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N. K. Krupskaja 19110800 Schülerselbstmorde und die freie Arbeitsschule

N. K. Krupskaja: Schülerselbstmorde und die freie Arbeitsschule

[Erschienen in Swobodnoje Wospitanie 1910/11 Nr. 11, Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 135-142, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 1, Berlin 1967, S. 197-205]

Auf Grund von Meldungen der Kuratoren der Schulbezirke1 hat die Abteilung Sanitäts- und Gesundheitswesen des Ministeriums für Volksbildung einen Bericht über Schülerselbstmorde im Jahre 1909 zusammengestellt.

Dieser Bericht ist eines der furchtbarsten „documents humains“2. Die trockenen Zahlen zeigen, dass dieses Furchtbare, das die menschliche Sprache nicht auszudrücken vermag – der Selbstmord von Kindern und Jugendlichen – von Jahr zu Jahr zunimmt. 1906 wurden 44 Schülerselbstmorde gezählt, 1907 waren es 74, 1908 bereits 83 und 1909 sogar 143. In diesen Zahlen sind nicht die Selbstmordversuche einbegriffen, die sich 1909 auf 69 beliefen.

An der Tatsache des Selbstmordes eines Kindes oder Jugendlichen ist jedoch nicht die eigentliche Tatsache des Todes erschreckend. Natürlich ist es bedauerlich, wenn ein junges Leben zugrunde geht, der Tod an sich aber ist etwas ziemlich Natürliches und Alltägliches. Erschreckend ist, dass ein Kind in einen so furchtbaren Seelenzustand, in eine solche Verzweiflung geraten konnte. Was den Seelenzustand betrifft, so besteht zwischen Selbstmord und Selbstmordversuch kein Unterschied.

Demnach wurden im Jahre 1909 über 200 Schüler zum Selbstmord getrieben!

Bei dieser Zahl handelt es sich nur um Schüler. Selbstmorde von Kindern, die nicht die Schule besuchen, wie Handwerkerlehrlinge, Jungen, die in Kaufläden arbeiten und andere, sind in dieser Zahl nicht enthalten. Es handelt sich um Gymnasiasten, Realschüler, Gymnasiastinnen, Institutsschülerinnen usw. (über 70 Prozent aller Schülerselbstmorde entfallen auf Schüler mittlerer Lehranstalten).

Es erhebt sich natürlich die Frage, welche Rolle die Schule bei den Schülerselbstmorden spielt.

Eine kleine Zahl ist hier sehr aufschlussreich. Im Monat Mai, während der Prüfungszeit, betrug die Zahl der Selbstmorde 21, im Juli dagegen, als das Schulleben ruhte, war die Zahl der Selbstmorde unbedeutend, es waren nur zwei.

Sehen wir uns einmal die Ursachen der Selbstmorde an! In 44 Fällen konnten die Ursachen überhaupt nicht geklärt werden. In 6 Fällen gibt der Bericht als Ursache des Selbstmords Geistesgestörtheit, in 10 Fällen Lebensmüdigkeit und in 9 Fällen Neurasthenie an. Die Frage aber, weshalb zwölf- bis sechzehnjährige Kinder geistesgestört werden, Neurastheniker werden und so entsetzlich lebensmüde sind, bleibt offen. In den meisten Fällen werden nur die unmittelbaren Anlässe für die Selbstmorde angegeben. In 9 Fällen waren schlechte Zensuren, die nicht bestandene Prüfung und Ausschluss aus der Schule der Anlass; in 14 Fällen war es Furcht vor Strafe seitens der Eltern wegen schlechter Lernergebnisse, in den übrigen Fällen waren es Anlässe, die nicht unmittelbar mit der Schule zusammenhingen: in 14 Fällen unglückliche Liebe, in 18 Familienstreitigkeiten und anderes mehr. Und wiederum bleibt die Frage offen, warum solche Dinge wie „Sonetschkas Untreue“ oder Familienstreitigkeiten einen Jugendlichen während der Schulzeit, besonders im Examensfieber, veranlassen, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, und warum er das alles in der Ferienzeit mehr oder weniger erträgt. Oder warum diese Dinge 1906, als die Schule eine relative Freiheit genoss, leichter ertragen wurden, 1909 aber, als in der Schule die Zügel besonders straff angezogen wurden, die Schülerselbstmorde so unglaubliche Ausmaße erreichten.

