G. Sinowjew 19150201 Der »Fall« Weill und die deutsche Sozialdemokratie

G. Sinowjew: Der »Fall« Weill und die deutsche Sozialdemokratie

[„Sozialdemokrat", Nr. 37. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 47 f.]

Weill ist ein gewesener Abgeordnete des deutschen Reichstags, in dem er Elsass vertrat, und Mitglied der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Gleich nach Kriegsausbruch trat Weill als Freiwilliger in die französische Armee ein und erklärte, dass er, wie der größte Teil der Bevölkerung von Elsass sich als Franzose fühle, weshalb er seine Vollmachten als deutscher Abgeordneter niederlege und unter französischer Fahne kämpfen würde.

Die ganze Motivierung Weills ist von demselben Geiste des „patriotischen" Sozialismus getragen, der in gleichem Maße die Haltung Vaillants und Sembats, Franks und Haases, Plechanows und Krapotkins kennzeichnet. „Ich bin Russe und trete deshalb für den Sieg Russlands (in Wirklichkeit des russischen Zarismus) ein", „ich bin Deutscher und bin daher für den Sieg Wilhelms", „ich bin Franzose und stehe deswegen für den Sieg der französischen Bourgeoisie", – das war die ganze Philosophie dieser Sozialpatrioten. Doch jedenfalls sollten sie doch, man sollte glauben, einander die gleichen Rechte einräumen. Wenn Frank aus dem Grunde, weil er „Deutscher" ist, das Recht hat, das Gewehr über die Schulter zu nehmen, um die französischen Proletarier auszurotten, so hat genau dasselbe „Recht" auch Weill: Wenn er sich als „Franzose" fühlt, so kann er das Gewehr über die Schulter nehmen und gegen die Deutschen ins Feld ziehen.

Noch mehr. Weill ist Elsässer und seiner Abstammung nach Franzose. Er ist Vertreter der Provinz, die vor 54 Jahren von Bismarck gewaltsam – entgegen den Protesten der deutschen Sozialisten – an Deutschland angeschlossen wurde. Er ist Vertreter derjenigen Provinz, wo im Laufe dieser ganzen Zeit die preußischen Junker das Nationalgefühl der annektierten Bevölkerung mit Füßen traten, wo große Schichten der Bevölkerung bisher sich noch mit der deutschen Herrschaft nicht abfinden können. Er ist der Vertreter von Elsass, dem die deutschen Sozialdemokraten, solange sie noch nicht Chauvinisten waren, die volle Autonomie wiedergeben und die Bevölkerung selbst darüber entscheiden lassen wollten, mit wem sie weiterleben möchte. All das verpflichtete die deutschen Sozialdemokraten wenigstens zur Vorsicht, zu einer gewissen, sei es auch nur demokratischen Anständigkeit in der Beurteilung des „Falles" Weill.

Aber nichts von alledem. Als Weills Austritt in Deutschland bekannt wurde, erhob die ganze bürgerliche Presse gegen ihn eine widerwärtige Hetze. Und was sehen wir? Die deutsche Sozialdemokratie schließt sich dieser Hetzjagd an. Die Parteileitung und die sozialdemokratische Fraktion schließen „feierlich" Weill aus, obwohl er selbst erklärt hat, dass er mit der deutschen Sozialdemokratie breche. Noch mehr. Wochenlang werden dem ausgetretenen Weill Kotklumpen und Kübel des unanständigsten Geschimpfes nachgeschleudert. Fast die ganze, mit Verlaub zu sagen, sozialdemokratische Presse Deutschlands zetert mit Geifer am Munde, dass Weill ein Verräter sei, dass er das deutsche Vaterland verraten habe, dass er nicht in den Reihen der deutschen Sozialdemokraten hätte arbeiten dürfen, wenn er sich als Franzose fühlte usw. usw. Die sozialdemokratischen Zeitungen Deutschlands sind aus Leibeskräften bemüht, sich wegen dieses „unerhörten Skandals" vor ihrer Bourgeoisie zu „rechtfertigen". Es werden die banalsten Klatschereien aus den bürgerlichen Revolverblättchen aufgetischt; und selbst Ledebour schnüffelt im „Vorwärts" auf Grund dieser „Quellen" öffentlich im Innern seines ehemaligen Fraktionskollegen herum…

Weill ist nicht unseres Romans Held. Er ist extremer Revisionist. In der deutschen Sozialdemokratie stand er auf dem äußersten rechten Flügel und verteidigte, wie es jetzt bekannt ist, – während des „Falles" des sozialdemokratischen Abgeordneten Landsberg sogar monarchistische Kundgebungen. Aber er ist keineswegs schlimmer als die Noske, Haase und Frank. Und wenn man in der deutschen sozialdemokratischen Presse all diese schamlosen Angriffe und ungeheuerlich unanständigen Beschuldigungen gegen Weill liest, so kann man sich dem Gedanken nicht verschließen: Herrgott, welch Augiasstall ist doch die jetzige deutsche Sozialdemokratie, welch ein Abgrund von bürgerlichen Gedankengängen, welch ein Mangel an elementarer demokratischer Anständigkeit, welch eine Unmasse von geradezu politischer Pöbelhaftigkeit und Ignoranz steckt in jeder ihrer Zeitungen, in jeder Kundgebung ihrer anerkannten Führer!

Werden wir es noch je erleben, dass auch bei uns in Russland die Sozialdemokraten, die zur herrschenden Nation gehören, einen finnländischen oder sagen wir polnischen Sozialisten so behandeln werden, wenn es ihm einfallen sollte, so zu handeln, wie Weill gehandelt hat? …

1. Februar 1915.

G. Sinowjew.

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