N. K. Krupskaja: Über die wissenschaftliche Arbeitsmethode Lenins [Zuerst veröffentlicht am 21. Januar 1928 in der „Prawda" Nr. 18. Nach N. K. Krupskaja: Das ist Lenin. Eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel. Berlin 1966, S. 426-431] Was Wladimir Iljitsch auch in die Hand nehmen mochte, er verrichtete alles ungewöhnlich sorgfältig. Außerdem leistete er selbst eine große Menge Kleinarbeit. Je mehr Bedeutung er nun dieser oder jener Arbeit beimaß, desto mehr drang er in alle Kleinigkeiten ein. Wladimir Iljitsch, der sah, wie schwer es Ende der neunziger Jahre war, in Russland eine regelmäßig erscheinende illegale Zeitung herauszubringen, andererseits aber einer gesamtrussischen Zeitung, die alle Ereignisse, alle Tatsachen der russischen Wirklichkeit und die sich immer stärker entwickelnde Arbeiterbewegung vom Standpunkt des Marxismus beleuchtete, eine gewaltige organisierende und propagandistische Bedeutung beimaß, holte eine Gruppe von Genossen zusammen und beschloss, ins Ausland zu reisen, um dort eine solche Zeitung zustande zu bringen. Die „Iskra“ ist von ihm geplant, von ihm organisiert worden. Er hat jede Nummer dieser Zeitung bis zu ihrem Erscheinen buchstäblich gehegt und gepflegt, jedes Wort darin bedacht. Eine außerordentlich charakteristische Einzelheit besteht darin, dass Wladimir Iljitsch selbst die Korrektur der gesamten Zeitung las. Er tat das nicht, weil er niemand hatte, der die Korrektur lesen konnte (ich stellte mich rasch auf diese Arbeit ein), sondern weil er fürchtete, es könnte irgend ein Fehler durchrutschen. Zunächst pflegte er die Korrektur selbst zu lesen, dann gab er sie mir, und schließlich sah er sie selbst noch einmal durch. Und so war er in allem. Er arbeitete viel mit den Daten der Semstwostatistik und verarbeitete sie. In seinen Heften findet man viele sorgfältig abgeschriebene Tabellen. Wenn es um Zahlen ging, die große Bedeutung hatten, außerordentlich wichtig waren, so prüfte er sogar die rechnerische Richtigkeit bereits gedruckter Tabellen noch einmal nach. Sorgfältige Prüfung jeder Tatsache, jeder Zahl – das war charakteristisch für Iljitsch. Er baute seine Schlussfolgerungen auf Tatsachen auf. Dieses Bestreben, jede Schlussfolgerung durch Tatsachen zu belegen, sie mit Tatsachen zu begründen, tritt schon in seinen frühen Propagandaschriften — „Erläuterung des Gesetzes über die Geldstrafen“, „Über Streiks“, „Das neue Fabrikgesetz“ – deutlich hervor. Er drängte dem Arbeiter nichts auf, er bewies alles mit Tatsachen. Einige Leute meinten, diese Schriften seien langatmig. Dafür hielten die Arbeiter sie für besonders überzeugend. Lenins in der Haft geschriebenes grundlegendes Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ enthält umfangreiches Tatsachenmaterial. Lenin, in dessen Leben die Lektüre des „Kapitals“ eine so ausschlaggebende Rolle gespielt hatte, verstand, auf welcher riesigen Menge von Tatsachen Marx seine Schlussfolgerungen aufgebaut hatte. Lenin verließ sich nicht auf sein Gedächtnis, obgleich er ein erstaunliches Gedächtnis hatte. Niemals legte er Tatsachen aus seiner Erinnerung, „ungefähr“, dar, sondern stets mit der größten Genauigkeit. Er sah Berge von Material durch (er las und schrieb außerordentlich schnell), aber was er behalten wollte, trug er in seine Hefte ein. In seinen Heften sind viele, viele Auszüge erhalten geblieben. Als er einmal meine Broschüre „Die planmäßige Selbstbildung“ durchsah, bemerkte er, ich hätte nicht recht, wenn ich sagte, man brauche nur das Notwendigste herauszuschreiben — er habe andere Erfahrungen gemacht. Das Abgeschriebene las er später viele Male wieder durch, wie spätere Randbemerkungen, Unterstreichungen usw. beweisen. Wenn ein Buch ihm gehörte, so begnügte er sich mit Unterstreichungen und Randbemerkungen, und auf dem Umschlag notierte er sich nur die Seite, wobei er sie einmal oder mehrmals unterstrich, je nach der Wichtigkeit der hervorgehobenen Stelle. Auch seine Artikel las er immer wieder und versah sie mit Anmerkungen. Was ihn auf irgendeinen neuen Gedanken brachte, unterstrich er ebenfalls, wobei er wiederum die Seite auf den Umschlag schrieb. So planmäßig stützte