Karl Liebknecht: Weg mit dem Henkerzaren! Zeitungsbericht über eine Rede auf der Massenversammlung in Kiel gegen den Besuch des Zaren in Deutschland [Leipziger Volkszeitung Nr. 172 vom 29. Juli 1909. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 308-317] Als Genosse Liebknecht das Podium betritt, wird er von der Versammlung stürmisch begrüßt. Die Frage des Zarenbesuchs steht nicht nur in Deutschland auf der Tagesordnung, sondern auch in Frankreich, Italien und England. Wir haben den Protest der Engländer auf dem Trafalgar Square in London gehört und kürzlich den sozialdemokratischen Protest in der französischen Kammer. Die „Kieler Zeitung" schreibt, dass der Besuch die Sozialdemokraten nichts angeht. Die „Kieler Zeitung" scheint aber der Besuch sehr viel anzugehen, denn sie bringt einen speichelleckerischen Artikel über den Zarenbesuch. Sie schreibt sogar in einem Stimmungsbild aus Eckernförde, dass der Zar von einem kleinen Herrn begleitet werde, einem Mann, der den Eindruck eines eleganten Russen mache. Das wird jedenfalls einer der Halunken sein (Stürmische Zustimmung.), dem ein halbwegs anständiger Mann nicht den kleinen Finger reicht. Nein, wir haben es hier mit einem politischen Ereignis zu tun, zu dem die Sozialdemokratie unbedingt Stellung nehmen muss, wenn sie ihre Pflicht erfüllen will. Der Einwand, den der englische Minister Grey macht, dass kein Volk sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen darf, trifft hier nicht zu. Dadurch, dass die Regierung den Zaren eingeladen hat, hat sie sich in die inneren politischen Verhältnisse Russlands eingemischt. Wir wollen aber dem Zaren entgegen rufen: Dort mag man dich einladen, wir aber wollen dich nicht sehen, du bist der Vertreter des abscheulichen Systems, das wir verachten. Wenn der Zar kommt, dann kommt er als Repräsentant des Systems, und in seinem Titel Zar repräsentiert sich die ganze russische Schmach. Die Auffassung, als ob der Zar keine Schuld habe an den russischen Verhältnissen, ist eine Auffassung, die dem ganzen Prinzip und der ganzen Auffassung des absolutistischen Regierungssystems, des Gottesgnadentums, widerspricht. Es kann doch keine größere Beleidigung geben, als zu sagen, der arme Herr sitzt da wie ein armer Greis auf dem Dache, der sich nicht zu helfen weiß. Entweder ihn trifft der Vorwurf der größten Unfähigkeit oder der größten Niedertracht. Ich bin in der Lage, ihnen nachzuweisen, dass der Zar tatsächlich persönlich für die Zustände in Russland verantwortlich ist. Bei dem großen Königsberger Prozess im Jahre 1904 entrollte Professor Reußner, einer der besten Kenner der russischen Zustände, ein schreckenerregendes Bild von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen Russlands, so dass allgemein die Auffassung herrschte, es sei Pflicht eines jeden Kulturmenschen, für Beseitigung dieser Zustände zu sorgen. Russland ist ein Pestherd ... Russland ist der Hort der europäischen Reaktion. Wenn in Russland nicht die Reaktion herrschte, würde das Dreiklassenwahlunrecht in Preußen nicht einen Tag mehr bestehen. Es wäre wirklich an der Zeit, auch gegen Russland eine politische Quarantäne zu errichten. Von Russland geht auch die politische Korrumpierung aus. Wenn uns unsere politische Polizei schon oft Gelegenheit gegeben hat, gegen ihre Taten zu protestieren, so darf nicht vergessen werden, dass Russland besonders dazu beigetragen hat, dass in Deutschland solche Zustände bestehen. Ein Musterexemplar der russischen politischen Polizei ist der bekannte Harting. Burzew, der Sozialrevolutionär, hat das Verdienst erworben, diese Spitzelgesellschaft und ihre Schandtaten aufgedeckt zu haben. („Bravo!") Es ist eine alte Erscheinung, wenn die Polizei in mehrere Abteilungen geteilt ist, dann gibt es kein gemeinsames Arbeiten, sondern die verschiedenen Abteilungen und Personen arbeiten und intrigieren gegeneinander. Ein