Rosa Luxemburg: Eine Revision [Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 16. Juni 1911. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 484-489] Die Bedeutung der angenommenen Reichsversicherungsordnung ist durch ihre unmittelbare Einwirkung auf die soziale Lage der Arbeiterschaft keineswegs erschöpft. Sie ist auch geeignet und berufen, die gesamte politische Situation zu beleuchten und namentlich das Schlagwort vom „schwarz-blauen Block", das unser politisches Leben in den letzten Jahren beherrschte, einer Revision zu unterziehen. Der schwarz-blaue Block1) war eine Schöpfung der Parteikämpfe auf dem Boden der Finanzreform, der Steuerfragen. Allein die Steuerfragen sind kein ausreichender, unzweideutiger Prüfstein für die Klassenphysiognomie der bürgerlichen Parteien. Die Steuerlast eines modernen Großstaates trifft ganz empfindlich nicht bloß das Proletariat, sondern auch die mittlere Bourgeoisie und das Kleinbürgertum in Stadt und Land. Ja, nichts ist so geeignet, den zahmsten Philister in Harnisch zu bringen, als wenn ihm „Vater Staat" mit seinen langen Fingern zu tief in die Tasche greift. Bei den französischen „Radikalen", der typischen Partei des Kleinbürgertums, war neben der Trennung der Kirche vom Staat namentlich die Einkommensteuer jahrzehntelang das Paradepferd des Programms und das Steckenpferd des „Ministerstürzers" Clemenceau. In Deutschland ist freilich der schwere Schritt des Militarismus zermalmend über die weichen Knochen unserer Liberalen hinweggegangen, und schon das Bismarcksche Regime hat sie im Missbrauch indirekter Steuern korrumpiert, das Gewissen in ihnen erstickt. Wenn sie bei der Finanzreform für den leichten Puff auf die Taschen der Besitzenden in Gestalt einer kümmerlichen Erbschaftssteuer waren, so geschah dies freilich nur, um vor der Wählermasse ein Feigenblatt für die 400 Millionen Mark indirekter Steuern zu haben. Immerhin war diese Rücksicht auf die Steuerempfindlichkeit der Wähler stark genug, dass sich die Liberalen um dieses Feigenblatts willen ihre kurze Regierungsherrlichkeit von konservativen Gnaden haben kosten lassen. Ganz anders klar und unzweideutig zeigen die Fragen der sozialen Gesetzgebung die politische Scheidung auf. Hier wo es sich um den Schutz für Leben und Gesundheit, um Existenzbedingungen der Proletarier handelt, um den Schutz der Ausgebeuteten vor den vernichtendsten Folgen der kapitalistischen Ausbeutung, hier greifen die Fragen direkt in die Klassenverhältnisse ein, sie berühren das Wohl und Wehe der Arbeiter als einer besonderen Gesellschaftsschicht, die ihre Knochen unter die erbarmungslose Walze der kapitalistischen Profitmacherei zu tragen gezwungen ist, sie legen den Finger in die Wunde der sozialen Frage. Bei der Reichsversicherungsordnung sind alle Nebenrücksichten vor dem nackten Ausbeuterinteresse verstummt, hier sprach nur der elementare Hass der bürgerlichen Klassen gegen die aufstrebende Arbeiterklasse, und er hat glücklich alle Parteien von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, mit Einschluss von 24 „Fortschrittlern", zu einer Phalanx vereinigt. Der schwarz-blaue Block ist damit von der öffentliche Bühne abgetreten, er hat sich bei der Reichsversicherungsordnung in einem größeren Lager aufgelöst, das Blockbrüder mit Blockgegnern gegen die Arbeiterschaft zusammengeschlossen hat, die feindlichen Lager aus den Zeiten der Steuerkämpfe haben sich in einer höheren Einheit verschmolzen: in dem Herrschaftsinteresse der Ausbeutersippe gegen das ausgebeutete Proletariat. An Stelle der Finanzreform ist somit in den Vordergrund der politischen Bühne die Reichsversicherungsordnung getreten, und diese ist es, nicht jene, die das Stichwort für die kommenden Reichstagswahlen abgeben muss, die namentlich für die Wahlagitation der Sozialdemokratie maßgebend ist. Nicht, als ob die gestrigen Sünden der Finanzreform vergessen oder in den Schatten