt hier noch heller auf als in Russland, versetzt das Proletariat in die Lage eines fortschrittlichen Kämpfers, überreicht in dessen Hände die konzentriertesten Produktivkräfte des Landes und verleiht ihm eine politische Bedeutung, die dessen zahlenmäßiger Größe weit überlegen ist. Wie in Russland die Hauptlast des Kampfes mit dem patriarchal-bürokratischen Regime auf die Schultern des Proletariat fällt, so stellt sich auch auf dem Balkan nur das Proletariat in ganzem Umfang die Aufgabe der Schaffung von normalen Bedingungen für das Zusammenleben und die Zusammenarbeit zahlreicher Völker und Stämme der Halbinsel. Die Sache geht darum, auf dem Territorium, dessen Grenzen von der Natur festgelegt wurden, genügend weite und geschmeidige Staatsformen zu schaffen, welche auf Basis der nationalen Autonomie der Teile die Einheit des inneren Markts und der allgemeinen Staatsorgane der ganzen Bevölkerung der Halbinsel sicherstellen könnten. „Sich von Partikularismus und Beschränktheit befreien; Grenzen zerstören, welche Völker teilen, die zum Teil nach Sprache und Kultur übereinstimmen, zum Teil untereinander ökonomisch verbunden sind; schließlich die direkten und mittelbaren Formen der ausländischen Herrschaft stürzen, die dem Volk das Recht entziehen, selbst über sein Schicksal zu bestimmen“ – mit diesen negativen Ausdrücken formulierte der erste Parteitag der sozialdemokratischen Parteien und Gruppen des europäischen Südostens, der in Belgrad vom 7. bis 9. Januar 1910 stattfand, sein Programm.**

Das von hier entfließende positive Programm lautet: föderative Balkanrepublik.

Die Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung prallen auf der Halbinsel minütlich auf den engen Rahmen des Partikularismus, und eine Föderation wird eine Idee selbst regierender Kreise auf dem Balkan. Darüber hinaus. Die Zarenregierung, die keine Kraft hat, auf dem Balkan eine eigenständige Rolle zu spielen, versucht in der Rolle des Initiators und Patrons eines bulgarisch-serbisch-türkischen Bundes aufzutreten, dessen Spitze gegen Österreich-Ungarn gerichtet ist. Aber das sind nur verschwommene Pläne eines zeitweiligen Bundes von Balkandynastien und politischen Parteien, die nach ihrem Wesen selbst unfähig sind, Freiheit und Frieden auf dem Balkan zu garantieren. Mit dieser Idee hat das Programm des Proletariats nichts gemein. Es ist gegen die Balkandynastien und politischen Cliquen, gegen den Militarismus der Balkanstaaten ebenso wie gegen den europäischen Imperialismus gerichtet; gegen das offizielle Russland ebenso wie gegen das Habsburger Österreich-Ungarn. Dessen Methoden sind nicht diplomatische Kombinationen, sondern Klassenkampf, nicht Balkankrieg, sondern Balkanrevolution.

Es stimmt, jetzt sind die Arbeiter der Balkanländer noch zu schwach, um ihr politisches Programm zu verwirklichen. Aber morgen werden sie stärker sein. Die kapitalistische Entwicklung auf dem Balkan vollzieht sich unter dem höchsten Druck des Finanzkapitals Europas, und schon der nächste industrielle Aufschwung – von dessen Herannahen das Baufieber in Sofia spricht – kann in einigen Jahren die von der Natur reich begabte und glücklich gelegene Halbinsel industrialisieren. Auf dieser Basis kann die erste ernsthafte Erschütterung in Europa die Sozialdemokratie der Balkanländer ins Zentrum entscheidender Ereignisse stellen, ähnlich wie das im Jahre 1905 mit der russischen Sozialdemokratie geschah. Aber bereits schon jetzt hat das Programm der föderativen Balkanrepublik ernsthafte praktische Bedeutung: sie leitet nicht nur die alltägliche politische Agitation, verleiht ihr eine prinzipielle Einheit, sie bildet – und das ist noch wichtiger – die Grundlage, auf welcher die nationalen Arbeiterorganisationen der Halbinsel untereinander näher gebracht werden, und schafft auf solche Weise eine vereinte Balkansektion der internationalen Sozialdemokratie.