Im Allgemeinen werden in dem Bericht die Ursachen für die Selbstmorde nicht geklärt, aus ihm ist nur ersichtlich, dass die Kinder so unglücklich sind, dass oft ein ganz nichtiger Anlass genügt, um das Maß voll zu machen, dass nichts sie mehr an das Leben bindet und dass sie, obwohl von Eltern, Lehrern und Freunden umgeben, furchtbar einsam sind. Aus dem Bericht ist ferner ersichtlich, dass sich die Mitmenschen überhaupt nicht für die innere Welt des Kindes interessieren, das Kind selbst aber ist unfähig und außerstande, sich jemandem zu nähern. Es zieht sich ganz in sich zurück, wird menschenscheu und kommt sich unnütz, überflüssig und als Fremder vor.

Aus dem Bericht geht weiter hervor, dass die Schule nicht nur weit davon entfernt ist, der kindlichen Seele Frieden zu bringen, sondern im Gegenteil die seelischen Qualen des Kindes noch vertieft.

Auf Grund des Berichts werden „Menschen im Futteral“ wieder behaupten, die Selbstmorde von Kindern und Jugendlichen mehrten sich wegen der Unmoral, die angeblich unter den Jugendlichen herrsche. Sie werden sagen, man müsse die Aufsicht über sie verstärken und streng überwachen, dass die Gymnasiasten nicht mit den Gymnasiastinnen in den städtischen Anlagen spazierengingen, dass die Schüler regelmäßig den Gottesdienst besuchten und dass sie nicht mit abgerissenen Knöpfen herumliefen, denn Unordnung in der Kleidung führe auch zu Unordnung in den Gedanken.

Eltern und überhaupt wohlmeinende Leute werden sagen, man müsse den Schülern gegenüber mehr Menschlichkeit und Milde walten lassen, die Zeit müsse so eingeteilt werden, dass die Kinder nicht übermüdet würden, die Prüfungen müssten abgeschafft werden usw.

Und nur wenige werden beim Lesen des Berichts zu dem Schluss kommen, dass die von Jahr zu Jahr zunehmenden Schülerselbstmorde deutlicher als alles andere die völlige Untauglichkeit des gesamten heutigen Schulsystems illustrieren, auf seinen völligen Zusammenbruch hinweisen und energisch die Schaffung einer neuen, freien und auf völlig anderen pädagogischen Prinzipien beruhenden Schule verlangen.

Man wird sagen, die Schülerselbstmorde dürften nicht ausschließlich der Schule zur Last gelegt werden: Eine ganz wesentliche Rolle spiele dabei die russische Wirklichkeit, die auf die seelische und geistige Verfassung der Kinder niederdrückend wirke.

Natürlich wäre es lächerlich, wollte man den Einfluss der gesellschaftlichen Umwelt und der gesellschaftlichen Verhältnisse leugnen. Aber die heutige Schule denkt nicht daran, diesen niederdrückenden Einfluss zu bekämpfen, auch ist sie außerstande, ihm irgend etwas anderes entgegenzusetzen, ja, sie selbst wirkt in der gleichen Richtung, indem sie jede Energie, jede Lebensfreude im Kinde tötet.

Außerdem ist, der Einfluss der Schule zu schwach, weil sie die Selbsttätigkeit des Schülers nicht anregt, seinen geistigen und sittlichen Anforderungen nicht gerecht wird, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse nicht voll und ganz in Anspruch nimmt, sondern ihn zwingt, sich den dargebotenen Lehrstoff passiv anzueignen. Deshalb also bleibt die Schule für das Kind etwas Fremdes, etwas was es nicht unmittelbar angeht.