gestellt werden sollten. Im Gegenteil, die Finanzreform als ein volksfeindlicher Raubzug der junkerlichen und pfäffischen Mehrheit muss naturgemäß eine der hervorragendsten Stellen in unserer Agitation einnehmen. Aber sie ist nicht mehr geeignet, zur Kennzeichnung der politischen Situation im Ganzen zu dienen. Die Reichsversicherungsordnung hat eine wesentliche Korrektur daran vollzogen, sie hat den durch vorübergehende Nebeneinflüsse in Verwirrung geratenen Kompass der politischen Lage richtiggestellt, an Stelle einer parlamentarischen Konstellation die soziale Klassenscheidung, an Stelle des schwarz-blauen Blocks die „eine reaktionäre Masse" von Heydebrand bis Naumann gesetzt. Wenn es schon früher grundverkehrt war, das Schlagwort „gegen den schwarz-blauen Block" zur Losung der sozialdemokratischen Wahltaktik etwa machen zu wollen, so wäre das heute einer Ignorierung der Reichsversicherungsordnung gleich, es hieße dies, unsere Wahlschlacht nach den eingefrorenen Trompetentönen aus den Zeiten der Finanzreform richten, sie nach einer Situation orientieren zu wollen, die nicht mehr vorhanden ist. Noch mehr. Während die Liberalen das Stichwort „Gegen den schwarzblauen Block" zur Richtlinie ihrer Wahlagitation jetzt um so lärmender machen werden, als es in ihrem dringenden Interesse liegt, die Aufmerksamkeit der proletarischen Wähler möglichst von ihren schmachvollen Helfersdiensten an die Reaktion bei der Reichsversicherung abzulenken, wird es umgekehrt zur Pflicht und zum Unterscheidungsmerkmal der sozialdemokratischen Agitation, allen liberalen wie klerikalen Vertuschungs- und Ablenkungsversuchen zum Trotz die Reichsversicherungsordnung in den Vordergrund zu schieben. Wenn es noch Optimisten geben konnte, die „die eine reaktionäre Masse" für ein theoretisches Schema hielten, über das man streiten kann, so hat dieses „Schema" heute brutalen Ausdruck gefunden in einem frischen Gesetzgebungsakt, auf dem die Druckerschwärze kaum trocken ist. Die Situation der Hottentottenwahlen2 kehrt somit bei der nächsten Reichstagswahl wieder, mit der äußerst wichtigen Änderung, dass diesmal auch das Zentrum in seiner natürlichen Rolle als Regierungspartei auftritt und keine Oppositionskomödie aufführen kann. Ja, gerade dem Zentrum gegenüber gibt uns die Reichsversicherungsordnung eine vortreffliche Waffe, um die Jesuitenpartei als blutige Feindin der Arbeiterklasse vor ihren eigenen proletarischen Anhängern zu entlarven. Hat doch das Zentrum hier für eine Vorlage gestimmt, die von den christlichen Gewerkschaften selbst auf ihrem Kongress in Köln im Jahre 1909 mit den schärfsten Worten als ein Attentat auf die Rechte der Arbeiter gebrandmarkt worden ist, das um jeden Preis zum Scheitern gebracht werden müsse. Wenn man von unserer Wahltaktik spricht, so ist darunter natürlich in erster Linie der Zuschnitt unserer Agitation bei den Wahlen und nicht etwa unser Verhalten bei den Stichwahlen gemeint. Dass wir dort, wo die Entscheidung von uns abhängt, für das geringere Übel eintreten, ist so selbstverständlich, dass diese Frage etwa zur Diskussion stellen wollen soviel hieße, wie offene Türen einrennen und von der eigentlichen Frage ablenken. Allerdings wird auch die Entscheidung über dies „geringere Übel" für die Sozialdemokratie immer schwieriger. Bebel hat in seiner Hamburger Rede von Ende März – laut Bericht im „Vorwärts" – sich folgendermaßen geäußert: „Bei den Stichwahlen sind unsere Ansprüche an die bürgerlichen Kandidaten, die wir unterstützen wollen, notgedrungen immer bescheidener geworden, weil die bürgerliche Opposition immer unzuverlässiger geworden ist. Es gibt heute keine bürgerliche Partei mehr, die in bestimmten Fragen so wie früher mit uns übereinstimmt. Aber als Mindestes müssen wir verlangen, dass ein Kandidat, der unsere Stimmen in der Stichwahl haben will, uns fest verspricht, erstens für Aufrechterhaltung des Reichstagswahlrechts, zweitens gegen Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts, drittens gegen jedes Ausnahmegesetz, das sich gegen die Arbeiterklasse richten könnte, einzutreten. Tut er das nicht, so sind wir für ihn nicht zu haben.