N. K. Krupskaja: Koedukation [Erschienen in „Russkaja Schkola“ 1911, Nr. 7-8, Antwort auf einen Artikel von Timofej Wassiljewitsch Lokot unter dem gleichen Titel in Nr. 7-8 1909 der gleichen Zeitschrift. Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 143-153, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 1, Berlin 1967, S. 205.213] Wenn die Frage gestellt wird, ob die Koedukation nützlich sei, so meint man damit gewöhnlich, ob die Koedukation die Herstellung normaler und gesunder Beziehung zwischen Mann und Frau fördere. Da es bisher keinem Zweifel unterlag, dass geistige Verbundenheit, gegenseitiges Verständnis und gleiches Entwicklungsniveau eine notwendige Vorbedingung für die Herstellung normaler Beziehungen zwischen Mann und Frau sind, und da es klar ist, dass Gleichheit der gewonnenen Eindrücke, gemeinsame Arbeit und gleiche Entwicklungsbedingungen die geistige Verbundenheit zwischen jungen Männern und jungen Mädchen nur fördern können, so lautet denn die natürliche Antwort auf die gestellte Frage: Die Koedukation ist sehr erwünscht. Wobei es wiederum selbstverständlich ist, dass geistige Verbundenheit dazu führt, dass der Mann in der Frau und umgekehrt die Frau im Mann in erster Linie nicht das andere Geschlecht, sondern den Menschen sieht. Dass ein solches Verhältnis normalisierend auf den Geschlechtstrieb einzuwirken vermag, wird gewöhnlich ebenfalls nicht angezweifelt; vom fortgeschrittenen Teil der Gesellschaft natürlich. Die Antwort auf alle diese Fragen, die dem Problem der gemeinsamen Erzielung zugrunde liegen, stützt sich auf Lebenserfahrung und auf allgemeine Prinzipien. Zur Beantwortung bedarf es keiner pädagogischen Fachkenntnisse und keiner speziell pädagogischen Erfahrungen, und deshalb können die Mütter diese Frage mit der gleichen, ja mit noch größerer Kompetenz beantworten wie der erfahrenste Pädagoge, denn die Frage der Koedukation ist aufs Engste mit der sogenannten „Frauenfrage“ verknüpft. Die Koedukation ist ein Teil der Frauenfrage, und wer kann dieses Problem lösen, wenn nicht die Mütter? Sie sind unmittelbar daran interessiert, denn sie wissen aus persönlicher Erfahrung, wie viel unnötige Bitternis durch die bestehende geistige Entfremdung zwischen den Geschlechtern selbst in die besten Familienbeziehungen hineingebracht wird. Pädagogische Erfahrungen sind etwas sehr Bedingtes, und man muss mit großer Vorsicht aus solchen Erfahrungen Schlussfolgerungen ziehen. Pädagogische Erfahrungen spiegeln stets sehr stark den allgemeinen Standpunkt des Pädagogen wider, und der ist eben von entscheidender Bedeutung. Deshalb hat Herr Lokot völlig recht, wenn er sagt, dass „unsere Theoretiker vor allem das Ziel einer solchen (gemeinsamen) Erziehung genau formulieren und klären müssen, das heißt im Grunde genommen das eigentliche Ideal der Erziehung, die Idealgestalt jener jungen menschlichen Persönlichkeit, die wir durch die Erziehung schaffen wollen“. Bei der Definierung dieser idealen Persönlichkeit aber sehen wir bei Herrn Lokot einen großen Fehler. In Wirklichkeit ging Herr Lokot auf diese allgemeinen Fragen überhaupt nicht ein, sondern stellte statt dessen die engere Frage: Wie wird der ständige gemeinsame Aufenthalt in der Schule auf den Geschlechtstrieb der Schüler einwirken, wird er ihn abschwächen oder verstärken? Indessen ist es völlig falsch, der Koedukation und der gemeinsamen Arbeit die Frage des gemeinsamen Aufenthalts in der Schule unterzuschieben. Wenn man schon vom pädagogischen Standpunkt