Der französische Pädagoge Cousinet, der zwar ein leidenschaftlicher Verfechter der konservativen Schule mit all ihren negativen Seiten ist, aber die Kinder recht gut zu beobachten versteht, stellt fest, dass die französischen Kinder die Schule als etwas Unwirkliches und Unnatürliches betrachten, als etwas, was vom Leben mit seinen Freuden und Leiden weit entfernt ist. Nach ihrer Meinung beginne das Leben erst außerhalb der Schulmauern, in der Schule aber sei alles ausgeklügelt, wirklichkeitsfremd und unnütz, alles, was geschehe, sei weder gut noch schlecht, und hinter allem stecke eine „Absicht“. Wenn der Lehrer schimpfe, so nicht, weil er wirklich ärgerlich oder entrüstet sei, sondern weil es von ihm verlangt werde; wenn man den Kindern irgendeine Arbeit gebe, so nicht, weil ihre Arbeit nützlich sei, sondern nur der Ordnung halber.

Auch Cousinet weist auf den ungenügenden erzieherischen Einfluss einer solchen den Kindern fremden Schule hin.

Wenn das auf die französische Schule zutrifft, was soll man dann erst von unserer russischen sagen? Man sehe sich nur unsere Gymnasiasten an! Wie wenig Schulerinnerungen haben sie! Die besten Jahre ihres Lebens vergehen ihnen wie ein wirrer Traum; später haben sie nicht einmal mehr eine Erinnerung daran. Eine solche Schule kann gegen den Einfluss der Umwelt natürlich nicht ankämpfen.

Außerdem ist die Schule auch wegen ihrer völligen Lebensfremdheit in diesem Kampf machtlos. Die Schule mit ihrem Unterricht in Grammatik, Geschichte und anderen Fächern und das Leben mit seinen komplizierten Problemen sind zwei grundverschiedene Dinge. Fragen, die vom Leben aufgeworfen werden und dringend eine Antwort erfordern, sind in den Schullehrplänen nicht enthalten, und der Schüler muss sie, so gut er kann, selbst lösen. In der Theorie aber behauptet man, dass die Schule den Schüler auf das Leben vorbereitet! Allerdings fasst man die „Vorbereitung auf das Leben“ sehr eng auf. Die Vorbereitung auf das Leben läuft darauf hinaus, dass die Schule sich bemüht, dem Schüler bestimmte gesetzlich verbriefte Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die es ihm in Zukunft ermöglichen, eine bestimmte gesellschaftliche Stellung einzunehmen: eine Stelle oder ein Amt zu erhalten und diesen oder jenen Beruf auszuüben.

Doch um die wichtigste Vorbereitung auf das Leben, die Vorbereitung des Schülers auf das Leben unter den Menschen, kümmert sich die Schule sehr wenig. Schließlich ist der Schüler kein Robinson, sondern muss unter Menschen leben, gleichviel welchen Beruf er einmal ausüben wird. Die Schule kümmert sich nicht im Geringsten darum, gesellschaftliche Instinkte in den Schülern herauszubilden, sie zum Verständnis der Umwelt zu erziehen, das Streben und die Fähigkeit in ihnen zu entwickeln, sich überall und an jedem Ort den Menschen nützlich zu erweisen. Aber nur das allein kann doch den Menschen glücklich machen, das allein kann vor jenem schrecklichen seelischen Zustand, jenem Gefühl der Einsamkeit und Nutzlosigkeit bewahren, durch das junge, gesunde Menschen jetzt so oft zum Selbstmord getrieben werden.

