Karl Liebknecht: „Klarheit über Weg und Ziel" Rede vor dem 53er Ausschuss der Marine 27. November 1918 [Flugschrift. IML, ZPA, NL 1/15, Bl. 5-11. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 613-625.] Kameraden, Freunde und Genossen! Kein ernster Sozialist ist von diesem Kriege überrascht worden. Sie alle wissen, wie Jahrzehnte vor dem Kriege von der „internationalen Sozialdemokratie" auf Parteitagen und Kongressen erklärt wurde, solange die kapitalistische Gesellschaftsordnung besteht, sind Kriege unvermeidlich. Es ist das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, dass die Arbeiterklasse ausgebeutet wird, dass Kapital sich anhäuft, dass das angehäufte Kapital nach Erweiterung seines Wirkungskreises und Eroberung strebt, dass der Kampf um die Reichtümer der Erde, der Kampf um den Weltmarkt die verschiedenen imperialistischen Komplexe immer stärker gegeneinander treibt. Wir haben diesen Weltkrieg seit langem vorausgesagt. Wir suchten ihn unter Aufbietung unserer ganzen Macht zu verhindern. Das internationale Proletariat hoffte stark genug zu sein, dem Imperialismus in den Arm zu fallen, wenn er den Anschlag unternehmen sollte. Es hielt Kongresse über Kongresse ab, der letzte sollte im September 1914 zu Wien stattfinden. Der Krieg überholte jedoch den Plan. Wie ist der Krieg entstanden? Die Grundwurzel ist die internationale imperialistische Konkurrenz. Es ist nicht wahr, dass die anderen Staaten Deutschland abwürgen wollten. England ist ungemein klug in seiner Politik. Es hat die Erfahrung gemacht, dass bloße Gewalt und Brutalität zweischneidig sind. Es hatte vor 150 Jahren mit allen zu Gebote stehenden Mitteln seine Herrschaft in Amerika zu behaupten gesucht. Als ihm das misslungen war, erlebte es, dass sein Handel und Verkehr mit den freien, unabhängigen Vereinigten Staaten einen großen Aufschwung nahm. Im freien Handel mit freien Völkern zu leben erwies sich ihm als das nützlichste. Das ist keine Menschlichkeit, sondern ein kluger, kaufmännischer Standpunkt. So war England auch vor dem Krieg bestrebt gewesen, Deutschland Bewegungsfreiheit größeren Stils zu verschaffen. Die Lichnowsky-Enthüllungen haben bestätigt, dass entsprechende Abkommen nur im letzten Augenblick an dem Widerstande Deutschlands gescheitert sind. Die deutschen Imperialisten haben den Abschluss der Verträge hintertrieben, weil er die Errichtung der deutschen Weltherrschaft erschwert hätte. Darum hieß es im Juli 1914: „Schnell gehandelt." In dem Morde von Sarajevo bot sich die beste Gelegenheit. Seit Beginn des Krieges habe ich trotz aller Winkelzüge diese Zusammenhänge, die jetzt ihre amtliche Bestätigung finden, vor aller Öffentlichkeit behauptet. Damals wurde ich als der böse Geist betrachtet, der Uneinigkeit und Verrat säe, als Kriegs- und Landesverräter. Als man sagte, der Kaiser, der sich in kritischer Zeit auf der Nordlandreise befand, könne unmöglich die Schuld tragen, habe ich sofort erklärt, die Schuld des Kaisers sei dadurch nur um so klarer, denn es sei ausgeschlossen, dass er in solcher Zeit verreist sei, wenn nicht vorher bereits der ganze Plan fertiggestellt gewesen sei. Sie wissen, wie ich von der Parteimehrheit wegen meines Standpunktes in der Frage der Kriegsschuld angegriffen wurde, wie die Parteimehrheit bis in die letzten Tage die deutsche Regierung in Schutz genommen und mit den Schuldigen gemeinsame Sache gemacht hat. Die Mehrheit, ja, die Regierung Ebert-Haase, hat noch vor wenigen Tagen bestritten, dass Deutschland einen früheren Frieden hätte schließen