★ ★ ★

Das Verdienst der Initiative in der Sache der Vereinigung des Proletariats der Balkanländer gehört den sozialdemokratischen Parteien Serbiens und Bulgariens. Trotz ihrer Jugend – wenn wir von ihrer ideologischen Vergangenheit absehen und sie nur als Arbeiterorganisation betrachten, dann sind beide bloß ganze sieben-acht Jahre alt – haben sie bereits große Verdienste gegenüber der Internationale. In der kritischen Minute, nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina, als ganz Serbien vom Verlangen der Revanche befallen war, ging die Sozialdemokratie kühn gegen die gesamte Strömung an. Genosse Kazlerović, der einzige Deputierte der Partei in der Skupschtschina, hatte den Mut, den berauschten Nationalisten und nüchternen Intriganten die bittere Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. „Radničkе Novine“, das Zentralorgan der Partei, eröffnete eine gnadenlose Kampagne gegen das Haupt der Belgrader Militärclique, Fürst Djordje, welchen die Sozialdemokratie im Verlauf einiger Tage dazu brachte, auf seine Rechte auf den Thron zu verzichten. Und durch diese Taktik, die politischen Realismus mit revolutionärem Mut verknüpfte, fasste die Partei in organisatorischer Beziehung festen Fuß und vergrößerte ihren politischen Einfluss. Dasselbe gilt für die bulgarische Sozialdemokratie, welche unversöhnlich zunächst gegen das patriotische Abenteuer ankämpfte, das den Schein-Vasallenfürsten in einen unabhängigen „Zaren Bulgariens“ verwandelte, aber danach gegen die Vermittlung Russlands im bulgarisch-türkischen Konflikt. Der Kampf gegen die neopanslawistische Demagogie, die liberal in ihren Gesten, aber reaktionär bis ins Knochenmark ist, ist ein wichtiges Verdienst sowohl der serbischen als auch der bulgarischen Sozialdemokratie. Ihren letzten Parteitag vom 24. bis 26. Juli dieses Jahres verwandelte die bulgarische Partei in eine eindrucksvolle „Demonstration des Pansozialismus gegen den Panslawismus“, für die sie Vertreter der russischen, polnischen, tschechischen, serbischen Sozialdemokratie nach Sofia einlud, 2Vertreter des Proletariats genau jener Völker, deren bürgerliche Vertreter einige Wochen vorher in demselben Sofia panslawistische Brüderlichkeit simulierten. Und obgleich die russophile Presse Sofias sich als derart unverschämt, dumm und feige erwies, dass sie den sozialdemokratischen Parteitag verschwieg, sprach er beredt genug für sich; die Straßendemonstration am 24. Juli, an welcher drei- bis viertausend Arbeiter teilnahmen, die Grußreden ausländischer Delegierter auf öffentlichen Versammlungen des Parteitags, im Hof des Arbeiterhauses, in Anwesenheit vieler Hunderter Gäste, ein öffentlicher Bericht über die russische Revolution, der auf roten Plakaten angekündigt wurde, welche in der ganzen Stadt verklebt wurden, die feierlichen öffentlichen Dispute über die Balkanfrage, die durch den Bericht Blagojews eröffnet wurden – alles das stellte den sozialdemokratischen Parteitag ungeachtet aller Bemühungen der bürgerlichen Presse ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit und machte diesen zu einer sehr bedeutsamen Episode in der Geschichte der jungen bulgarischen Partei.

Wir erwähnten die Verschwörung des Schweigens der bürgerlichen Presse. Zu dieser müssen wir hinzufügen, dass die einzige Tageszeitung, die sich mehr oder weniger mit Recht sozialistisch nennt, „Kambana“ („Glocke“) sehr gewissenhaft die internationale Manifestation gegen dem Panslawismus totschwieg, weniger aus politischen als vielmehr aus Fraktionserwägungen. Hier müssen wir einige Worte über die Fraktionsgruppierungen sagen, die eine große Rolle im Leben der bulgarischen Sozialdemokratie spielen.

