N. K. Krupskaja: Zur Frage der freien Schule [Erschienen in Swobodnoje Wospitanie 1909/10 Nr. 2 1909. Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 111-117, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 1, Berlin 1967, S. 187-193] Die Frage der freien Schule wird sehr lebhaft diskutiert, viel wird darüber geschrieben und gesprochen. Doch schreibt und spricht man mehr darüber, was und wie in dieser Schule unterrichtet werden soll, und bedeutend weniger darüber, wie eine solche Schule organisiert werden muss. Der Erfolg einer jeden freien Schule hängt aber vor allem von ihrer Organisation ab. Der Lehrer der neuen Schule braucht weit mehr Organisations- als Unterrichtstalent; er muss es verstehen, die gemeinschaftliche Arbeit der Kinder zu organisieren, Einheitlichkeit in diese Arbeit zu bringen und die Arbeit durch eine vereinende Idee zu verknüpfen – sonst läuft die Schule Gefahr, sich zu einer Einrichtung zu entwickeln, in der die Kinder faulenzen lernen und verlangen, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen und sie unterhalten, statt zu lernen, wie man selbständig arbeitet. Die Organisierung der freien Schule ist natürlich weniger Sache theoretischer Erörterungen als vielmehr Sache der Erfahrung, was selbstverständlich nicht ausschließt, dass auch diese Seite der Frage in der Presse erörtert wird. In diesem Artikel will ich nur auf die Rolle eingehen, die die Kinder selbst bei der Organisierung der freien Schule spielen müssen. Die heutige Schule sieht in den Schülern lediglich das Rohmaterial, lediglich den Ton, aus dem diese oder jene Figur zu kneten ist: den Handwerker, den Beamten, den guten Staatsbürger und die gesellschaftliche Persönlichkeit. Zwar wird dabei sehr viel von der Individualität des Schülers gesprochen und dass dieser Individualität Rechnung getragen werden muss. Was aber versteht man darunter? Darunter versteht man, dass man die Beschaffenheit des Tons, den man knetet, kennen muss. Die lebendige menschliche Persönlichkeit des Kindes aber mit dem komplizierten Innenleben, das sich in seiner Seele abspielt, wird gänzlich außer Acht gelassen; diese menschliche Persönlichkeit wird nicht genügend ernst genommen, sie wird nicht genügend geachtet. Mit neugierigen Augen betrachtet das Kind das Leben in seiner Umwelt, es beobachtet und denkt nach. Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, die Beziehungen zwischen den Menschen, mit denen das Kind in Berührung kommt, lösen in seinem Hirn tausend Fragen und in seiner Seele tausend Gefühle aus. Es vermag sie nur nicht in Worte zu fassen und in einer dem Erwachsenen verständlichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Weint das Kind nicht, dann weiß die Mutter nicht, was es will. Der Erwachsene hält das Kind gewöhnlich für viel kindlicher wenn ich mich so ausdrücken darf –, als es in Wirklichkeit ist. Das Kind wird in der Treibhausatmosphäre des Kinderzimmers und des Klassenzimmers gehalten und von dem Leben, wonach es sich sehnt, durch eine künstliche Mauer getrennt. Ich weiß, dass die Anhänger der freien Schule in der Theorie diese menschliche Persönlichkeit des Kindes in Betracht ziehen, doch „le mort saisit le vif“1, wie die Franzosen sagen, und die in der Pädagogik herrschende Auffassung hat zweifellos auch auf die Anhänger der freien Schule einen gewissen Einfluss ausgeübt, insofern sich diese Anhänger nicht darum bemüht haben, die junge heranwachsende Generation (die Zehn- bis Zwölfjährigen) für sich zu gewinnen. Wenn das Kind seine Ansichten über die in seiner Umgebung vorgehenden Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens nicht in Worte zu fassen und zum Ausdruck zu bringen vermag, so bedeutet das noch nicht, dass es sich keine Gedanken darüber macht und dass man mit ihm nicht darüber sprechen soll. Natürlich ist es völlig unnormal, wenn ein Kind, ohne sie zu verstehen, Meinungen nachplappert, die es von Erwachsenen über Ereignisse und Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens gehört hat und über die es sich keineswegs ein auch nur einigermaßen selbständiges Urteil zu bilden vermag, da es ihm an den