preußischer Polizeiminister hat einmal gesagt: „Anständige Menschen arbeiten nicht für mich." (Große Heiterkeit.) Das ist ganz erklärlich. Diese Leute der politischen Polizei haben ein großes Verlangen nach Geld und nach Beförderung. Daher kommt es, dass sie dann, wenn sie nichts zu tun haben, selbst Verbrechen provozieren und hervorrufen. Wurden doch die Attentate gegen Plehwe und den Großfürsten Sergius von der Polizei gemacht. Man wollte auf alle Fälle den Schurken Asew als Vertrauensmann der revolutionären Partei halten. Ich gehe jetzt etwas näher ein auf die russischen Zustände. Im Jahre 1904, zur Zeit des Königsberger Prozesses, lagen die Verhältnisse so, dass wir von Russland als einem Lande reden konnten, in dem der Galgen herrschte und die Kosaken die Peitsche führten. Seitdem aber hat sich nichts geändert, ja, es ist noch schlimmer geworden. Das mag wundernehmen, weil danach, im Oktober 1905, das Zarenmanifest erschienen war, das Vereins- und Versammlungsfreiheit, Schutz der persönlichen Freiheit, Freiheit der Presse und ein Parlament versprach. Es kam die erste Duma. In dieser Duma gab es keinen einzigen Vertreter der argen Reaktion. Diese Dumaabgeordneten wurden bei ihrem Einzüge in den Taurischen Palast in Petersburg von der Bevölkerung mit stürmischem Jubel begrüßt; es wurde ihnen entgegen gerufen: Amnestie, Amnestie, Amnestie! Dieser Ruf hatte seinen guten Grund, schmachteten doch viele Personen, die für ein verfassungsmäßiges Regime eingetreten waren, in den Kerkern. Mit Recht sagte der liberale Führer Petrunkewitsch: „Wir können nicht eher an die Arbeit gehen, ehe nicht diejenigen befreit sind, die ihren Kampf für die Freiheit in den Gefängnissen büßen!" Die Duma glaubte noch immer, die Reaktion sei erfolgreich zurückgedrängt worden. Aber die Duma wurde, genau wie 1848 die preußische Nationalversammlung von Friedrich Wilhelm IV., mit Militärgewalt auseinandergejagt. Es kam eine zweite Duma zustande, in der immer noch zirka 80 Vertreter der äußersten Linken saßen. Und so begab es sich, dass der Zar diese Duma wieder auseinanderjagte. Dann kam ein Wahlrecht zustande, nach dem selbst unsere preußischen Junker mit sehnsüchtigen Augen schielen. (Große Heiterkeit.) Und danach war auch die dritte Duma. Es ist eine feststehende Tatsache, dass seit der blutigen Niederwerfung der russischen Revolution ein gesetzmäßiger Zustand noch nicht wieder bestanden hat. In der Gegenrevolution wird auch gesetzlich gearbeitet, aber mit Ausnahmegesetzen. Es gibt in ganz Russland keine einzige Provinz, in der nicht irgendwie mit Ausnahmegesetzen regiert wird. Die Beamten sind berechtigt, nach Willkür mit allen politischen Rechten der Bevölkerung Schindluder zu treiben. Ja, wo das Kriegs- und Standrecht existiert, wird das Recht von einem General ausgeübt, und selbst Zivilvergehen werden nach dem Kriegsrecht abgeurteilt. Deshalb die ungeheure Zahl von Hinrichtungen und in den Gefängnissen schmachtenden Personen. Es ist richtig, dass seit 1905 die Zahl der in den Gefängnissen befindlichen Personen von 85.000 auf 181.000 gestiegen ist. Raum aber haben die russischen Gefängnisse nur für 107.000 Personen. („Pfui!") Im Gefängnis zu Jekaterinoslaw, das nur 305 Gefangene fasst, befinden sich 1200, darunter 500 Typhuskranke. („Pfui! Pfui!") Zu den 181.000 Personen kommen noch 30.000, die sich auf dem Transport befinden, 50.000 bis 100.000, die in Polizeiarrest sitzen. Aus dieser Überfüllung ergeben sich die schauerlichsten Zustände. 