Damit ein gutes Zusammenleben mit den Menschen möglich ist und sich enge und freundschaftliche Beziehungen zu ihnen entwickeln, muss man verstehen, rücksichtsvoll gegen die Menschen zu sein, sich an ihre SteIle zu versetzen, gewissermaßen in ihre Haut zu schlüpfen und in jedem Menschen den göttlichen Funken zu erkennen. Die Werke großer Schriftsteller, die es verstehen, den Schleier von dem Allerheiligsten der menschlichen Seele zu lüften, können hier eine große Rolle spielen, aber der Mensch muss auch im Buch des Lebens zu lesen verstehen. Zu diesem Zweck muss er das Leben und die Menschen beobachten können, muss einen ständigen lebendigen Umgang mit den Menschen pflegen, am besten ist der Umgang bei gemeinsamer Arbeit, da sie die Menschen einander näherbringt und vereinigt.

Was tut die heutige Schule in dieser Hinsicht? Sie hält den Schüler künstlich von den Menschen fern. Seine ganze Zeit verschlingt die Schule, die Anfertigung der Hausaufgaben, so dass für den Umgang mit Menschen außerhalb der Schule fast keine Zeit übrigbleibt. Mit wem hat es der Schüler in der Schule zu tun? Mit den Lehrern und den Mitschülern. Der Lehrer unterrichtet, und die Schüler lernen, der Lehrer befiehlt, und die Schüler gehorchen, und dadurch wird eine Mauer zwischen ihnen aufgerichtet. Bestenfalls kommt der Lehrer in die Klasse und hält eine mehr oder weniger interessante Stunde; die Schüler hören ihm mehr oder weniger aufmerksam zu, stellen vielleicht einige Fragen und gehen dann wie Fremde auseinander. Einer geistigen Verbundenheit zwischen Schülern und Lehrer steht der ganze Formalismus des Schullebens im Wege. Wird der Schüler etwa, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, mit dem Lehrer über seine innersten Gedanken und über seine Zweifel sprechen, wird er bei ihm moralische Unterstützung suchen? Schlimmstenfalls bilden der Lehrer und die Schüler zwei auf Kriegsfuß stehende Lager.

Und die Mitschüler? In der Klasse sind manchmal 30 bis 40 Schüler, die sich oft nur dem Namen, der Stimme und dem Aussehen nach kennen, sich aber innerlich völlig fremd bleiben, obwohl sie tagaus, tagein vier bis fünf Stunden zusammen auf der Schulbank sitzen.

In der heutigen Schule ist alles darauf gerichtet, die Schüler zu entzweien, statt sie einander näherzubringen. Durch die Zensuren und das Strebertum werden Neid und Eitelkeit großgezogen. Alles zielt darauf ab, den Schüler von seinen Kameraden abzusondern. Es ist ihm verboten, seinen Nachbarn irgend etwas zu fragen. Eine gemeinsame Arbeit, die vereinte, gemeinsame Anstrengungen erfordern würde, gibt man den Schülern nicht. Jeder ist gezwungen, an sich selbst zu denken und um seine persönlichen Erfolge bemüht zu sein. Jedes Kameradschaftsgefühl – das infolge des Zwangscharakters der Schule die unsinnigen Formen des Vorsagens und der gemeinsamen Täuschung des Lehrers annimmt – wird unterdrückt. Nur der gesellschaftliche Instinkt bewahrt die Kinder davor, eitle Egoisten zu werden. Der obenerwähnte französische Pädagoge Cousinet spricht voller Entrüstung über dieses durch nichts auszurottende Solidaritäts- und Kameradschaftsgefühl der Schüler und erklärt offen, der Lehrer müsse alle Anstrengungen auf den Kampf gegen dieses Gefühl richten, müsse sowohl Güte als auch Strenge anwenden und das Vertrauen der Schüler zu gewinnen suchen, kurz, alles tun, um die Schüler zu entzweien, da er sonst keine Autorität besitzen und mit dieser Horde von Jungen, die ihre eigenen Vorstellungen von Ehre und Gerechtigkeit hätten, nicht fertig werden würde.