an dieses Problem herangeht, dann muss man fragen, inwieweit es der Schule möglich ist, vor allem auf die Herstellung moralischer Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen einzuwirken. Man muss die Frage so stellen: Vermag die Koedukation einen einigermaßen ernsten Einfluss auf die Herstellung normaler Beziehungen zwischen Mann und Frau auszuüben, oder ist die erzieherische Bedeutung der Schule so gering, dass sie gar nicht daran denken kann, den Kampf gegen den Einfluss der Umwelt aufzunehmen? Danach aber muss man die Frage erheben: Ist die heutige Schule fähig, in dieser Hinsicht irgendeine erzieherische Rolle zu spielen? Übrigens wurde das von Herrn Lokot, als er die Frage der Koedukation durch die des gemeinsamen Aufenthalts in der Schule ersetzte, im Voraus bereits in dem Sinne entschieden, dass er der Schule jede erzieherische Bedeutung absprach und sie für gänzlich machtlos erklärte, dem in entgegengesetzter Richtung wirkenden Einfluss der Umwelt sowie der krankhaften Entwicklung des Organismus ein einigermaßen ernstes Gegengewicht zu bieten. Diese pessimistische Auffassung des Herrn Lokot wird auch durch seine Ansicht bestätigt, dass nicht die Schule, sondern Familie und Gesellschaft auf das Verhältnis der Geschlechter einwirken müssten. „Vielleicht“, sagt er, „zieht die neue sozialpädagogische Strömung ohne dringende Notwendigkeit die Schule zu einer Erziehungsaufgabe heran, die ihrer eigentlichen Natur nach Familie und Gesellschaft mehr angeht als die Schule und von ihnen leichter gelöst werden kann. Vielleicht vergisst diese neue Strömung m ihrer Begeisterung die mannigfaltigen technischen Schwierigkeiten pädagogischen Charakters, die bei der praktischen Verwirklichung der vorgesehenen Aufgabe unausbleiblich sind?… “1 Das bedeutet, wegen technischer Schwierigkeiten pädagogischen Charakters, die bei jeder ernsten Reform auftreten, auf eine wichtige, vom Leben nachdrücklich gestellte Aufgabe zu verzichten und von vornherein die Machtlosigkeit der Schule gegenüber dem Leben anzuerkennen. Man kann unmöglich sagen, in dieser Frage muss die Familie einwirken, in jener die Schule und in der dritten die Gesellschaft. So lässt sich der erzieherische Einfluss nicht abgrenzen; er drückt dem gesamten sich formenden Charakter des Kindes oder Jugendlichen seinen Stempel auf, und die Schule darf bei einer so wichtigen Frage wie dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht abseitsstehen … Eine Schule, die die Koedukation ablehnt, verlässt bereits den Boden der Neutralität und wirkt durch die künstlich geschaffene Absonderung der Geschlechter im Unterricht den auf eine Beseitigung der Entfremdung zwischen den Geschlechtern hinzielenden Bestrebungen von Gesellschaft und Familie entgegen. Und auch ihrer eigentlichen Natur nach ist die geistige Annäherung der Geschlechter, entgegen der Meinung des Herrn Lokot, eine Angelegenheit der Schule. Auch Erwachsene lernen sich bei der gemeinsamen täglichen Arbeit am besten kennen. Eine solche gemeinsame Arbeit erzieht sie zur Solidarität und entwickelt ihre gesellschaftlichen Instinkte. Das Arbeitsleben der Schüler vollzieht sich hauptsächlich in der Schule. Es bringt die Kinder einander näher, und zwar findet diese Annäherung von den allerersten Unterrichtsstufen an statt, so dass zu dem Zeitpunkt, da die sexuellen Instinkte erwachen, bereits eine gewisse Gewöhnung an gemeinsame Arbeit, eine gewisse geistige Verbundenheit zwischen den Schülern besteht und eine ganze Reihe