können. Dem stelle ich folgende Tatsachen entgegen: Sie alle kennen Dr. Karl Peters, der sicher kein Sozialdemokrat gewesen ist. Er befand sich bei Ausbruch des Krieges in England und hat vor kurzem seine Denkwürdigkeiten publiziert, aus denen sich ergibt: Im September 1914, also kaum einen Monat nach Ausbruch des Krieges, erhielt er von der englischen Regierung die Erlaubnis, nach Deutschland zu fahren. Vor seiner Abreise ersuchte ihn ein Vertreter des englischen Auswärtigen Amtes, der deutschen Regierung mitzuteilen, dass England bereit sei, einen Frieden abzuschließen auf der Grundlage des Status quo. Bis zum Dezember 1916, also durch 2¼ Jahre, konnte Peters diese wichtige Mitteilung dem deutschen Auswärtigen Amt amtlich nicht machen, d. h., er wurde amtlich zurückgewiesen, weil die Herren im Auswärtigen Amt ihn nicht hören wollten. Im April 1915 ereignete sich folgendes: Vom holländischen Unterstaatssekretär Dresselhuis wurden die Herren Professor Schücking und Tepper-Laski beauftragt, dem Auswärtigen Amt in Berlin eine deutsch-englische Friedensbesprechung vorzuschlagen. Nach der eigenen Darstellung des Staatssekretärs Zimmermann, die er in der Budgetkommission des Reichstages im Frühling 1916 gab, spielte sich das weitere so ab: Zimmermann fragt die beiden Herren: „Wird der englische Herr im amtlichen Auftrag von Sir Edward Grey zu mir kommen?" Professor Schücking erwiderte: „Nicht im amtlichen Auftrag von Sir Edward Grey, aber im Auftrag einer im Londoner Auswärtigen Amt einflussreichen, wirklich sehr einflussreichen Persönlichkeit." Zimmermann fragte noch einmal: „Ich frage Sie, kommt der Herr im amtlichen Auftrag von Sir Edward Grey?" Professor Schücking und Tepper-Laski wiederholten ihre früheren Worte. Daraufhin entgegnete Zimmermann nach seiner eigenen Darstellung: „Dann empfange ich den Herrn nicht." Noch in derselben Sitzung der Budgetkommission bemerkte derselbe Zimmermann mit Bezug auf die deutsche Fühlungnahme mit Japan: Selbstverständlich dürfe man sich die künftigen Friedensverhandlungen nicht so vorstellen, dass sofort amtliche Vertreter der Regierung miteinander in Verbindung treten würden: Stets würden nichtamtliche oder halbamtliche Besprechungen vorangehen müssen! England hatte damals Deutschland nicht nur den Status quo bewilligen, sondern darüber hinaus koloniale Zugeständnisse machen wollen, auch eine Kriegsentschädigung für Deutschland als diskutabel bezeichnet. Die schroffe, ablehnende Haltung Zimmermanns erklärte sich aus den Eroberungsplänen, die damals bis in die Reihen der Mehrheitssozialisten in ganz ungenierter Weise verfolgt wurden. Daraus erklärt sich auch nur, dass die damaligen Mitteilungen Zimmermanns von den Mehrheitssozialisten Ebert, David, Scheidemann u. a. als eine Rechtfertigung der Regierung angesehen und ausposaunt wurden. Kennzeichnend ist auch, dass wiederum in der gleichen Sitzung die überwältigende Mehrheit der Kommission eine Äußerung des englischen Ministers Burns aus dem Juli 1915, wonach ein sofortiger Friede mit Deutschland möglich sei, aber Belgien „no bargain object" (kein Handelsobjekt) sein dürfe, als einen Beweis dafür betrachtete, dass England keinen Frieden wolle, ja einen solchen Standpunkt geradenwegs als eine englische Unverschämtheit bezeichnete. Genossen, Freunde! Sie wissen, wie man die wenigen, die sich in jener Zeit der allgemeinen Raserei entgegen warfen, verleumdete und bedrohte. Nicht ein Tag verging, an dem mir nicht die wildesten Flüche und Beleidigungen entgegen geschleudert worden