Im Jahre 1903 spaltete sich die bulgarische Partei in zwei Fraktionen: die „Tesnjaki“ („Enge“) mit Blagojew, Kirkow, Rakowski und Bakalow an der Spitze und die von Janko Sakasow und N. Gabrowski geführten „Weiten“. Im Gegensatz zu den strikten Verteidigern des Klassenprinzips, den „Tesnjaki“, neigten die „Weiten“ zur sogenannten „Umgänglichkeit“, d.h. zur Zusammenarbeit mit bürgerlich-demokratischen Elementen und – in der Theorie – zum Revisionismus. Beide Partei bewahrten Namen, Programm und Statut der alten Partei. Im Jahre 1905 ereignete sich eine fernere Spaltung unter den „Tesnjaki“: unter der Führung Bakalows und Charlakows trennte sich eine Gruppe „Liberaler“ ab, die die Anhänger Blagojews, die „Konservativen“, organisatorischer Enge beschuldigte, welche die Partei von der Klasse isoliere und sie in eine „Geheimgesellschaft“ zu verwandeln drohe. Im Jahre 1908 spaltete sich von den „Tesnjaki“ erneut eine Gruppe Protestierender ab, die unzufrieden mit dem Konservativismus der Partei war und die Vereinigung aller sozialistischen Organisationen forderte: das waren die sogenannten „Progressisten“ mit Ilijew an der Spitze. Der Versuch einer Gesamt-Vereinigung erlitt ein Scheitern wegen der Gegenwehr der „Tesnjaki“. Außer ihnen und im Gegengewicht zu ihnen bildete sich die sogenannte „vereinte“ Partei aus „Weiten“, „Liberalen“ und „Progressisten“. Die einzige Verbindung zwischen beiden Organisationen ist die erbitterte Polemik in der Presse und auf Versammlungen. Die „Kambana“ ist kein Parteiorgan, aber dennoch mit den „Vereinten“ eng verbunden und in einem gewissen Grade ihr offiziöses Organ. Dies erklärt auch ihr Verhältnis zu den antislawophilen Manifestationen, die von den „Tesnjaki“ organisiert wurden.

Charakter und Formen der Gruppierungen und Abgrenzungen im bulgarischen Sozialismus sind im Grunde durch die politische Jugend des Landes begründet: die schwache Differenzierung des gesellschaftlichen Lebens, das vollständige Fehlen von politischen Traditionen, die unzureichende Eigenständigkeit der proletarischen Avantgarde und das Übermaß der radikalen und sozialistischen Intelligenz. In allen politischen Parteien Bulgariens spielt die Intelligenz eine unverhältnismäßig große Rolle; die einzige ernsthafte geistige Tradition, welche es bei ihr gibt, das ist der Sozialismus. Der Begründer der „demokratischen“ Partei, Petko Karawelow (inzwischen verstorbenen), war zu seiner Zeit Anhänger der „Narodnaja Wolja“ in Russland. Die Journalisten und Minister aller bürgerlichen bulgarischen Parteien waren, wenn auch nicht lange, beim Sozialismus in der Ausbildung. Der Sozialismus war für sie die Schule des politischen Alphabets; um dieses Alphabet im Leben anzuwenden, wechselten sie in andere Lager über. Länger als alle blieben dem Sozialismus die Volksschullehrer und -lehrerinnen treu. Ein scharfer Bedarf an Aufklärung, zusammen mit der kulturellen Rückständigkeit des Landes, verwandelte die Lehrertätigkeit in Missionars-, Aposteldienstе und trieb die Lehrer in die Umarmung der radikalsten Ideologie.

Auf solche Weise wird der bulgarische Sozialismus nicht nur durch die politischen und Gewerkschaftsorganisation der Arbeiter gebildet, sondern auch durch den breiten Nebelfleck3 der sozialistischen und halb-sozialistischen Intelligenz. Die Grenzen der bürgerlichen Parteien, ihrerseits, zeichnen sich durch einen vollkommen chaotischen Charakter aus oder, genauer, solche Grenzen sind allgemein nicht vorhanden. Demagogie – das ist die höchste Weisheit der bulgarischen Politik: im Vergleich mit ihr ist Bestechung nur ein technisches Detail. Demagogie erobert Herzen, Mandate und Ministerämter. In diesem politischen Chaos, das jede Minute bereit ist, Art und Aussehen jeder am Steuerruder stehenden Gottheit anzunehmen, schafft der Überschuss der sozialistischen Intelligenz die Gefahr der ernsthaften Versuchungen und Verlockungen für die junge Arbeiterpartei. Die proletarische Armee wächst, aber zunächst ist sie noch schwach; der Generalstab der Führer ist zu groß für sie. Die Möglichkeit unmittelbaren politischen Einflusses dieser Führer ist begrenzt durch die vergleichsweise Schwäche der Armee – aber, allgemein gesagt, wie leicht ist es bei gewissem Talent, in diesem Lande eine politische Rolle zu spielen! Es reicht aus, einen unbedeutenden Sprung zur Seite zu machen. Im Wesentlichen ist es nicht einmal nötig, einen Sprung zu machen, weil die radikale Intelligenz aller Regenbogenfarben die natürliche Brücke zwischen der sozialistischen Ideologie und der bürgerlichen Praxis bildet.