gemeinsamer Eindrücke und Erlebnisse bereits hinter ihnen liegen. Die Schule ist der Ort, an dem die Kinder arbeiten lernen, und wenn wir wollen, dass Mann und Frau im Leben einträchtig Hand in Hand arbeiten – und die Arbeit ist ja die Grundlage des Lebens –, dann müssen wir natürlich von den ersten Schritten an Fertigkeiten in der gemeinsamen Arbeit bei ihnen entwickeln. Kinderversammlungen, Referate und Vergnügungen, bei denen Jungen und Mädchen nicht zu gemeinsamer Arbeit zusammenkommen, sondern um sich – vielleicht auch in sehr sinnvoller Weise – zu zerstreuen, können den Umgang in der Schule und bei der gemeinsamen täglichen Arbeit nicht ersetzen. Wenn man eine geistige Annäherung zwischen Mann und Frau erreichen will, muss man ihnen Gelegenheit geben, gemeinsam jene Freude zu erleben, die jedes gesunde Kind empfindet, wenn es sich der Erweiterung seines Gesichtskreises und des Wachstums seiner geistigen Kräfte bewusst wird. Untersuchen wir, ob Herr Lokot mit seiner pessimistischen Auffassung von der erzieherischen Bedeutung der Schule recht hat. Die erzieherische Rolle der Schule darf man natürlich nicht überschätzen. Es wäre lächerlich anzunehmen, die Koedukation könne sofort eine radikale Veränderung in den Beziehungen zwischen Mann und Frau herbeiführen. Diese Beziehungen werden durch eine lange geschichtliche Vergangenheit bestimmt, durch die ökonomische Lage der Frau und durch die Rolle jener Gesellschaftsklasse, der der einzelne Mann und die jeweilige Frau angehören. Familie und Umwelt wirken auf das Kind ein und erziehen ihm entsprechende Anschauungen und Gewohnheiten an, so dass das Kind, mit dem es die Schule zu tun hat, auch in dieser Hinsicht wie in jeder anderen kein unbeschriebenes Blatt ist… Gegen die Anschauungen und Gewohnheiten, die das Kind mit in die Schule bringt, muss der Erzieher ankämpfen, vielleicht sogar hartnäckig ankämpfen – aber muss er etwa nicht auch in anderen Beziehungen das gleiche tun? Die Rolle der Schule ist bescheiden, das ist aber für den Erzieher kein Grund, auf den Anteil von Einfluss, den er auszuüben vermag, von vornherein zu verzichten. Außerdem sind Schule und Schule zweierlei. Eine von bürokratischem Geist, starrem Schematismus und Formalismus durchsetzte Schule ist außerstande, die geistigen Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen und ihm jenes frohe Gefühl zu vermitteln, das durch die Entwicklung all seiner Kräfte in ihm hervorgerufen wird; eine Schule, die in unnützer Weise den Organismus des Kindes überanstrengt, seine Selbsttätigkeit, das Gefühl seiner eigenen Würde und den Glauben an die eigenen Kräfte zerstört – eine solche Schule ist überhaupt nicht fähig, irgendeinen erzieherischen Einfluss auf die Schüler auszuüben, oder richtiger gesagt, eine solche Schule übt einen demoralisierenden Einfluss an die eigenen Kräfte zerstört – eine solche Schule ist überhaupt nicht lernen, sondern sich langweilen und sich aus Langeweile gegenseitig Tinte in den Kragen gießen, den Lehrern alle möglichen gemeinen Streiche spielen und dergleichen mehr – in einer solchen Schule ist die Koedukation vielleicht nicht am Platze. In einer solchen Schule ist ein gemeinsamer Verbleib von Jungen und Mädchen in der Klasse vielleicht sogar gefährlich … In einer erneuerten Schule aber, einer Schule, in der enge freundschaftliche Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern bestehen, in der Wissensdurst herrscht und das Bestreben, zum Nutzen der Menschen arbeiten und leben zu