wären. Allmählich erkannte ein immer größerer Teil der Bevölkerung die Richtigkeit unseres Standpunktes, und nun wurden wir gerühmt und gepriesen. Aber es war wahrlich nicht unser Verdienst – ein beträchtlicher Teil einfachster Arbeiter hat trotz alledem dem Kriegswahnsinn von vornherein standgehalten. Er war es, der uns stützte, ihm gebührt das ganze Verdienst. Welche Haltung hatten wir als Sozialdemokraten gegen den Krieg einzunehmen? Grundlegend ist der Beschluss des internationalen Kongresses von Stuttgart aus dem Jahre 1907, wonach im Falle eines Krieges das Proletariat alle Kraft einzusetzen hat, um den Frieden zu erzwingen und um die durch den Krieg geschaffene Lage zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und ihrer Ersetzung durch die sozialistische auszunutzen. Dieser Grundsatz ist für einen jeden Sozialisten selbstverständlich. Denn der Krieg ist nicht eine zufällige Erscheinung, sondern er wurzelt im Wesen des Imperialismus. Nur die Ausrottung dieser Wurzel kann zu einem menschenwürdigen Frieden und kann zu einem dauernden Frieden führen. Daraus folgt die Notwendigkeit, dem Krieg, der nichts ist als eine ungeheure Krisis des internationalen Kapitalismus, den Klassenkampf des Proletariats entgegenzusetzen mit dem Ziel der Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dass eine derartige Politik des rücksichtslosen Klassenkampfes gegen den Krieg von den herrschenden Klassen verworfen und bekämpft wird, ist natürlich. Es handelt sich um nichts mehr und nichts weniger als um die Aufhebung ihrer bisherigen Herrschaft. Der Proletarier aber, der sich ihr nicht anschließt oder sie gar verlästert, ist ein Totengräber an der Zukunft des Proletariats. Welchen Charakter trägt die jetzige Revolution? Es handelt sich zum großen Teil um eine politische Empörung speziell gegen den Krieg. Sie ist unmittelbar entzündet worden durch die Befürchtung der Marine, dass nach dem Zusammenbruch der Landfronten die Admiralität den Krieg auf eigene Faust fortsetzen wolle. Daraus erwuchsen die Meutereien der im Innern Deutschlands stehenden Truppen. Die Arbeiterschaft drängte seit langem immer stürmischer voran. Auch bürgerliche Kreise haben mitgewirkt inner- und außerhalb des Heeres; das sind jedoch höchst unzuverlässige, höchst verdächtige Elemente. Die Soldaten dürfen nicht vergessen, wie bedeutsam die Rolle der Arbeiterschaft war. Die Fronttruppen waren an der Revolution nicht aktiv beteiligt. Welche Machtgrundlage hat gegenwärtig die Revolution? Zunächst fragt sich, welche Revolution? Denn die jetzige Revolution hat mehrere sehr verschiedene Inhalte und Möglichkeiten. Sie kann sein und bleiben wollen, was sie bisher war: eine Friedens- und eine bürgerliche Reformbewegung. Oder sie kann werden, was sie bisher nicht war: eine proletarisch-sozialistische Revolution. Auch im ersten Falle wird das Proletariat ihre wichtigste Stütze sein müssen, wenn sie nicht zur Posse werden soll. Aber das Proletariat kann sich mit diesem bürgerlich-reformerischen Inhalt nicht begnügen. Es muss, soll nicht auch das bisher Errungene wieder verlorengehen, zur sozialen Revolution voranschreiten: Die welthistorische Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit hat begonnen. Hat das Proletariat heute die Macht in Händen? Es sind Arbeiter- und Soldatenräte gebildet; aber sie sind keineswegs der Ausdruck eines vollkommen klaren proletarischen Klassenbewusstseins. Offiziere, vielfach hochfeudale, sind in sie gewählt. Unter den Arbeiterräten befinden sich Angehörige der herrschenden