Die „Umgänglichkeit“ drückt auch gerade die Bestrebung der sozialistischen Intelligenz aus, den historischen Prozess zu überrunden und mit Hilfe geschickter politischer Kombinationen der Sozialdemokratie einen Einfluss sicherzustellen, welchen ihr die zahlenmäßigen Kräfte und das Maß der Organisiertheit des Proletariats nicht schaffen können. Aber in Bulgarien ist die „Umgänglichkeit“, d.h. die Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Demokratie, bedrohlicher als irgendwo: denn wo ist der Beginn und wo das Ende dieser bulgarischen „Demokratie“, die man heute durch einen Schlag mit dem Stab auf den Felsen ins Leben ruft, aber morgen vielleicht erneut in ihr Nichtsein zurückbringt? Außerdem bleiben die regierenden Demokraten in Sofia – gestrige Republikaner und Verschwörer – in ihren Methoden der politischen Korruption durch nichts hinter den französischen Radikalen zurück. Und hier sehen wir, wie der eine oder andere Anhänger der „Umgänglichkeit“, ein einstiger Führer des Lehrer- oder Eisenbahnerverbandes, heute einen vorteilhaften Platz in unterschiedlichen „demokratischen“ Kanzleien einnimmt … auf der anderen Seite rufen dieselben Bedingungen auch die gegensätzliche Gefahr hervor – die Verwandlung der politischen Partei in ein sozialistisches Seminar.

Wir sahen, dass sich in der bulgarischen Partei dreimal eine Spaltung ereignete; als Resultat haben wir die Existenz von zwei Parteien auf der einen Seite, und die Fraktionszwietracht in der „vereinten Partei“ auf der anderen. Die „Tesnjaki“ sehen in diesen Spaltungen nicht anderes als einen Prozess der „Abklärung“ der Arbeiterpartei von der kleinbürgerlichen Intelligenz. Aber wir könnten diese Sicht nicht nur deshalb nicht ohne Vorbehalte teilen, weil bei den „Tesnjaki“ selbst die Intelligenz eine dominierende Rolle in der Partei spielt, und nicht nur deshalb, weil die „Vereinten“, insoweit wir beurteilen können, in ihren Reihen viel wertvolle sozialistische Elemente haben, sondern zuallererst deshalb, weil wir das traurigste Faktum der bulgarischen Arbeiterbewegung nicht vergessen dürfen: die Spaltung der Gewerkschaften zwischen „Tesnjaki“ und „Vereinten“.