lernen – in einer solchen Schule muss die Koedukation unbedingt eingeführt werden. Aber das ist doch eine Utopie, wird man uns sagen, man muss doch die Wirklichkeit in Betracht ziehen. Ja, das ist richtig, man muss die Wirklichkeit in Betracht ziehen, aber diese Wirklichkeit muss man auch in ihrer Entwicklung sehen. Wenn man die heutige Schule als etwas Unveränderliches ansieht und von ihr ausgeht, dann sind alle diese Gespräche über Koedukation allerdings müßig. Bei der Lösung dieser Frage begeht Herr Lokot eben oft den Fehler, dass er sie im Rahmen der bestehenden Schule lösen will, das heißt in einem Rahmen, in dem sie nicht zu lösen ist. Herr Lokot ersetzte das Problem der Koedukation durch die Frage, wie der ständige gemeinsame Aufenthalt der Kinder in der Schule auf ihren Geschlechtstrieb einwirken werde. Er überlegt, ob dieser gemeinsame Aufenthalt den Geschlechtstrieb abschwächen oder verstärken werde und ob es gut sei, den Geschlechtstrieb zu unterdrücken. Dabei äußert er den völlig richtigen Gedanken, dass ein gesunder normaler Mensch einen starken Geschlechtstrieb besitze und darin nichts Schlechtes zu sehen sei und dass die Unterdrückung des natürlichen Triebs nur schädlich sein könne; dass es sich bei der Erörterung der Frage nach der Koedukation nicht um die Abschwächung oder Verstärkung des Geschlechtstriebs handle, sondern um seine Regulierung. Aber nachdem Herr Lokot diesen völlig vernünftigen Gedanken ausgesprochen hat, äußert er alle möglichen Zweifel: Wird bei der Koedukation der Geschlechtstrieb nicht nur relativ, sondern auch absolut schwächer werden? Wird sich nicht eine gegenseitige Gleichgültigkeit der Geschlechter herausbilden, und zwar nicht nur den „Schulkameraden“ gegenüber, sondern auch überhaupt? Wird durch ein Zunehmen dieser „gewohnheitsmäßigen“ Gleichgültigkeit der Geschlechter nicht das Interesse an Ehe und Familienleben nachlassen, wird sich diese Gleichgültigkeit nicht auf die Fruchtbarkeit der Familie, auf die Gesundheit und Energie der Kinder auswirken, die aus solchen gleichgültigen „Kameradschaftsehen“ hervorgehen? „Das alles“, sagt Herr Lokot, „muss noch allseitig in der Praxis untersucht werden.“ Es sind viele Fragen, die da gestellt werden, und zwar äußerst komplizierter Art, die einer Statistik im Allgemeinen und der pädagogischen im Besonderen sehr schwer zugänglich sind. Man versuche nur einmal, den Grad der „Gleichgültigkeit“ in einer Ehe zu messen und den Einfluss dieser „Gleichgültigkeit“ auf die Gesundheit und Energie der aus einer solchen gleichgültigen Ehe hervorgegangenen Kinder festzustellen! Dazu müssen nämlich alle Faktoren, die die Gesundheit und Energie dieser Kinder beeinflussten, in Betracht gezogen werden, muss der Grad des Einflusses dieser Faktoren gemessen, der Faktor „Gleichgültigkeit“ ausgesondert werden usw. Das alles sind kaum erfüllbare Aufgaben. Alle diese Fragen können nur schätzungsweise beantwortet werden, aber haben solche Überlegungen großen Wert? Als Wissenschaft im genauen Sinne dieses Wortes kann nur die experimentelle Pädagogik bezeichnet werden, die Pädagogik im allgemeinen Sinne des Wortes aber enthält zu viel Bedingtes und Subjektives. Darum soll man auf pädagogische Erfahrungen und eine umfassende Praxis, wenn sie auch sehr nützlich sind, keine übermäßigen Hoffnungen setzen und nicht vornehmlich in der pädagogischen Praxis eine Lösung der Frage nach dem Nutzen der Koedukation suchen. Denn was ist eigentlich pädagogische Praxis? Eine Summe von Beobachtungen