Iljitsch sein Gedächtnis. Stets hatte er deutlich in Erinnerung, was et unter bestimmten Umständen oder in der Polemik gegen jemand gesagt hatte. Wir bemerken in seinen Büchern, Reden und Artikeln sehr wenige Wiederholungen. Freilich finden wir im Laufe der Jahre in Iljitschs Artikeln oder Reden ein und dieselben Grundgedanken. Deshalb tragen seine Äußerungen auch das Gepräge einer besonderen Einheitlichkeit und Beharrlichkeit. Wir finden jedoch nicht, dass er früher Gesagtes einfach wiederholte. Der gleiche Grundgedanke wird in Anwendung auf neue Bedingungen geäußert, in einer anderen konkreten Situation, beleuchtet die Frage von einer neuen Seite. Ich erinnere mich einer Unterhaltung mit Iljitsch. Damals war er bereits krank. Wir sprachen über die soeben erschienenen Bände seiner Werke, wir sprachen davon, wie sich in ihnen die Erfahrungen der russischen Revolution widerspiegelten und wie wichtig es sei, diese Erfahrungen ausländischen Genossen zugänglich zu machen; wir sprachen davon, dass es notwendig sei, die erschienenen Bände zu benutzen, um zu zeigen, wie die Grundidee, um die sich alles dreht, unweigerlich auf verschiedene Art, je nach der sich ändernden konkreten historischen Situation, behandelt werden muss. Iljitsch beauftragte mich, einen Genossen zu finden, der diese Arbeit leisten sollte. Indessen ist dies bisher nicht geschehen. Lenin hatte die Erfahrungen des revolutionären Kampfes des Weltproletariats sorgfältig studiert. Diese Erfahrungen waren in den Werken von Marx und Engels besonders anschaulich beleuchtet worden. So las Lenin sie denn immer von neuem, er las sie wieder in jeder neuen Etappe unserer Revolution. Alle wissen, welch gewaltigen Einfluss Marx und Engels auf Lenin hatten. Es wäre jedoch wichtig, zu untersuchen, worin und wie das Studium ihrer Werke Lenin bei der Einschätzung des jeweiligen Augenblicks und der Entwicklungsperspektiven in jeder Etappe unserer Revolution half. Eine solche Forschungsarbeit ist bisher noch nicht geschrieben worden. Sie würde höchst anschaulich aufdecken, wie die Erfahrungen der revolutionären Weltbewegung Lenin bei seiner Voraussicht geholfen haben. Wer sich dafür interessiert, wie Lenin arbeitete, wie er Marx und Engels las, was er von ihnen als Anleitung bei der Bewertung unseres Kampfes übernahm, dem würde eine solche Arbeit außerordentlich viel geben. Sie würde zeigen, welch gewaltigen Einfluss die Erfahrungen des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse der industriell weiter fortgeschrittenen Länder auf unsere Revolution, auf unsere ganze revolutionäre Bewegung ausgeübt haben. Eine solche Untersuchung würde das Gefühl noch mehr stärken, dass die russische Revolution, unser gesamter Kampf und Aufbau ein Stück des Kampfes des Weltproletariats sind. Eine solche Arbeit würde zeigen, was Lenin von den Erfahrungen des internationalen proletarischen Kampfes übernahm und wie er diese Erfahrungen anwandte. Das ist es, was wir von Lenin besonders lernen müssen. Lenin studierte die Kampferfahrungen des internationalen Proletariats mit ungewöhnlicher Leidenschaft. Man kann sich schwerlich einen Menschen vorstellen, der weniger „für Museen zu haben“ war als Lenin. Die Buntscheckigkeit, der Mischmasch von Museumsmaterialien machten auf Wladimir Iljitsch jedes Mal den niederschmetterndsten Eindruck, so dass er schon nach zehn Minuten schrecklich abgespannt aussah. Doch eine Ausstellung, die wir einmal besuchten, hat sich mir fest eingeprägt In zwei kleinen Zimmern eines durch seinen revolutionären Kampf historisch berühmten Arbeiterviertels von Paris war eine Ausstellung über die Revolution von 1848 eröffnet worden. Hier hätte man sehen müssen, mit welch tiefgehendem Interesse Lenin sich buchstäblich an jeder Kleinigkeit festsog. Für ihn war das ein Stück des lebendigen Kampfes, Als ich unser Revolutionsmuseum besuchte, stellte ich mir Iljitsch vor, wie er lange bei jeder Kleinigkeit verweilt hätte. Wie man die Erfahrungen des revolutionären Kampfes des internationalen Proletariats ausnutzen müsse, darüber hat Lenin wiederholt selbst geschrieben. Ich erinnere mich einer seiner Äußerungen. Kautskys anlässlich der russischen