dazu notwendigen Kenntnissen fehlt. Das ist selbstverständlich eine äußerst unnatürliche Erscheinung. Aber ich lasse nicht gelten, dass man einem zehn- bis zwölfjährigen Kind nicht folgenden Gedanken erklären kann: „Den Menschen geht es jetzt sehr schlecht, und jeder, der ihnen nützlich sein will, muss viel überlegen, viel wissen und zu arbeiten verstehen. Die freie Schule stellt sich die Aufgabe, ihren Schülern zu helfen, Menschen zu werden, die nicht nur selbst glücklich sind, sondern auch überall Optimismus, Wissen und Arbeitsliebe verbreiten. Doch die Lehrer der freien Schule können in dieser Hinsicht nichts machen, wenn die Kinder selbst nicht dabei mit arbeiten, wenn sie nicht selbst beharrlich danach streben, sich Wissen anzueignen und die Fähigkeit, es anzuwenden, und wenn sic ihren Kameraden und allen anderen Kindern nicht helfen, das gleiche zu tun.“ Dieser Gedanke muss sich meiner Ansicht nach wie ein roter Faden durch das gesamte Leben der neuen Schule hindurchziehen, sie zu einem einheitlichen lebendigen Organismus zusammenschweißen, in dem Schüler wie Lehrer von einer gemeinsamen Idee beseelt sind, eine gemeinsame Arbeit leisten. Alles hängt hier natürlich vom Enthusiasmus des Lehrers ab. Wenn er an seine Sache glaubt und von ihr begeistert ist, so teilen sich sein Glaube und seine Begeisterung unwillkürlich den Schülern mit. Doch das allein genügt nicht. Man muss die Schüler lehren, diese Idee in die Tat umzusetzen. Und dabei muss die weitgehendste Einbeziehung der Schüler in die Lehrtätigkeit eine wichtige Rolle spielen. Jeder Schüler muss gleichzeitig Schüler und Lehrer sein. Wer einmal Kinder beobachtet hat, der weiß, wie groß ihr Bestreben ist, ihre Kenntnisse anderen mitzuteilen. Ein Kind, das Lesen gelernt hat, sucht unverzüglich auch seinen kleinen Geschwistern, seinen Spielgefährten, die noch nicht lesen und schreiben können, oder auch der Hausgehilfin diese Kunst beizubringen. Die in seiner Natur begründete Aktivität: der Wunsch, die erworbenen Kenntnisse anzuwenden, drängt das Kind dazu. Auch die gesellschaftlichen Instinkte des Kindes: der Wunsch, anderen nützlich zu sein, wirken sich hier aus. Vielleicht spielt auch das unbewusste Bedürfnis nach Selbstkontrolle dabei eine Rolle. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es eine Tatsache, dass das Kind sehr gern die Rolle des Pädagogen übernimmt. Und zweifellos sind bei ihm Voraussetzungen für diese Rolle vorhanden. Von dem Wissen, das es sich eben erst erfolgreich angeeignet hat, ist es hell begeistert, es spürt noch lebhaft, wie sich sein Gesichtskreis durch die Aneignung dieses Wissens erweitert hat; und mit seiner Begeisterung steckt es unwillkürlich auch seinen Schüler an – Kinder haben ja ein so großes Nachahmungsbedürfnis. Außerdem hat ein Kind in psychologischer Hinsicht stets eine engere Beziehung zu einem anderen Kind als ein Erwachsener: Es wird seinem Kameraden oft etwas klarmachen können, was der Lehrer ihm nicht zu erklären vermag. Der Lehrer der freien Schule muss verstehen, dieses Bestreben der Kinder, andere zu belehren, auszunutzen, zu organisieren und in die erforderliche Bahn zu lenken. Dieser Gedanke ist natürlich nicht neu. Ziemlich verbreitet ist er in englischen Schulen, wo der Lehrer im Unterricht und noch mehr bei der Erziehung nicht selten die Hilfe der Schüler aus den oberen Klassen in Anspruch nimmt. In seinem äußerst interessanten Buch „Erziehung, auf der Psychologie des Kindes begründet“ weist Lacombe* nachdrücklich auf diesen Gedanken hin. „Man muss die Kinder auffordern“, sagt er, „einander Fragen zu stellen und sich gegenseitig zu kontrollieren, inwieweit sie den Unterrichtsstoff verstanden ‘und sich angeeignet haben. Auf diese Weise werden alle nacheinander die Rolle des Lehrers ausüben.“** Und weiter sagt er: „Nachdem ich einen Schüler geprüft habe und sehe, dass er über eine bestimmte Frage oder geschichtliche Periode gut Bescheid weiß, mache ich ihn zum Repetitor in dieser Frage und sage ihm vor den anderen Schülern: ,Du weißt hierin gut Bescheid und kannst deinen Mitschülern in dieser Frage helfen. Wenn einer von ihnen etwas nicht verstanden oder etwas vergessen hat, dann kann er dich fragen und braucht sich nicht an mich zu wenden. Du kannst mich voll und ganz vertreten.' Jedesmal, wenn der Lehrer sich durch einen Schüler vertreten lassen und seine eigene Rolle reduzieren kann, muss er dies tun. Seien Sie versichert, das wird außerordentlich nützlich sein.