“ Befolgt man diese Regel, dann entsteht jetzt eine große Frage gegenüber der Mehrzahl der jetzigen fortschrittlichen Abgeordneten, die teils passiv, teils aktiv für das schlimmste Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterklasse eingetreten sind – haben doch von den 48 Mann nur 10 gegen die Reichsversicherungsordnung, 24 für sie gestimmt, während sich 14 um die Abstimmung gedrückt haben. Doch ist die Hauptsache nicht die Entscheidung bei den Stichwahlen, die in jedem einzelnen Fall von unsern Genossen genau geprüft wird, sondern es ist der Charakter der Agitation, die wir in der Presse, in Flugblättern und in Versammlungen treiben, ob bei der Haupt- oder bei der Stichwahl, ob in Kreisen, wo die Liberalen unsere Hauptgegner, oder dort, wo sie zwischen uns und den Rechtsparteien den Ausschlag geben. Jede Schonung der Liberalen wäre auch rein parlamentarisch ein Fehler. Je schärfer und rücksichtsloser wir sie kritisieren, umso mehr Sympathie und Zustimmung erwerben wir bei den spärlichen wirklich fortschrittlichen Elementen des Bürgertums, denen die Sünden ihrer eigenen Partei zornige Röte ins Gesicht jagen. Die prinzipientreue Politik wird auch hier die einzig praktische sein. Die übrigen Elemente des Liberalismus aber, die vom Krebs der Reaktion zerfressenen, gewinnen wir nicht durch noch so diplomatische Schonung. Die maßgebenden Fortschrittler vernichten selbst nach Kräften alle Illusionen. Sagte doch z. B. der Abg. Eyckhoff in seiner Wählerversammlung vom 17. Oktober in Remscheid ganz offen: „Unvergeßlich sind mir und sicher auch Ihnen allen die Tage der Reichstagswahl von 1907. Die liberalen Parteien bildeten damals mit den Anhängern der Freikonservativen Partei eine große Schlachtline, und als dann in der Stichwahl die andern bürgerlichen Parteien – vergessend, was uns trennte – uns ihre Hilfe liehen, da brachten wir dem gemeinsamen Gegner eine Niederlage bei, so vernichtend, wie sie die Sozialdemokratie in unserm Wahlkreis noch nicht erlebt hatte… . Nun, meine Herren, möge denn diese Wahl von 1907 uns allen ein Vorbild sein!" Und diesem Eyckhoff, der sich in seinem Wahlkreis von den eigenen Parteifreunden jede Agitation gegen die Konservativen verbeten hatte, ist auf dem jüngsten Parteitag der fortschrittlichen Volkspartei für Rheinland von den Kopsch und Wiemer, gegen die Klagen einiger Freisinnigen mit mehr Schamgefühl, Recht gegeben worden. Es ist dies keine vereinzelte oder zufällige Erscheinung. Ein tiefgreifender reaktionärer Zug geht gegenwärtig durch das gesamte Bürgertum, ein Zug, dessen reißende Fortschritte man sozusagen mit den Händen greifen, im Verlauf von wenigen Monaten wahrnehmen kann. Die Nachwahlen des letzten Jahres hatten den radikaleren Freisinnsblättern einigen Anlass zum Jubeln über den „Ruck der Wähler nach links" gegeben. Seitdem welche Erlebnisse! Die Nachwahl in Gießen-Nidda im März, die Bürgermeisterwahl in Stuttgart im Mai, – das sind zwei derbe Faustschläge ins Gesicht aller Träumer von dem liberalen Frühling unseres Bürgertums. Aber auch diese zwei aufeinanderfolgenden Fälle bilden noch unter sich eine interessante Skala in dem reaktionären Abrutsch des Freisinns. Bei der Gießener Wahl ist der Sieg der Reaktion durch die Fahnenflucht der Liberalen verursacht worden, die bei der Stichwahl, entgegen der einstimmigen Aufforderung der Vertrauensmänner der fortschrittlichen Volkspartei, um die Wette mit den Nationalliberalen dem Antisemiten ihre Stimme gaben, um einen Sozialdemokraten zur Strecke zu bringen. Zwei Monate später, bei der Stuttgarter Wahl, sollte es noch besser kommen: hier haben die Volksparteiler nicht erst den Sozialdemokraten, sondern