Die Schule der Zukunft muss die Kinder auf jede nur mögliche Weise zur Solidarität erziehen. Jeder Formalismus muss aus der Schule verbannt werden und jeder Zwang daraus verschwinden. Im Grunde genommen muss die Schule eine freie Assoziation von Schülern sein, die sich das Ziel setzen, sich durch gemeinsame Anstrengungen den Weg in das Reich des Gedankens zu bahnen. Der Lehrer ist in einer solchen Schule nur der an Erfahrung und Wissen reiche ältere Freund, der den Schülern die Kunst beibringt, selbständig zu lernen. Er weist sie auf Verfahren und Methoden der Wissensaneignung hin, hilft ihnen, die gemeinsame Arbeit bei der selbständigen Weiterbildung zu organisieren, und lehrt sie, wie sie beim Lernen einander helfen müssen. Nur eine solche Schule kann eine Schule der Solidarität werden, eine Schule, die zu gegenseitigem Verständnis und Vertrauen erzieht.

Doch das Streben, sich den Menschen nützlich zu erweisen, ist allein nicht ausreichend. Man muss auch dementsprechend handeln können. Die heutige Schule gewöhnt den Kindern ab, nützlich zu sein. Das Kind will seine Kenntnisse sofort anwenden, aber die Schule hält es künstlich davon ab. Sie zwingt es zu völlig unnötigen Diktaten und Aufgaben und tröstet es damit, dass es später, wenn es die Schule beendet und ein Zeugnis erhalten habe, den Eltern und der Gesellschaft nützlich sein werde.

Wer die Kinder näher kennt, der weiß, wie sehr sie sich – besonders in den oberen Klassen – durch die erzwungene Untätigkeit, die ständige Niederhaltung des natürlichsten Instinkts, nämlich anderen nützlich zu sein, bedrückt fühlen. Die heutige Schule züchtet künstlich die Unfähigkeit, die eigenen Kräfte und Kenntnisse anzuwenden und sich nützlich zu machen. Der Gymnasiast, der die Schule beendet hat, sucht sehr häufig vergeblich nach einer Arbeit, durch die er den Menschen nützlich sein könnte, doch die scheinbar kleine, aber notwendige Alltagsarbeit unmittelbar vor seinen Augen, die sieht er nicht und ist nicht imstande, sie anzufassen.

Für Kinderarbeit eine Anwendung zu finden ist nicht schwer. Sie wird heute sogar in ziemlich breitem Ausmaß angewandt, allerdings zu dem Zweck, die kindlichen Kräfte auszubeuten. Bei zweckmäßiger Anwendung aber kann diese Arbeit ein mächtiger Hebel zur geistigen Entwicklung der heranwachsenden Generation sein.

Bei der Organisierung dieser Arbeit muss man ihr Erziehungsziel beachten und deshalb folgende Bedingungen einhalten: 1. die Arbeit muss das Kind interessieren, da sie nur dann eine freie Arbeit sein wird; 2. sie muss eine Anwendung der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten des Kindes darstellen, und sie muss sowohl körperliche als auch geistige Arbeit in sich vereinen – es darf nicht nur die Arbeit eines Tischlers oder Schusters, sondern muss auch die eines Pädagogen, eines Lektors usw. sein, natürlich nach Maßgabe seiner Kräfte und Kenntnisse; 3. das Kind muss in jedem einzelnen Fall das Ergebnis seiner Arbeit sehen und verstehen – es muss ihm klar sein, dass es sich durch diese und jene Arbeit nützlich gemacht hat; 4. die Kinderarbeit soll nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Schulmauern verrichtet werden, denn dadurch ergibt sich die Möglichkeit, auf sachlicher Grundlage vielseitigen Umgang mit den Menschen zu pflegen, das Leben zu beobachten, Lebensformen zu erlernen und sich schon von Kindheit und frühester Jugend an als nützliches Mitglied der Gesellschaft zu fühlen.