des kindlichen Innenlebens und die Verallgemeinerung dieser Beobachtungen. Damit sie von Wert sind, muss der Pädagoge ein feinfühliger Psychologe sein, der zu sehen und zu beobachten versteht, was in der Seele des Kindes vor sich geht. Solche Pädagogen sind eine sehr große Seltenheit. Bei diesen Beobachtungen ist absolute Objektivität erforderlich und die Fähigkeit, aus den gegebenen Tatsachen die entsprechende Schlussfolgerung zu ziehen. Wie bedingt die sogenannten pädagogischen Erfahrungen sind und wie verschieden sie ausgelegt werden können, zeigen Beobachtungen des Herrn Lokot selbst… Ziel meines Beitrages ist es nicht, den Artikel des Herrn Lokot, der viel Interessantes enthält, ausführlich zu analysieren, sondern vielmehr, auf die Unrichtigkeiten in der Fragestellung und die falschen Behauptungen hinzuweisen, die die zu erörternde Frage nur trüben und Anlass zu Missverständnissen geben können. Zum Schluss bringe ich einige Auszüge aus dem den russischen Lesern noch wenig bekannten Buch „Das Sexualleben des Kindes“ von Albert Moll, das 1909 in Berlin erschienen ist.2 Dieses Buch stellt eine sehr interessante wissenschaftliche Arbeit dar, der eine Menge persönlicher Beobachtungen zugrunde liegen, in der eine Menge Tatsachen angeführt werden usw. Den Verfasser kann man keines überflüssigen Liberalismus verdächtigen (er tritt für eine religiöse Erziehung, für die Notwendigkeit von Körperstrafen usw. ein), doch die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit steht außer Zweifel. Manchmal macht er recht komische Anstrengungen, um eine gewonnene Erkenntnis mit seinem eigenen Standpunkt in Einklang zu bringen. So weist er zum Beispiel mit aller Deutlichkeit die Schädlichkeit der Körperstrafen nach, versucht dann aber vergebens, diese Erkenntnis mit seiner festeingewurzelten Überzeugung, dass man in der heutigen Schule nicht ohne Körperstrafen auskommen könne, in Einklang zu bringen … Aber stets behält der wissenschaftliche Forscher in ihm die Oberhand, und deshalb ist das Urteil Albert Molls über die gemeinsame Erziehung nicht ohne Interesse. „Im Zusammenhang mit der Psychohygiene des Geschlechtslebens des Kindes steht auch die oft erörterte Frage der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter (Coeducation). Nur so weit es unser Thema betrifft, will ich darauf eingehen und werde die Frage, ob sonstige Gründe, z. B. die Verschiedenheit der Anlage, gegen die gemeinsame Erziehung sprechen, unerörtert lassen. Man hat auch aus sexualpädagogischen Gründen die gemeinsame Erziehung bekämpft. Man wendete ein, dass sie zu einem frühzeitigen Ausbruch des Geschlechtslebens und zu unsittlichen Handlungen zwischen den Kindern führe.“ „Es ist richtig, dass sich die ersten Sexualempfindungen von Knaben auf Mädchen richten, wenn diese in ihrer Nähe sind. Indessen würde man durch eine Trennung in den Schulen wenig nützen. Nicht nur würde an die Stelle der Schülerinnen sehr leicht eine andere weibliche Person treten, die der Knabe öfter sieht, sei es eine erwachsene, sei es ein Kind (Freundin der Schwester, der Familie, eine Kusine, eine Angestellte des Hauses), sondern es würde sich vielleicht der Trieb des Knaben und analog der des Mädchens auf das gleiche Geschlecht richten.