direkt ihren eigenen Parteikandidaten verraten, indem sie gleich im ersten Wahlgang ins reaktionäre Lager überliefen! Die freisinnigen Wähler folgen also ihren eigenen Parteileitungen nicht, die Masse des Bürgertums ist noch viel reaktionärer als ihre offizielle Partei, ebenso wie die Partei in Wirklichkeit reaktionärer ist als ihre Presse. Es ist dies ein umgekehrtes Verhältnis wie in der Sozialdemokratie. Während die durch ihre soziale Lage revolutionäre Masse in ihrem klassenbewussten Teil meist radikaler ist als die Führerschaft, zeigt die Rebellion der liberalen Bürgermasse gegen ihre Führer, wie sehr die durch ihr Klasseninteresse reaktionäre Schicht nur noch mit größter Mühe an die längst verblichenen leeren Worte des liberalen Parteiprogramms gebunden werden kann. Genau derselbe Zug setzt sich in der Nationalliberalen Partei durch. Der Freisinn befolgt jetzt in seiner Verzweiflung diejenige Taktik, die der Sozialdemokratie von den revisionistischen Schwärmern einer Großblocktaktik in unserm Lager empfohlen wird: Nachsicht zu üben mit den Sünden des Liberalismus und durch bereitwillige Allianz mit ihm seine schwache Tugend aus den Umarmungen der Reaktion zu befreien und vor den Wagen des politischen Fortschritts zu spannen. Die Freisinnigen drücken vor den Sünden der Nationalliberalen beide Augen zu; ihre ganze „liberale" Taktik konzentriert sich darauf, der Fraktion Drehscheibe einzureden, sie sei sozusagen auch „liberal", und auf Grund dieser holden gegenseitigen Selbsttäuschung einen Wahlschacher mit gemeinsamer Verteilung der Mandate zustande zu bringen. Was haben sie mit dieser Befolgung des „staatsmännischen" Rezepts unserer Revisionisten erreicht? Dass sie von den Nationalliberalen in Düsseldorf an das Zentrum, in Friedberg-Büdingen an den Bund der Landwirte, wo es angeht, an die Konservativen verkauft und verraten werden. Aber auch dort, wo zwischen den beiden Parteileitungen das Geschäft mit Ach und Weh perfekt geworden ist, rebellieren die einzelnen Wahlkreise, die nationalliberalen Wählermassen und regalieren die „fortschrittlichen" Alliierten mit Fußtritten. Die Friedberg und Bassermann schreien sich z. B. heiser, um ihre oldenburgischen Mannen von einer Gegenkandidatur gegen den Fortschrittler abzuhalten, ohne sich Gehör verschaffen zu können. So fügt sich das anmutige Bild der jüngsten Wahlen und der Wahlvorbereitungen der liberalen Parteien zu einem geschlossenen Ganzen. Die freisinnige Wählermasse versagt den eigenen Führern die Gefolgschaft, um gegen die Sozialdemokraten Front zu machen, die nationalliberale Wählermasse versagt ihren Führern den Gehorsam, um sich gegen den Freisinn zu wenden. Jede Partei schlägt nach links aus und fällt nach rechts um, und die wenigen Parteiführer, die noch nicht ganz ihr liberales Gewissen losgeworden sind, versuchen ohnmächtig, wie Phaeton, die hoffnungslos verstrickten Rosse und den umgerannten Wagen des Liberalismus aus dem Sumpf der Reaktion und dem wirren Chaos der unaufhaltsamen Zersetzung zu reißen. Die Reichsversicherungsordnung hat zu diesem Gesamtbild eine grelle Beleuchtung geliefert, wobei sie uns zugleich gegen das Zentrum eine tödliche Waffe in die Hand gedrückt hat. Wir würden uns an unseren elementarsten Aufgaben versündigen, wenn wir diese Zeichen und Symptome der Reife der kapitalistischen Entwicklung zur revolutionären Klassenaufklärung des Proletariats in ihrem ganzen Umfang nicht ausnützen würden. Unser Wahlkampf muss in diesem Jahre mehr als je einer streng prinzipiellen, von allen parlamentarischen Nebenrücksichten freien sozialistischen Agitation dienen. 1 Seit 1909 Bündnis der Konservativen mit dem Zentrum. 2 Reichstagswahlen von 1907, die im Zeichen des „Hottentottenblocks", des von Bülow geschaffenen Bündnisses von Konservativen, Nationalliberalen und eines Teils der Freisinnigen, standen. |
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