Die Schule muss sich bemühen, mit einer Kinderkrippe, einem Kinderhort, einem Museum, einer Bibliothek, einer Lehrmittelwerkstatt und einer Reihe anderer Werkstätten, einem Konsum, einer Gemeinschaftskantine usw. Verbindung aufzunehmen, und zwar so, dass die Schüler in all diesen Einrichtungen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse anwenden können. Ein Schüler beispielsweise hat gute Kenntnisse in Botanik: Er stellt das von ihm eingerichtete Herbarium dem Lehrmittelmuseum zur Verfügung, macht mit Schülern der Elementarschule eine Exkursion und hilft der Lehrerin, den Kleinen zu erklären, wie die Pflanzen leben; er geht in den Gemüsegarten arbeiten und wendet dort seine Kenntnisse bei der Pflege der Pflanzen an.

Ein anderer Schüler kann gut wiedererzählen, was er gelesen hat. Er geht also zu den Kleinen, um ihnen Märchen zu erzählen; bei der Ausgabe von Büchern aus der von den Schülern eingerichteten kleinen Wanderbibliothek bemüht er sich, Leser zu gewinnen, indem er den Inhalt eines Buches wiedererzählt, das ihn besonders interessiert hat. Wieder ein anderer Schüler, der sich besonders für Chemie interessiert und gelernt hat, wie man die Güte von Nahrungsmitteln feststellt, hilft beim Einkauf von Lebensmitteln in der Gemeinschaftskantine und im Konsum. Er geht aber auch dorthin, um seine Kenntnisse in der Buchführung anzuwenden, usw. usw. Diese Beispiele wurden auf gut Glück gewählt. Es lassen sich tausend andere Möglichkeiten für die Anwendung der Fähigkeiten und Kenntnisse der Kinder finden.

Überall wird der Schüler mit Menschen zusammentreffen. Beteiligt er sich an der Einrichtung einer kleinen Wanderbibliothek, so kommt er mit Kindern verschiedener Gesellschaftsschichten zusammen; hilft er in einer Werkstatt, so sieht er, wie die Arbeiter leben und arbeiten. Im Konsum sieht er, wie die Frau eines Arbeiters mit jeder Kopeke haushalten muss, usw. Hinterher berichtet der Schüler den Mitschülern und dem Lehrer über seine Eindrücke und Beobachtungen. Auf diese Weise lernt er unter den Menschen leben und arbeiten.

Ich weiß, wie schwer es ist, eine solche Arbeitsschule einzurichten. Weitaus schwerer, als in die Klasse zu gehen und eine interessante Stunde zu halten. Doch nur die ersten Schritte sind schwer. Und dann geschieht ja auch bereits vieles in dieser Richtung, man muss nur die vorhandenen Erfahrungen systematisieren und auswerten.

Außerdem aber wird sich alles leichter verwirklichen lassen, wenn die Idee der freien Arbeitsschule nicht auf eine kleine Gruppe von Pädagogen beschränkt bleibt, sondern einen breiten Personenkreis erfasst, der die Einrichtung einer derartigen Schule begrüßt und daran mitwirkt. Solche Menschen gibt es gewiss viele.

Wer diese flüchtigen Notizen liest, wird vielleicht sagen, das alles sei leeres Geschwätz, seien fromme Wünsche, Utopie. Unter den bestehenden Verhältnissen kann die freie Arbeitsschule natürlich nur als Ausnahme bestellen. Soll es so sein! Aber was folgt daraus? Die Zeit wird kommen, wo es möglich sein wird, eine Schule zu schaffen, wie sie die heranwachsende Generation braucht. Und dann muss man wissen, wie sie eingerichtet werden soll. Dazu aber sind Erfahrung und theoretische Vorarbeit notwendig, damit Klarheit darüber besteht, wie man die Sache anzufassen hat.

1 Von der zaristischen Regierung eingesetzte Aufsichtsbeamte über bestimmte Schulbezirke.

2 wörtl.: menschlichen Dokumente.

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