N.
K. Krupskaja: Über
die letzten Artikel W. I. Lenins „Lieber
weniger, aber besser“ und „Was sollen wir mit der Arbeiter- und Bauerbinspektion tun?“1 1923 [Zuerst veröffentlicht 1960 in der Zeitschrift „Woprossy Istorii KPSS“ Nr. 2, S. 185-187. Nach N. K. Krupskaja: Das ist Lenin. Eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel. Berlin 1966, S. 285-288] Wer die Tätigkeit und die Werke Lenins studiert hat, weiß, mit welcher Vorsicht er seine grundlegenden Ideen zur Kenntnis brachte. Wenn ihm eine bestimmte Idee gekommen war, dann bemühte er sich vor allen Dingen, sie theoretisch zu begründen. Hatte er einem Gesprächspartner, von dem er im Meinungsaustausch eine neue Art des Herangehens an seinen Standpunkt zu finden hoffte, die ihn interessierende Idee erläutert, so pflegte er wiederholt zu sagen: „Ich muss das noch gut durchdenken.“ „Warten Sie mit der Veröffentlichung“, schrieb er an Lunatscharski, als er ihm seine Gedanken über die Reorganisierung des Volkskommissariats für Bildungswesen mitteilte, „warten Sie mit der Durchführung, ich werde es mir noch ein-, zweimal überlegen.“ Wenn Wladimir Iljitsch eine grundlegende Idee durchdacht und sie theoretisch begründet hatte, dann zog er aus ihr praktische Schlussfolgerungen, „um den Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung besser lenken zu können“ (ein Ausdruck von Wladimir Iljitsch). Aber „man muss die Schemata dem Leben anzupassen wissen“, schrieb Wladimir Iljitsch 1917 in seinen „Briefen über die Taktik“, denn jede Theorie zeigt bestenfalls nur das Grundlegende, Allgemeine auf, erfasst nur annähernd die Kompliziertheit des Lebens. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.“ Sorgfältigste Berücksichtigung der Wirklichkeit, genaueste Festlegung, wie und in welcher Form diese oder jene grundlegende Idee im Rahmen der gegebenen konkreten Wirklichkeit angewandt werden kann – das war Lenins Art, an die Durchführung dieser oder jener praktischen Maßnahmen heranzugehen. In Lenins Tätigkeit und in seinen Werken kann man verfolgen, wie er zu einer grundlegenden Idee kam, sie durchdachte, theoretisch begründete und daraus praktische Schlussfolgerungen zog und mit welcher Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit Wladimir Iljitsch diese Idee im Laufe vieler Jahre verfocht. Stellten sich Schwierigkeiten und Misserfolge ein, wich er nicht vor ihnen zurück, sondern dachte über die Ursachen der Schwierigkeiten nach und bemühte sich, bessere, lebensnahere Formen für die Anwendung eben dieser Idee zu finden. Das unterscheidet Wladimir Iljitsch grundlegend von jedem Opportunisten. Wenn ein Opportunist vor der Wirklichkeit zurückweicht, wenn er eine Niederlage erleidet, dann verzichtet er auf den Kern der Sache, legt seine grundlegende Idee zu den Akten. Wenn Wladimir Iljitsch vor der Wirklichkeit zurückweichen musste, wenn er eine Niederlage erlitt, dann verzichtete er auf die angewandte Form der Durchsetzung seiner grundlegenden Idee, er zog sich zurück, aber er zog sich zurück, um von neuem zu beginnen, um dieselbe Idee in einer anderen Form durchzusetzen, nachdem er sie besser durchdacht, die Wirklichkeit besser studiert hatte … „Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch, soweit sie unvermeidlich sind, zu verstehen, ihren Prinzipien, ihrer Klasse, ihrer revolutionären Aufgabe — Vorbereitung der Revolution, Befähigung der Volksmassen zum Sieg in der Revolution – treu zu bleiben“, schrieb Wladimir Iljitsch im September 1917. In diesen Worten liegt der Schlüssel zum Verständnis der Tätigkeit Lenins. Lenin war seinen Prinzipien treu, er verstand es, sie in einer bestimmten konkreten Situation so durchzusetzen, dass unter den gegebenen Umständen soviel wie möglich für ihre Verwirklichung erreicht wurde, und er verstand es, aus einer Niederlage die Lehren für eine siegreiche Realisierung seiner Prinzipien zu ziehen – das kennzeichnet Lenins Tätigkeit. Wir müssen „die einfache