Klassen. Das ist beschämend! Nur Arbeiter und proletarische Soldaten oder solche Männer und Frauen, die durch ein Leben der Aufopferung und des Kampfes sich vor dem Proletariat legitimieren können, gehören in die Arbeiter- und Soldatenräte. Alle andern gehören jetzt nicht an entscheidende Stellen. Es bleibt nichts übrig als dieser klare Machtstandpunkt gegenüber den herrschenden Klassen, die dem Proletariat so lange ihren Willen aufgezwungen haben. Nur das Proletariat selbst kann sich befreien! Wie viele Arbeiter- und Soldatenräte lassen an Klarheit und Ehrlichkeit alles zu wünschen übrig! Ich meine alle die, die gestern noch die Revolution begeiferten und heute für sie eintreten. Da sind die Feigen, die aus Angst schleunigst die Waffen streckten. Da sind die Schlauen, die gute Miene zum bösen Spiel machen, um sich so möglichsten Einfluss zu bewahren, und auf den ersten günstigen Moment lauern, um der Revolution in den Rücken zu fallen: Das sind die Gefährlichsten und Zahlreichsten. Da sind schließlich die Wohlmeinenden, die gleichfalls alles andere als Vertrauen verdienen. Weder die Feigen noch die Schlauen, noch die Wohlmeinenden gehören in die Arbeiter- und Soldatenräte! Die bisherige Zusammensetzung der Räte zeigt die Wurzel des Übels: dass die Massen der Arbeiter und Soldaten politisch und sozial noch nicht genügend aufgeklärt sind. Eine der Hauptursachen der Verwirrung der Massen ist die Politik der Mehrheitssozialisten, die bis unmittelbar vor Ausbruch der Revolution in der raffiniertesten und unverantwortlichsten Weise jeder Aufklärung entgegengewirkt haben. Konnte man von der Revolution überrascht sein? Wer seine Politik nach der Stuttgarter Resolution richtete, der musste sie kommen sehen, der musste sie vorbereiten helfen mit allen Kräften. Die Mehrheitssozialisten freilich haben sie verleugnen wollen, selbst als sie schon da war; haben sie nicht gefördert, sondern begeifert, noch am Morgen des 9. November. Das soll nicht vergessen werden. Wir hatten durch Flugblätter, die unsere Unterschrift trugen, für den 9. November, 8 bzw. 9 Uhr morgens, zur Niederlegung der Arbeit und zu bewaffnetem Aufstand aufgefordert. Um diese Aktion zu durchkreuzen, beriefen die Mehrheitssozialisten für 10 oder 11 Uhr Vertrauensmännerzusammenkünfte in den Fabriken. So hofften sie ein geschlossenes Vorgehen der Arbeitermassen hintertreiben zu können. Aber der Streich misslang, und als am Nachmittag die Revolution vollbracht war, knüpften auch sie sich die rote Binde um den Arm und begannen um uns zu scharwenzeln. Ich frage, kann man ihre Bereitwilligkeit, für die Revolution zu arbeiten, viel anders einschätzen als die Bereitschaft irgendwelcher bürgerlichen Parteigänger, die sich der Lage gefügt haben? Man hat mich gefragt, warum ich nicht in die Regierung eingetreten bin. Die Antwort ist einfach. Ich stellte – unter anderem – zur Bedingung, dass die gesetzgebende, ausübende, richterliche Gewalt ausschließlich in den Händen der Soldaten- und Arbeiterräte sein und bleiben müsse. Diese Bedingung wurde von den Mehrheitssozialisten abgelehnt. Man suchte mich zu bewegen, mit mir handeln zu lassen. Ich lehnte jede Konzession ab. Kurzum, ich bin nicht in die Regierung eingetreten, weil ich für sie, für die Arbeiter- und Soldatenräte, die allein entscheidende politische Macht forderte. Besitzen die Arbeiter- und Soldatenräte gegenwärtig wirklich alle politische Macht? Von vornherein sind nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen, sondern auch viele politische Machtpositionen