“*** Die Einbeziehung der Kinder in die Lehrtätigkeit ist meiner Ansicht nach von großer erzieherischer Bedeutung. Die heutige Schule ist in den meisten Fällen eine sehr schlechte Erzieherin: Sie ist nicht nur weit davon entfernt, die gesellschaftlichen Instinkte der Kinder herauszubilden, sie unterdrückt sie sogar in jeder Weise. Ich werde nicht näher auf diese Frage eingehen, da schon genügend darüber gesprochen wurde. Für jemand, der sich über das Erziehungswesen Gedanken macht, besteht kaum ein Zweifel, dass das in der heutigen Schule herrschende System der Zensuren, Auszeichnungen und Strafen darauf gerichtet ist, einen ungesunden Egoismus zu entwickeln, das Gefühl der Solidarität und gegenseitigen Hilfe in den Kindern zu unterdrücken und das elementarste Gerechtigkeitsgefühl in ihnen zu ersticken. In einer Schule, in der die Kinder gleichzeitig lehren und lernen, werden. sie sich nicht als Sklaven fühlen, die sich widerspruchslos ihrer Meinung nach ungerechten Forderungen fügen, und nicht als Gäste, die von den Lehrern unterhalten und zerstreut werden müssen, sondern als nützliche Glieder einer kleinen Gemeinschaft, die sie braucht und in der sie gebraucht werden. Man kann beim Kind die erzieherische Bedeutung des Bewusstseins, ein notwendiges Mitglied der Gesellschaft zu sein und an einer gemeinsamen notwendigen Sache teilzunehmen, nicht hoch genug einschätzen. Dieses Bewusstsein entwickelt sowohl Selbstachtung als auch eine ernste Einstellung zur Sache und zu sich selbst; es schützt vor jedem Hader mit sich selbst, vor geistiger Leere und Unzufriedenheit. Das Kind hat ein riesiges Bedürfnis, nützlich zu sein. Im Elternhaus wird dieses Bedürfnis noch einigermaßen befriedigt; in der heutigen Schule aber erlischt es, wird niedergehalten. In der freien Schule muss der Lehrer die Kinder lehren, nützlich zu sein, ihre noch schwachen Kräfte zum Nutzen anderer einzusetzen. Er muss dem Kind erklären, wie und womit es seinem schwächeren Mitschüler oder einem kleineren Schüler, dem er dies oder jenes beibringen soll, helfen kann. Meiner Ansicht nach müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet werden, dieses Bedürfnis der Kinder, nützlich zu sein, zu befriedigen. Zu diesem Zweck muss beispielsweise die Mittelschule zu irgendeiner dürftig ausgestatteten Landschule Verbindung aufnehmen und die Kinder beauftragen, diese Schule mit Lehrmitteln zu versorgen. Allerdings müssen die Kinder dabei eine gewisse Anleitung erhalten. Man muss ihnen zum Beispiel zeigen, wie man aus alten Illustrierten (zum Beispiel der „Niwa“ [Die Flur]) Sammelbüchlein über Geographie und Geschichte sowie Illustrationen zu Märchen und dergleichen zusammenstellen kann, man muss ihnen auch zeigen, wie man verschiedene Modelle und physikalische Geräte herstellt, usw. usw. Dann werden Sie sehen, wie viel Initiative und Ausdauer die Kinder entwickeln werden, wie auf diese Weise ein engeres Verhältnis zwischen Kindern und Lehrer geschaffen wird und ihre Individualität zur Entfaltung gelangen kann. Hier wird gleichzeitig sowohl das Bedürfnis des Kindes, schöpferisch tätig zu sein, befriedigt werden, als auch sein Bedürfnis, anderen nützlich zu sein, und zwar nützlich durch seine persönliche Arbeit. Zu dem gleichen Zweck ist es auch nützlich, die Schule mit irgendeinem Kindergarten zu verbinden und den Kindern die Möglichkeit zu geben, Kleidung für die Kleinen zu nähen, Spielzeug für sie herzustellen, sie hin und wieder zu betreuen und mit ihnen zu spielen. Das alles ist natürlich kompliziert, muss organisiert und gelenkt werden, allem muss Leben eingehaucht werden, aber wie sollte es auch anders gehen? Ich komme auf die Frage des wechselseitigen Unterrichts zurück. Die Einbeziehung der Kinder in die Lehrtätigkeit wird auch in anderer