Revolution von 1905 geschriebene Broschüre „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution“ hatte Iljitsch außerordentlich gefallen. Er ließ sie sofort übersetzen, korrigierte jeden Satz der Übersetzung und schrieb dazu ein leidenschaftliches Vorwort. Mir trug er auf, dafür zu sorgen, dass die Broschüre sofort gedruckt werde, und selbst alle Korrekturen auszuführen. Ich erinnere mich, wie unsere große legale Druckerei es auch in drei Tagen nicht fertigbrachte, die kleine Broschüre zu setzen, wie ich drei Tage ohne Unterlass in der Druckerei sitzen und stundenlang auf Korrekturen warten musste. Iljitsch verstand es, die Umgebung mit seiner Leidenschaftlichkeit anzustecken. Nachdem er alle Gedanken, die ihm im Zusammenhang mit Kautskys Broschüre gekommen waren, ausgesprochen und nachdem er das Vorwort geschrieben hatte, musste ich natürlich alles andere sein lassen und in der Druckerei sitzen, bis das Erscheinen der Broschüre gewährleistet war. Auch heute noch, zwanzig Jahre später, verbinden sich in meinem Gedächtnis auf seltsame Weise der graue Umschlag, die Schriftart und die Sitzfehler der in den Qualen unserer damaligen russischen technischen Schlamperei geborenen Broschüre mit den leidenschaftlichen Reden Iljitschs und den abschließenden Sätzen seines Vorworts zu dieser Broschüre: „Zum Schluss einige Worte über die ,Autoritäten'. Die Marxisten können nicht auf dem üblidien Standpunkt des radikalen Intellektuellen stehen, der scheinrevolutionär verallgemeinernd erklärt: ,Keine Autoritäten'. Nein. Die Arbeiterklasse, die in der ganzen Welt einen schweren und hartnäckigen Kampf für die volle Befreiung führt, braucht Autoritäten, aber selbstverständlich nur in dem Sinne, in dem junge Arbeiter der Erfahrung alter Kämpfer gegen Unterdrückung und Ausbeutung bedürfender Kämpfer, die in vielen Streiks gestanden und an einer Reihe Revolutionen teilgenommen haben, die sich revolutionäre Traditionen angeeignet und einen breiten politischen Gesichtskreis erworben haben. Die Autorität des internationalen Kampfes des Proletariats brauchen die Proletarier eines jeden Landes. Die Autorität der Theoretiker der internationalen Sozialdemokratie brauchen wir, um uns klarzuwerden über Programm und Taktik unserer Partei. Aber diese Autorität hat natürlich nichts mit den offiziellen Autoritäten der bürgerlichen Wissenschaft und der Politik des Polizeiregimes gemein. Diese Autorität ist die Autorität eines vielseitigeren Kampfes in denselben Reihen der internationalen sozialistischen Armee.“ In seinem Vorwort zu den „Triebkräften und Aussichten der russischen Revolution“ sprach Wladimir Iljitsch davon, wie richtig Kautsky an die Bewertung der russischen Revolution heranging, wenn er sagte: „,Wir tun gut, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass wir da völlig neuen Situationen und Problemen entgegengehen, auf die keine bisherige Schablone paßt.“ Gegen die Anwendung von Schablonen auf neue Situationen machte Iljitsch in seinem Vorwort leidenschaftlich Front. Wir wissen, dass Kautsky bei seinem Urteil über den imperialistischen Krieg und die Revolution von 1917 die neue Situation und die neuen Probleme nicht zu begreifen vermochte und deshalb zum Renegatentum absank. Die Fähigkeit, neue Situationen und Probleme, gestützt auf die Erfahrungen des revolutionären Kampfes des Weltproletariats, zu studieren, die marxistische Methode auf die Analyse neuer konkreter Situationen anzuwenden, stellt eine Besonderheit des Leninismus dar. Leider ist diese Seite der Sache noch nicht genügend an Hand von konkreten Fakten beleuchtet worden, obgleich darüber schon recht viel geschrieben wurde. Noch weniger wurde in unserer Presse eine andere Seite des Leninschen Herangehens an die Einschätzung revolutionärer Ereignisse behandelt – die Fähigkeit, die konkrete Wirklichkeit zu sehen und die kollektive Meinung der kämpfenden Massen in Erfahrung zu bringen. Nach Lenins Ansicht waren die kämpfenden Massen (man lese dazu in dem gleichen Vorwort zu den „Triebkräften“ nach) in den praktischen und konkreten Fragen der aktuellen Politik entscheidend. |
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