N. K. Krupskaja: Zur Frage der Schülergerichte [Erschienen in Swobodnoje Wospitanie 1910/11 Nr. 10, Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 130-134, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 1, Berlin 1967, S. 193-1961] Heft 8 der „Swobodnoje Wospitanie“ bringt eine sehr lebendige Szene aus einem Schülergericht in der Berliner Schule von B. Otto2. Derartige Gerichte wurden auch in vielen amerikanischen Schulen eingeführt und finden leidenschaftliche Verteidiger unter den Pädagogen der neuen Schule. Deshalb wird es nützlich sein, die Frage in der Presse allseitig zu erörtern. Man sagt, Kinder übernähmen sehr gern die Rolle von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern und legten im Verlauf des Spiels viel Initiative und Selbsttätigkeit, kindliche Unbefangenheit und Unverdorbenheit an den Tag. Das ist sehr wohl möglich. Aber folgt daraus, dass ein derartiges Spiel gefördert werden soll? Vor allem soll man sich nicht der Selbsttäuschung hingeben und sich nicht einbilden, hier liege kein Einfluss der Erwachsenen vor und die Kinder handelten selbständig. Erwachsene brauchen in den eigentlichen Versammlungen nicht einmal anwesend zu sein, nichtsdestoweniger bestimmen doch sie den allgemeinen Ton und lenken die Selbsttätigkeit der Kinder in eine bestimmte Bahn. B. Otto nimmt an den Sitzungen des Kindergerichts nicht teil, aber er ist die letzte Instanz. Manchmal macht er als zufälliger Besucher Bemerkungen, und die Richter berufen sich auf seine Autorität: „Herr Otto liebt das nicht.“ Man darf sich also nicht selbst betrügen, denn die Kinder handeln hier nicht selbständig, sondern unter dem Einfluss der Erzieher. Außerdem ist nicht jedes Spiel gut, für das sich die Kinder begeistern und das sie aus eigenem Antrieb beginnen. In den meisten Fällen ist Spiel Nachahmung. Im Spiel ahmen die Kinder oft die Heuchelei, Dummheit und Grausamkeit der Erwachsenen nach, aber niemand wird behaupten wollen, dass diese Spiele günstig auf die Kinder einwirken. Heute trifft man nicht selten Kinder, die Aufhängen spielen. In den Zeitungen erschien einmal eine Meldung, zwei acht- bis zehnjährige Kinder hätten einen Spielgefährten aufgehängt, und eine andere besagte, ein kleiner Junge hätte sein Schwesterchen aufgehängt. Von den während des Spiels aufgehängten Katzen und Hunden schreiben die Zeitungen natürlich nichts. Wie viel Initiative und Begeisterung, welchen Einfallsreichtum aber entwickeln die Kinder bei diesen rohen und grausamen Spielen! Und wie oft wecken diese Spiele das Tier in ihnen! Soll man das Gerichtspielen fördern? Kinder sitzen über ihre Mitschüler zu Gericht. Was haben sich diese zuschulden kommen lassen? Entweder haben sie wirklich eine schlechte und unzulässige Handlung begangen oder nur geringfügig gegen die Schulregeln verstoßen. Im ersten Fall ist das Gerichtspielen absolut unmoralisch und unzulässig. Kindern darf man nicht das Recht geben, über einen schuldig gewordenen Mitschüler ein Urteil zu fällen. Sie kennen das Leben und die Menschen noch zu wenig, um genügend Objektivität walten zu lassen. Ein von Kindern gefälltes Urteil kann eine große Ungerechtigkeit gegen den Schuldigen sein … Wenn ein Schüler wirklich eine abwegige, unzulässige Handlung begangen hat, so darf man meiner Ansicht nach kein Schülergericht veranstalten, sondern muss mit den Kindern sprechen – in der freien Schule ist das natürlich eine Selbstverständlichkeit –; die Kinder müssen sich ganz klar darüber sein, weshalb eben diese Handlung schädlich und schlecht ist, und dürfen nicht die üblichen Phrasen wiederholen: „Lügen ist eine Schande“ oder „Stehlen ist ein Verbrechen“. Sie müssen sich bemühen zu verstehen, wodurch die Handlung des Mitschülers hervorgerufen wurde, und gemeinsam überlegen und beraten, wie man auf ihn einwirken und wie man ihn in Zukunft vor einer Wiederholung derartiger Handlungen bewahren kann. Mit Jugendlichen zwischen zwölf und sechzehn Jahren – in diesem Alter befinden sich die Kinder, die an den Schülergerichten teilnehmen – kann man durchaus schon über derartige Dinge sprechen. Kinder lassen sich zwar leicht