in den Händen der herrschenden Klassen geblieben. Und was sie davon verloren hatten, haben sie mit Hilfe der jetzigen Regierung zum größten Teile wiedergewinnen können: Die Offiziere sind wieder in ihre Kommandogewalt eingesetzt, die alte Bürokratie hat ihre Funktionen wieder übernommen – unter Kontrolle zwar, aber unter einer Kontrolle, deren Wirksamkeit notwendig mehr als zweifelhaft ist: denn der kontrollierende Proletarier wird von dem geriebenen Bourgeois im Handumdrehen über den Löffel barbiert. Die soziale Machtposition der höheren Bildung, die die herrschenden Klassen besitzen, hat auch unseren Genossen in Russland große Schwierigkeiten bereitet. Als teilnehmende Hilfskräfte sind Angehörige der herrschenden Klassen vorläufig vielfach noch unentbehrlich. Sie sind verpflichtet, sich in den Dienst der Revolution zu stellen. Ihnen aber Macht anzuvertrauen heißt die Revolution schwer gefährden. Jetzt kommen die Generäle mit ihren gewaltigen Armeen von der Front ins Innere gezogen. Sie treten auf wie Cäsaren an der Spitze ihrer Legionen, verbieten, rot zu flaggen, heben die Soldatenräte auf usw. Noch allerhand haben wir von ihnen zu gewärtigen, am Ende auch einen Versuch, uns wieder mit dem edlen Hohenzollerngeschlecht zu beglücken. Würden diese ungeheuren Armeen von revolutionärem Geist durchdrungen sein, sie könnten nicht in der infamen Weise missbraucht werden, wie dies gegenwärtig geschieht. Aber die „sozialistische" Regierung hat die erste und dringendste Pflicht, diesen Geist unter den Fronttruppen zu verbreiten, schnöde vernachlässigt, statt dessen eifrig mit dem roten Tuch geschwenkt, Hass gegen „Bolschewismus" gesät und so die Soldatenmassen den von ihr selbst wieder in die Kommandogewalt eingesetzten Todfeinden der Revolution, den Offizieren, um so wehrloser ausgeliefert. Durch die Fronttruppen, die infolge der Waffenstillstandsbedingungen und ihrer Folgen chauvinistisch neu gefährdet sind, eine Flut der Gegenrevolution über Deutschland zu bringen – das ist der raffinierte Plan, den man verfolgt. Mit äußerster Rücksichtslosigkeit müsste dagegen eingeschritten werden. Die Generäle müssen sofort beseitigt, die Kommandogewalt sofort wieder aufgehoben, alle Armeen von Grund auf demokratisch organisiert werden. Man sagt, dies sei unmöglich wegen der Schwierigkeiten der Demobilisation. Weit gefehlt! Vertrauen wir auf die revolutionäre Selbstdisziplin der deutschen Soldatenmassen. Sie werden, wenn sie durchglüht sein werden vom Feuer der revolutionären Begeisterung, spielend praktische Probleme lösen, die in normalen Zeiten unlösbar scheinen. Der Glaube kann Berge versetzen, und wo ein Wille ist, ist ein Weg. Vor allem aber frage ich: Ist ein geordneter Rückmarsch der deutschen Truppen wichtiger als die Revolution? Ist es nicht heller Wahnsinn, um der „Ordnung" und „Ruhe" willen den Todfeinden der Revolution Machtmittel in die Hand zu geben, die die gesamte Revolution in ihren Grundlagen bedrohen? Wie immer man die Frage betrachtet: Die Wiederherstellung der Kommandogewalt war ein Axthieb in das Mark der Revolution. Ihr vor allem ist zu verdanken, dass die Errungenschaften der Revolution vom 9. November bereits zum großen Teil wieder verlorengegangen sind, die dem Proletariat rasch in die Hände gefallene Macht zum guten Teil wieder an die herrschenden Klassen zurückgefallen ist. Es fragt sich: Was ist weiter zu tun? Welche Aufgabe hat das Proletariat in dieser Lage? Die Aufgabe des Proletariats kann nicht sein, einen menschenunwürdigen, einen Erdrosselungsfrieden