“3 Weiter stellt Moll fest, dass es in den Schulen zwar zu sexuellen Handlungen kommen könne, die aus dem Geschlechtstrieb hervorgehen, aber sie kämen auch in Schulen vor, in denen die Geschlechter getrennt seien … „Das gleiche“, berichtet A. Moll weiter, „wurde mir von Amerikanern und Amerikanerinnen, deren Wahrheitsliebe und Urteilsfähigkeit ich mit vollem Recht annehmen darf, bestätigt. Ich habe amerikanische Ärzte, Geistliche, Lehrer, Familienväter, Familienmütter auf einer längeren Reise durch Amerika und auch bei anderen Gelegenheiten vielfach über diesen Punkt befragt. Sie stimmen alle darin überein, dass aus der gemeinsamen Erziehung Missbräuche nicht hervorgingen …“4 „Würde man untersuchen, wo früher das Geschlechtsleben erwacht, bei Kindern, die mit dem anderen Geschlecht zusammen, oder bei solchen, die nur mit ihren eigenen Geschlechtsgenossen unterrichtet werden, so wird es schwerlich einen erheblichen Unterschied geben. Was die Knaben in Internaten betrifft, so wissen wir genügend darüber Bescheid, um diese Frage noch zu erörtern, aber auch aus dem, was mir über Mädchenpensionate mitgeteilt wurde, und aus dem Verhalten vieler, auch kleiner Mädchen, in Schulen schließe ich, dass ein erheblicher Unterschied für den Zeitpunkt des Erwachens geschlechtlicher Empfindungen kaum besteht, mögen die Kinder mit dem anderen Geschlecht oder ohne dieses erzogen werden. Freilich ist eine Vorbedingung nötig, wenn die gemeinsame Erziehung nicht Schaden bringen soll. Sie darf dem Kinde nicht als Experiment, als eine Gefahr hingestellt werden. Wäre dies der Fall und würde man womöglich das Kind mit allerlei Warnungen behelligen, so könnte daraus Gefahr entstehen. Die gemeinsame Erziehung muss vielmehr dem Kinde als etwas natürliches erscheinen. In dieser Hinsicht ist ein Unterschied, ob die gemeinsame Erziehung von Anfang an besteht oder ob sie erst später bei Halbentwickelten beginnt. Das letztere könnte, wie das auch richtig von Gertrud Bäumer ausgeführt ist, gelegentlich gefährlich werden. Nur wenn von Kindheit auf die gemeinsame Erziehung nicht als etwas Selbstverständliches dem Kinde erscheint, dann könnte sie in sexueller und besonders sexuell sittlicher Beziehung Gefahren bringen.“5 „Sehr wesentlich ist die Ablenkung des Kindes vom Geschlechtstrieb. Je mehr dessen Erwachen des Kindes Bewusstsein in Anspruch zu nehmen droht, um so mehr ist es mit anderen, seinen Fähigkeiten und Interessen angemessenen Tätigkeiten zu beschäftigen. Hierher gehören ebenso ästhetische Bildungsmittel, Lektüre, Theater, wie körperliche Arbeit, Sport und Spiele. Gleichzeitig hiermit ist auf die Ausbildung der allgemeinen Willensstärke zu sehen, da sie zur Beherrschung des Geschlechtstriebs ebenso notwendig ist, wie zur Bekämpfung anderer Anfechtungen und Leidenschaften. Auch die allgemeine sittliche Erziehung des Kindes, die Bildung seines Charakters und seine Erziehung zu Idealen, ist für die sexuelle Pädagogik von der allergrößten Bedeutung.“6 „Ich will an dieser Stelle“, fügt Moll bescheiden hinzu, „natürlich die Streitfrage der gemeinsamen Erziehung nicht entscheiden. Ich wollte nur einen dagegen erhobenen Einwand, der unseren Stoff eng berührt, als nicht stichhaltig zurückweisen.“7 Mir scheint, die angeführten Auszüge sind nicht uninteressant. Außerdem berühren sie jenen Teil der Frage nach der gemeinsamen Erziehung, die auch Herr Lokot untersucht, und können zur vollständigeren Klärung dieser Frage beitragen. 1 Lokot. Original konnte nicht aufgefunden werden. 2 Albert Moll: Das Sexualleben des Kindes. Hermann Walther Verlagsbuchhandlung G. m. b. H., Berlin 1909. 3Ebenda, Seite 240 f. 4 Ebenda, Seite 242 5 Ebenda, Seite 244. 6 Ebenda, Seite 246 f. 7 Ebenda, Seite 244. |
Nadeschda Krupskaja > 1911 >