Hinsicht von erzieherischer Bedeutung sein. „Lehrend lernen“ lautet eine bekannte pädagogische Weisheit. Jeder, der unterrichtet hat, weiß, was für ein ausgezeichnetes Mittel der Selbstkontrolle dies ist. Alle Mängel im Wissen treten sofort zutage, sobald man anfängt, einem anderen etwas klarzumachen, das ganz klar zu sein schien. Auch dem Kind, das vorübergehend zum Pädagogen geworden ist, kommt die Mangelhaftigkeit seiner Kenntnisse zum Bewusstsein, und es erkennt, wie notwendig es ist, sie zu verbessern. Ständige Selbstkontrolle und Selbsteinschätzung sind vom pädagogischen Standpunkt außerordentlich wichtig. Durch die Einbeziehung der Kinder in die Lehrtätigkeit werden sie gleichzeitig auch zu Selbstbeherrschung, Geduld, aufmerksamem Verhalten anderen gegenüber, Interesse an den Leistungen der Mitschüler und dergleichen mehr erzogen werden. Die Einbeziehung der Kinder in die Lehrtätigkeit wird es erforderlich machen, dass man schon sehr früh einige Fragen der Pädagogik und der Methodik dieses oder jenes Fachs mit den Kindern erörtert. Gegenwärtig wird Pädagogik nur in der obersten Klasse des Gymnasiums durchgenommen, doch die Kinder interessieren sich schon viel früher dafür, weil die Pädagogik sie persönlich sehr nahe angeht. Die Kinder unterhalten sich ständig sowohl über die Unterrichtsmethoden als auch über die verschiedenen pädagogischen Verfahren ihrer Lehrer. Und dabei lassen sie erkennen, dass sie tatsächlich eine gute Beobachtungsgabe besitzen. Warum soll sich der Lehrer nicht sehr aktiv an diesen Gesprächen der Kinder beteiligen und sie in die erforderliche Bahn lenken? Dadurch wird ein viel engeres Verhältnis zwischen Lehrer und Kindern geschaffen, lernen Lehrer und Schüler einander besser verstehen, und werden die Kinder Interesse an der Organisierung der freien Schule und der freien Erziehung gewinnen. Wie viel Neues und Wertvolles werden sie zu dieser Sache beitragen können! Oft heißt es: „Die neue Schule erfordert einen ganz anderen Typ von Lehrern, als es die heutigen Lehrer sind. Es müssen Menschen sein, die sich intensiv für Erziehungsfragen interessieren, außergewöhnliche organisatorische Fähigkeiten, umfassende Kenntnisse, Beobachtungsgabe, Initiative und Feingefühl besitzen. Woher soll man die nehmen?“ Wenn die freie Schule die Kinder in die Lehrtätigkeit einbezieht, wenn sie versteht, sie von Anfang an bei der Organisierung hinzuzuziehen, sie für ihre Ideen auf erzieherischem Gebiet zu begeistern und die bei der Verwirklichung dieser Ideen erzielten Ergebnisse praktisch zu demonstrieren, dann werden die notwendigen Lehrerkader neuen Typs geschaffen werden. Diejenigen Schüler aber, die eine andere Tätigkeit erwählen – und sie werden natürlich die Mehrheit bilden –, werden auch in der Folgezeit stets tiefes Interesse an Erziehungsfragen zeigen, Verständnis für deren Bedeutung haben und in jeder Weise dazu beitragen, die Ideen der freien Schule zu verwirklichen. Durch die Einbeziehung der Kinder in die Lehrtätigkeit kann gleichzeitig auch ein Problem gelöst werden, das vielen unlösbar scheint: Damit sich die Individualität des Schülers entfalten kann, ist es notwendig, dass bis zu einem gewissen Grade auch individuell mit ihm gearbeitet wird. Bei dem gegenwärtigen Unterrichtssystem kann sich ein Lehrer also nur mit einer sehr geringen Zahl von Schülern beschäftigen. Infolgedessen würde eine freie Schule, in der die Unterrichtsarbeit ausschließlich Sache des Lehrpersonals wäre, eine äußerst kostspielige Einrichtung und deshalb nur einem sehr kleinen Personenkreis zugänglich. Wenn aber die Schule zu einer Art Arbeitskolonie wird, in der jeder Schüler abwechselnd die Rolle des Schülers und die des Lehrers übernimmt, dann wird sie bedeutend weniger Lehrer erfordern, deshalb auch bedeutend billiger sein und breitesten Bevölkerungsschichten zugänglich sein. 1 „le mort saisit le vif“ – wörtl.: Der Tod überkommt den Lebenden. * Paul Lacombe: Erziehung, auf der Psychologie der Kinder begründet. Genauere Literaturangabe nicht möglich. ** Ebenda, Seite 181. *** Ebenda, Seite 183. |
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