mit den ausländischen Imperialisten abzuschließen. Ein solcher Friede ist nicht nur unerträglich, sondern auch nur ein Friede des Augenblicks, aus dem notwendig neue Kriege hervorgehen. Das Ziel des Proletariats muss sein ein Friede der Wohlfahrt und Freiheit aller Völker, ein dauernder Friede. Ein solcher Friede kann jedoch nur gegründet werden auf den revolutionären Willen, die siegreiche Tat des internationalen Proletariats, auf die soziale Revolution. Kann sich das Proletariat mit der Beseitigung der Hohenzollern begnügen? Nimmermehr! Die Aufhebung der Klassenherrschaft, der Ausbeutung und Unterdrückung, die Durchführung des Sozialismus – das ist sein Ziel. Die heutige Regierung nennt sich sozialistisch. Bisher hat sie jedoch nur zur Erhaltung des kapitalistischen Privateigentums gewirkt. Die von ihr eingesetzte Sozialisierungskommission, die bis heute noch nicht einmal zusammengetreten ist, ist in ihrer ganzen Zusammensetzung eine Kommission gegen die Sozialisierung, zu ihrer Verschleppung. Statt Verschleppung ist jedoch hier gerade schnelles, energisches Handeln nötig. Gewiss, die Sozialisierung der Gesellschaft ist ein langer, schwieriger Prozess. Aber die ersten energischen Eingriffe sind sofort möglich. Gleich in den ersten Tagen der Revolution hätte die Regierung sie unternehmen müssen. Statt dessen hat sie bis heute noch nicht einmal die Krongüter der Potentaten konfisziert. Die Großbetriebe sind zur Enteignung längst reif. Die Rüstungsindustrie wollte schon 1913 der Reichstag verstaatlichen. Die kriegswirtschaftlichen Maßnahmen der letzten vier Jahre haben gezeigt, wie schnell tiefste Eingriffe in das kapitalistische Wirtschaftsgetriebe vorgenommen werden können, und zwar ohne dass Desorganisation die Folge wäre. Und die Kriegswirtschaft bietet technisch brauchbare Handhaben zur Sozialisierung. Kein ängstliches Schwanken, sondern festes Zugreifen auch hier. So werden alle Schwierigkeiten auch hier am besten überwunden. Die Regierung hat den achtstündigen Arbeitstag proklamiert, eine völlig unzureichende Maßnahme in heutiger Zeit! Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist weder dadurch noch durch andere Anordnungen gemildert worden. Die Unternehmer haben sich über alles hin weggesetzt. Der Kampf ist entbrannt – mit elementarer Kraft. Streiks, Streiks, Streiks überall. Betriebseinschränkungen und völlige Einstellungen stehen bald bevor. Die Arbeitermassen werden sich nicht willig aufs Pflaster werfen lassen. Der Konflikt geht an den Kern des Lohnsystems. Nur die tatkräftige Inanspruchnahme der Sozialisierung der Wirtschaft und die Aufrechterhaltung, der Ausbau, die Sicherung der ausschließlichen Macht des Proletariats, der Arbeiter- und Soldatenräte, können Bedingungen schaffen, die eine völlige Desorganisation des Wirtschaftslebens vermeiden. Auch die Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Neuaufbaus können nur überwunden werden durch Entfesselung des vollen eigenen Interesses der Arbeitermassen an diesem Neuaufbau; auch hier heißt das erlösende Zauberwort: Sozialisierung der Gesellschaft, Ausrottung des Kapitalismus. Auch hier kann nur eines retten: die soziale Revolution. Die Unternehmer denken nicht daran, ihre Klassenherrschaft freiwillig aufzugeben. Nur im Klassenkampf können sie niedergezwungen werden. Und dieser Klassenkampf wird und muss über die jetzige Regierung hinweggehen, die nicht wagt, gegen das Kapital fest aufzutreten, dagegen den Arbeitern Tag für Tag Ruhe, Ordnung, Verwerflichkeit des Streiks predigt. Das