Zum Abschluss bringen wir noch einen allgemeinen Überblick über die Organisation und Tätigkeit der „Tesnjaki“, auf deren Parteitag der Autor dieser Zeilen4 als Vertreter der russischen Sozialdemokratie zugegen war***. Der redegewandte Sekretär der Partei, der talentierte Agitator und Redakteur des Parteiorgans „Rabotnitscheskij Wjestnik“ und zugleich Parteikassierer, der unermüdliche Georg Kirkow, gab in einer fünfstündigen Rede ein erschöpfendes Bild des Lebens und der Arbeit5 der Partei. Im vergangenen Jahr umfasste sie 56 örtliche Organisationen und Gruppen mit 2126 Mitgliedern, einschließlich 1519 Arbeitern; außer ihnen gehörten zur Partei: eine sozialdemokratische Lehrerorganisation mit 851 Mitgliedern, eine Organisation der Kommunalangestellten mit 250 Mitgliedern, vier sozialdemokratische Studentengruppen mit 52 Mitgliedern, 12 Arbeiterzirkel zur Selbstbildung mit 325 Mitgliedern und 14 Klubs der Arbeiterjugend mit 420 Mitgliedern. Die Zahl der Mitglieder der Partei – klagte Kirkow – nahm im vergangenen Jahr nur um 12% zu; wegen der überaus strikten Auswahl von Seiten der örtlichen Organisationen blieb sie immer hinter der Anzahl der Mitglieder der vereinten Gewerkschaften zurück, die geistig und organisatorisch mit der Partei verbunden sind. Diese Vereinigung umfasst jetzt 13 zentralisierte Verbände mit 172 örtlichen Sektionen und 4600 Mitgliedern: im Vergleich zum verflossenen Jahr nahm sie um 1200 Menschen zu. Im vergangenen Jahr verausgabte die Vereinigung für Streikbedürfnisse 15.000 Lewa (Francs), für Unterstützungen – 10.000 Lewa. Die Zahl der Gewerkschaftspublikationen erreichte 12. Mit einem Gefühl berechtigter Befriedigung beschrieb Kirkow die agitatorische und Verlagstätigkeit der Partei. In Verlauf des letzten Jahres veranstaltete sie 917 offene Versammlungen mit 154.675 Teilnehmern, gab 647 Aufrufe mit 158.896 Exemplaren heraus und verbreitete 157 Broschüren in 18.896 Exemplaren. An den Erster-Mai-Demonstrationen des Jahres 1910 nahmen beinahe 14.000 Arbeiter teil. Der „Rabotnitscheskij Wjestnik“, das Zentralorgan der Partei und der vereinten Gewerkschaften, das drei Mal in der Woche herausgegeben wurde, beendete das 13. Jahr der Publikation mit 3214 Abonnenten. Die Monatsschrift der Partei „Nowo Wremja“ [Neue Zeit], das vom „Greis“ Blagojew, dem Begründer der Partei und Theoretiker des Marxismus in Bulgarien redigiert wird, hatte am Ende des 13. Jahres der Publikation 1275 Abonnenten. Den Stolz der Partei bilden ihre „Buchhandlung“ und „Druckerei“6. Der Umsatz des Verlags stieg von 124.000 Francs im Jahre 1909 auf 422.000 Francs im Jahre 1910. Im letzten Jahr gab die „Buchhandlung“ 16 Bücher und Broschüren heraus, einschließlich des „Ursprungs der Familie“ von Engels, des „Weg zur Macht“ von Kautsky, des „L. Feuerbach“ von Engels, „Sozialdemokratie und Parlamentarismus“ von Parvus, „Marx und dessen historische Bedeutung“ von Kautsky – mit 2000 Exemplaren jeweils, „Aus meinem Leben“ von Bebel mit 3000 Exemplaren und, schließlich, der erste Band des „Kapitals“ in der Übersetzung Blagojews, von denen 1700 Exemplare bereits im Voraus bestellt waren. Außer ihr erschien beinahe gleichzeitig noch eine andere Ausgabe des „Kapitals“ in der Übersetzung Bakalows. Unsere französische Partei, mit ihren großen revolutionären Traditionen, mit ihren unvergleichlichen Rednern und Parlamentspersönlichkeiten, hat alle Gründe, mit Neid auf die erstaunliche Aufklärungstätigkeit der bulgarischen Partei in diesem kulturell rückständigen Lande zu sehen, welches eine Bevölkerung von 5 Millionen Menschen zählt.

★ ★ ★

Man darf nicht unterlassen, anzumerken, dass sich die bulgarische Partei immer unter dem Einfluss der russischen befand. Über die Kraft des letzteren Einflusses haben wir Russen nicht entfernte Vorstellungen. Nicht nur der 50-jährige Blagojew, welcher in einer russischen Universität studierte und im Jahre 1885 in Petersburg für die Organisation eines Arbeiterzirkels und Beteiligung an der Schaffung der Zeitung „Rabotschij“ arretiert wurde, nicht nur der 45-jährige Kirkow, welcher das Gymnasium in Nikolajew abschloss und bereits in jener Zeit in Zirkeln der „Narodnaja Wolja“ verkehrte, sondern auch die ganze junge Generation der bulgarischen sozialdemokratischen Intelligenz ist völlig „russifiziert“, aber zusammen mit der Intelligenz – auch die fortschrittliche Schicht des Proletariats. Sie gingen durch unseren Ideenkampf mit den „Ökonomisten, aber danach durch die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Die „Iskra“ sie für sie so ein lebendiger Begriff wie für uns, oder, um nicht aufbauschen, wie die „Die Neue Zeit“ für die Serben. Die bulgarischen Arbeiter singen russische revolutionäre Lieder, in bulgarischen politischen Artikeln begegnet man auf jedem Schritt unserer Parteiphraseologie.

* geschrieben im Jahre 1910 L. Т.

1In der älteren deutschen Übersetzung: „Geschlecht“, später wurde das russische Wort „племя“ auch dort mit „Stamm“ übersetzt.

** Auf diesem Parteitag waren die sozialdemokratischen Parteien Serbiens, Bulgariens, Rumäniens, Makedoniens und der Türkei, südslawische sozialdemokratische Parteien Österreich-Ungarns und schließlich die nicht zahlreiche Sozialdemokratie Montenegros vertreten. L. Т.

2In der älteren deutschen Übersetzung eingefügt: „sowie“

3In der älteren deutschen Übersetzung: „großen, unklar definierten Masse“

4In der älteren deutschen Übersetzung: „ich“

*** Im Jahre 1910. L. Т.

5In der älteren deutschen Übersetzung: „Veröffentlichungen“

6In der älteren deutschen Übersetzung: „Der Stolz der Partei ist ihr Verlagswesen“

Kommentare