Wahrheit begreifen, dass man es bei einem neuen, ungewöhnlich schwierigen Werk verstehen muss, mehrmals von vorn anzufangen: Man hat angefangen, ist in eine Sackgasse geraten – beginne von neuem, packe die Sache anders an, stelle dich zehnmal um, aber setze dich durch“, sagte Wladimir Iljitsch auf dem XI. Parteitag der KPR(B) im März 1922. In seinen letzten Artikeln „Lieber weniger, aber besser“ und „Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen“ befasst sich Wladimir Iljitsch mit der Frage, wie unser Staatsapparat reorganisiert werden muss, damit er befähigt wird, so gut wie möglich, mit dem geringsten Aufwand an Kraft und Mitteln die notwendigen Maßnahmen zu verwirklichen, auf die beste Weise die entsprechenden Arbeitsgebiete zu organisieren. Um diese Artikel von Wladimir Iljitsch richtig zu verstehen, muss man verfolgen, wie er Schritt für Schritt zu dem Standpunkt gelangte, den er in ihnen entwickelt. Das Problem des Staatsapparates muss als ein Teil der Frage des Staates, in dem die Macht den Arbeitern und Bauern gehört, betrachtet werden. Im August 1917, als sich Genosse Lenin nach den Juliereignissen in Finnland verbergen musste, nutzte er die Zeit, um diese Frage tiefer zu durchdenken. Er studierte, wie Marx und Engels dieses Problem betrachteten, wie sie die Erfahrungen der französischen Revolution von 1848 und der Pariser Kommune einschätzten, er studierte, wie die Opportunisten die Gedanken von Marx und Engels falsch auslegten, und begann die Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und der Februarrevolution von 1917 zu studieren. Aber der Oktober kam, und die Broschüre „Staat und Revolution“ wurde nicht zu Ende geschrieben. Die nachfolgenden Ereignisse führten sie zu Ende und illustrierten die Gedanken Iljitschs, die er in der Broschüre verteidigt hatte, wie es besser nicht hätte sein können. Die alte Staatsmaschine muss von Grund auf zerschlagen werden. Der bürgerliche Beamtenapparat arbeitet überall zur Unterdrückung der Volksmassen; er muss zerschlagen, vernichtet werden. „Diese Maschinerie zu zerschlagen, sie zu zerbrechen – das verlangt das wirkliche Interesse des ,Volkes', seiner Mehrheit, der Arbeiter und der Mehrzahl der Bauern, das ist die ,Vorbedingung' für ein freies Bündnis der armen Bauern mit den Proletariern, ohne dieses Bündnis aber ist die Demokratie nicht von Dauer und die sozialistische Umgestaltung unmöglich“, schreibt Lenin. Der alte Staat muss durch einen neuen ersetzt werden. „Das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralisierte Organisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft ,in Gang zu bringen'. Aber der Staat, den das Proletariat schaffen wird, wird ein Staat von besonderem Typus sein. In diesem Staat werden die Beamten eine ganz andere Rolle spielen. „Von einer Vernichtung des Beamtentums mit einem Schlag, überall, restlos, kann keine Rede sein. Das wäre eine Utopie. Aber mit einem Schlag die alte Beamtenmaschinerie zerbrechen und sofort mit dem Aufbau einer neuen beginnen, die allmählich jegliches Beamtentum überflüssig macht und aufhebt – das ist keine Utopie, das lehrt die Erfahrung der Kommune, das ist die direkte, nächstliegende Aufgabe des revolutionären Proletariats.“ „,Die Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war' – das ist eine theoretisch höchst wichtige Behauptung von Engels… Die Kommune hörte auf, ein Staat zu sein, insofern sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Minderheit (die Ausbeuter) niederzuhalten hatte; die bürgerliche Staatsmaschine wurde von ihr zerschlagen; an Stelle einer besonderen Repressionsgewalt trat die Bevölkerung selbst auf den Plan.“ 1 Die Arbeit W. I. Lenins „Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen" hieß in der ersten Variante „Was sollen wir mit der Arbeiter- und Bauerninspektion tun?“. (Siehe W. I. Lenin: Werke, 5. Ausgabe, Bd. 45, S. 442/443, russ.) |
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