deutsche Proletariat kann keinen Wilsonfrieden schließen, sondern nur einen sozialistischen Frieden. Es kann sich mit keiner bürgerlich-demokratischen Reform begnügen; es will und braucht die Aufhebung des Kapitalismus. Nur das Proletariat kann die Schwierigkeiten der Demobilisierung lösen – aber nur durch reine, durch proletarische Demokratie der Armee. Nur das Proletariat kann die Schwierigkeiten des Neuaufbaues der Friedenswirtschaft lösen – aber nur durch die von der Macht der Arbeiter- und Soldatenräte durchzuführende Sozialisierung. Nur unter einer Voraussetzung wird das deutsche Volk auch die Nöte ertragen können, die ihm in den nächsten Monaten nicht erspart werden: nur unter der Voraussetzung, dass es selbst Herr seiner Geschicke ist und Staat und Wirtschaft seine eigenen Angelegenheiten sind. Die Ausrottung des Kapitalismus, die Durchführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist nur international möglich – aber sie setzt sich naturgemäß nicht gleichzeitig in allen Ländern durch. In Russland hat das Werk begonnen, in Deutschland muss es fortgesetzt, in den Ententeländern wird es vollendet werden. Nur der Weg der sozialen Weltrevolution führt auch aus den furchtbaren Gefahren, die Ernährung und Rohstoffversorgung Deutschlands bedrohen. Das deutsche Proletariat baut seine Hoffnungen auch hier nicht auf den Flugsand Wilsonscher Gnade, sondern auf den Felsen der internationalen proletarischen Solidarität. Man bezweifelt, ob die Revolution in Frankreich, England, Italien, Amerika kommen werde, weil sie bisher nicht gekommen ist. Am 9. November war die deutsche Revolution, heute ist der 27. November! Wie können wir, die wir die russische Revolution ein Jahr lang haben warten lassen, wie können wir so unbescheiden sein zu verlangen, dass die Ententevölker auf die deutsche Revolution schon nach ein paar Tagen mit der sozialen Revolution antworten? Aber das Proletariat der Entente, das politisch reifer und aktionsfähiger ist, als das deutsche vor der Revolution war, ist in Bewegung. Trotz allen Siegestaumels gärt und brodelt es. Der Siegesrausch wird rasch verfliegen; die Massen werden erkennen, dass sie durch den Sieg die Macht ihrer Zwingherrn gewaltig gestärkt, ihre eigenen Ketten nur fester geschmiedet haben. Vor allem bedenken wir dies: Was wir vom Ententeproletariat erwarten und brauchen, das ist die soziale Revolution, die zur Zertrümmerung des Kapitalismus führt. Die bisherige deutsche Revolution ist keine soziale, sondern bürgerlich-reformpolitischen Charakters, eine solche, wie sie die Ententevölker nicht mehr brauchen, da sie ja längst Republiken oder bürgerliche „Demokratien" haben. Wie kann die bisherige deutsche Revolution, wie kann die jetzige deutsche Regierung, die der russischen des Fürsten Lwow oder höchstens Kerenskis entspricht, in Frankreich, England usw. die soziale Revolution auslösen? Erst muss das deutsche Proletariat seine soziale Revolution vollbringen oder doch tatkräftig beginnen – dann erst kann und wird die soziale Revolution der Ententevölker antworten. Nehmen wir an, die Wilson und Genossen würden mit einer deutschen Regierung der Arbeiter- und Soldatenräte keinen Frieden schließen, in Deutschland intervenieren wollen usw. – das wäre der Moment, wo die Flamme der Revolution in die anderen Länder hinüber schlagen und sich unwiderstehlich ausbreiten müsste. Eine scheinsozialistische Regierung Ebert-Scheidemann, eine bürgerlich-demokratische Nationalversammlung, sie werden niemals die Proletarier der Entente zur solidarischen Tat rufen können, weil sie selbst nicht proletarisch sind; sie werden dem deutschen Volke nichts als einen Erdrosselungsfrieden des Imperialismus, neue Kriege und die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Knechtung und Ausbeutung bieten können. Was bedeutet die Auflösung der Arbeiter- und Soldatenräte in den von der Entente besetzten Gebieten anderes als ein Zeugnis für die Größe der revolutionären Ansteckungsgefahr, vor der die Entente ihre Truppen zu bewahren sucht? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, den Krieg zu liquidieren: die kapitalistisch-imperialistische und die proletarisch-sozialistische. Die erste gibt einen menschenunwürdigen Frieden des Augenblicks, dem neue Kriege folgen. Die zweite einen Frieden der Wohlfahrt und der Dauer. Die erste erhält die kapitalistische Klassenherrschaft, die zweite rottet sie aus und befreit das Proletariat. Die deutsche Arbeiterklasse hat heute die Macht in Händen oder doch die Kraft, sie zu ergreifen und zu halten. Soll sie diese Macht aus den Händen geben, soll sie sich vor Wilson beugen, soll sie auf das Geheiß der feindlichen Imperialisten kapitulieren vor ihren Todfeinden im Innern, vor den deutschen Kapitalisten, um einen Frieden der Erdrosselung zu erzielen? Oder soll sie nicht vielmehr, wie wir fordern, dem feindlichen Imperialismus genauso rücksichtslos und entschlossen die Spitze bieten wie dem einheimischen – um so einen proletarisch-sozialistischen Frieden zu erreichen? Welchem Proletarier, welchem Sozialisten kann die Wahl schwerfallen? Die soziale Revolution Deutschlands muss kommen und aus ihr die soziale Weltrevolution des Proletariats gegen den Weltimperialismus. – Sie ist die einzige Lösung auch aller der drängenden und furchtbaren praktischen Einzelprobleme, vor denen das deutsche Volk heute steht. Man muss den ganzen Bereich der kapitalistischen Welt mit ihren weiten Horizonten und grenzenlosen Perspektiven überblicken, um die Nichtigkeit der Zweifel an der Erreichbarkeit dieser Ziele zu erkennen; jene Zweifel, unter der der Kleinmut opportunistischer Kirchturmspolitik vergraben wird. Das ist's, was wir wollen. Nicht aber Mord, Plünderung, Räuberei, Anarchie, die man uns jetzt anzuhängen sucht. Diese Verbrechen sind von ebendenen, die sie jetzt uns vorzuwerfen wagen, millionenfach verübt worden; sie gehören zum Prinzip des Imperialismus, der Hindenburg und Genossen, aller derer, die für den Krieg verantwortlich sind. – Unser Streben ist Glück und Wohlfahrt, Brüderlichkeit, Freiheit und Völkerfrieden; unser Streben ist Beseitigung der kapitalistischen Anarchie, der imperialistischen Raub- und Mordwirtschaft. Die Marine hat Großes geleistet in dieser Revolution und ist berufen, noch Größeres zu vollbringen, wenn sie dieser Bahn folgt und sich nicht ablenken lässt durch die Lügen, die über uns, über „Bolschewismus" usw., verbreitet werden! Denken Sie, wie man uns früher verfolgte und wie wir trotz alledem recht behalten haben. Viel Feind – viel Ehr! Freilich, nur Begeisterung kann große Werke vollbringen. Überzeugung und Vertrauen ist nötig; Klarheit über Weg und Ziel. Sollten wir darum vor unserer Aufgabe zurückschrecken, weil sie schwer ist? Wir sehen den leuchtenden Stern, der uns die Richtung weist. Dunkel ist das Meer, stürmisch und voller Klippen. Sollen wir darum unser Ziel aufgeben? Wir halten die Augen offen und meiden die Klippen – und steuern unsern Weg – und werden zum Ziel gelangen – trotz alledem! |
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