von boshaften Gefühlen leiten, andererseits aber zeigen sie auch großes Feingefühl und Verständnis. Alles hängt davon ab, in welche Richtung ihre Gefühle gelenkt werden. Man wird sagen, ernste Vergehen könnten ja der Kompetenz des Schülergerichts entzogen werden, seine Kompetenz könne auf Verstöße gegen die Regeln der Schulordnung beschränkt werden, zum Beispiel, wenn ein Schüler mit einem Messer die Schulbank beschädigt, wenn er Lärm gemacht oder sich gerauft habe. Erstens ist es unlogisch, schwere Vergehen ungestraft zu lassen, während das Gericht für kleinere Vergehen Strafen auferlegt. Angenommen, die Vergehen sind harmlos und durchaus verzeihlich, dann ist es desto schlimmer, dafür so ernste Strafen zu verhängen wie Ausschluss vom Spiel oder aus der Klasse. Diese Strafen können nämlich den Bestraften verletzen, sie können ihn kränken und erbittern. Das ist dann kein Spiel mehr. Wäre es Spiel, dann müssten auch die Strafen nur Scherze sein: auf einem Bein hüpfen, radschlagen und anderes mehr. Aber im Ernst Kindergerichte zu veranstalten, ist eine sehr riskante Sache. Sie üben eine schlechte Wirkung auf die Kinder aus. Durch die Rolle des Staatsanwalts, der sich manchmal bemüht, aus weiß schwarz zu machen, und durch die Rolle des Verteidigers, der mitunter bestrebt ist, aus schwarz weiß zu machen, werden die Kinder, die diese Rollen ausführen, zweifellos demoralisiert… Und außerdem werden die Kinder, da sie das wirkliche Gericht mit seiner Verfahrensweise nachahmen, durch das Gerichtspielen daran gewöhnt, sich mit der äußeren, formalen Seite der Sache zu begnügen. Die Tatsache, dass die Kinder einander gut kennen und dass ihre Verfehlungen nicht schwerwiegend sind, bildet natürlich ein gewisses Gegengewicht zu einem einseitigen formalen Herangehen. Doch die Tendenz bleibt die gleiche: die Entscheidung der Angelegenheit vom Standpunkt einer formalen, bedingten, äußeren Gerechtigkeit. Wenn im staatlichen Leben eine formale Gerechtigkeit manchmal vielleicht auch besser ist als gar keine, wenn bei der völligen Unmöglichkeit, sich mit der psychologischen Ursache für das Vergehen des Angeklagten bekannt zu machen, ein derartiger Formalismus unvermeidbar ist, so ist es mehr als schädlich, einen so völlig unnötigen Formalismus in den sehr persönlichen Kreis der Kinder und Schulgefährten hineinzutragen. Die Kinder müssen sich daran gewöhnen, jede Sache vom Standpunkt der Gerechtigkeit – so, wie sie sich diese vorstellen – zu entscheiden und nicht vom Standpunkt einer äußeren Übereinstimmung mit dem Buchstaben des Gesetzes, und sei es auch des Schulgesetzes. Durch eine kluge Leitung können die schädlichen Folgen dieses Pseudogericht-Spielens bis zu einem gewissen Grade natürlich vermieden werden, aber welchen Nutzen bringt dieses Spiel im Grunde genommen? Man sagt, die Kinder gewöhnten sich daran, in der Öffentlichkeit zu sprechen, würden zur Achtung vor den Rechtsnormen erzogen, und auf diese Weise könne die Schuldisziplin leichter aufrechterhalten werden. Sprechen lernen, ihre Gedanken genau formulieren lernen können die Kinder auch bei den üblichen Kinderaussprachen; Achtung vor den Rechtsnormen ist etwas sehr Bedingtes, denn Rechtsnorm und Rechtsnorm sind zweierlei, und die Aufrechterhaltung der Schuldisziplin durch Kindergerichte mag für den Lehrer bequem sein, ob es aber für die Kinder nützlich ist? Die angeführten Argumente erschöpfen natürlich die Frage nicht, sie setzen sie vielmehr erst auf die Tagesordnung. Allerdings müssen wir, bevor wir Schülergerichte in unseren neuen Schulen einführen, die Frage klären, ob es Zweck hat. 1In einem Brief aus Paris vom 3. Juni 1911 schrieb N. K. Krupskaja an den Herausgeber der Zeitschrift, I. J. Gorbunow-Posadow: „Besonders interessiert mich ihr Feedback zum ersten Artikel“ (die Rede ist von diesem Artikel – Red.) „weil ich mein Hobby, Gericht zu spielen als eine sehr unsympathische Sache betrachte und es gerne sehen würde, wenn mein Artikel das Tageslicht erblicken würde …“ ( 2 Gemeint ist die Hauslehrerschule B. Ottos in Berlin-Lichterfelde. |
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