60 Prozent der Gefangenen leiden an Typhus („Pfui!"), über 60 Prozent an Skorbut. Die Schwindsucht fordert in den Gefängnissen ungeheure Opfer. Ist es da ein Wunder, dass die Gefangenen versuchen, die Missstände zu beseitigen, dass sie zu entfliehen suchen, selbst unter Anwendung von Gewalt, ja, dass sie zum Hungerstreik greifen! Die russische revolutionäre Bewegung war bis zu dem Jahre 1904 bis 1905 eine Bewegung, die hauptsächlich von den Intellektuellen getragen wurde. Das ist anders geworden seit der blutigen Niederwerfung der Revolution. Seitdem haben sich die Intellektuellen in großer Zahl feige gedrückt, und Krapotkin sagt, dass in den letzten Jahren die Arbeiter und Bauern in der Verbannung in Sibirien die Mehrzahl bilden. Aber die Gefängnisleitungen gehen noch weiter, sie greifen direkt zu Torturen. Als das Oktobermanifest erschienen war, geriet die Bevölkerung in einen Taumel der Begeisterung. Diese Begeisterung wurde stellenweise in eigenartiger Weise gestört. In Minsk war es der Gouverneur Kurlow, der die Teilnehmer einer Versammlung, die das Manifest feierten, bei ihrem Austritt aus dem Versammlungslokal von Militär umzingeln und auf sie feuern ließ. (Stürmischer Entrüstungsruf.) Dieser Kurlow wurde zur Belohnung dafür zum Leiter des gesamten russischen Gefängniswesens ernannt. Ist es da ein Wunder, dass so grauenhafte Zustände in den Gefängnissen existieren? Die Insassen werden in der grauenhaftesten Weise behandelt, Männern werden die Zähne ausgeschlagen, Frauen die Haare ausgerissen. („Pfui! Pfui!") Es gibt eine besondere Methode, wie man die Gefangenen um die Ecke bringt. Es wird den Gefangenen verboten, an die Fenster zu treten, und die Wachen haben den Befehl, sofort zu schießen, wenn jemand, durch die schlechte Luft gezwungen, ans Fenster tritt. Viele Gefangene sind so erschossen worden. Um Gefangene zum Geständnis zu bringen, wird ihnen der Revolver in den Mund gehalten und gedroht, dass geschossen werde, falls sie nicht gestehen. In Russland herrscht die vollständige polizeiliche Willkür. (Zurufe: „Kiel! Kiel!") Parteigenossen, wir wollen uns augenblicklich mit den Verhältnissen in Russland beschäftigen. Wir haben leider als Preußen die traurige Genugtuung, dass es viele Parallelen zwischen Preußen und Russland gibt. („Sehr richtig!") Über die Zahl der Hinrichtungen ist eine Statistik gemacht worden, die aber nur die Zivilpersonen betrifft. Sie beträgt seit 1905 2118. Dazu kommen aber dann noch die militärischen Hinrichtungen, die auch ein halbes Tausend betragen. Aber das sind noch lange nicht alle, es kommen dazu die auf der Straße, auf dem Transporte Erschossenen, die bei den sogenannten Strafexpeditionen ums Leben Gebrachten. Sind doch in den Ostseeprovinzen allein von 1905 bis Mitte 1907 über 2000 Personen erschossen, dazu viele Bauernhöfe niedergebrannt worden. („Pfui!") Wenn sich unsere Genossen damals in der Duma auf die Zahlen Krapotkins berufen haben und der Minister des Innern dabei meinte, die Zahlen seien übertrieben, so dürfen wir bestimmt behaupten, dass sie noch viel höher sind. Hekatomben von Menschen sind geopfert worden, Ströme von Blut sind geflossen. Wenn es im Jahre 1904 in Russland Zustände gab, vor denen sich jeder halbwegs anständige Mensch bekreuzigte, dann sind die Zustände heute so, dass es schwer hält, sich an die gesetzlichen Mittel zu halten, dieses System zu bekämpfen. Gegen eine solche Regierung ist jedes Mittel recht („Sehr richtig!"), es fragt sich nur, ob es zweckmäßig ist. In Warschau sind an einem Tage 16 jugendliche Personen hingerichtet worden, darunter Knaben von 15 Jahren. (Entrüstungsrufe.) Ein ganz besonderes Kapitel ist das der Verbannungen. Es gibt in Sibirien etwa 78.000 Verbannte. Die Verbannungsorte gehören zum größten Teil zu den kältesten Orten der Erde. Bekannte von mir haben bis zu 56 Grad Kälte erlebt. (Bewegung.) Daraus geht hervor, wie schwer es die Verbannten haben, sich zu erhalten. Es ist eine Lüge, dass sich die Verhältnisse nach Einführung einer Verfassung gebessert haben. Die ganze Verfassung ist eine Lüge, in Wahrheit herrscht in Russland der Galgen. Als im Jahre 1907 der Hottentotten-Reichstag gewählt war, ging ein Jubel durch die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, man glaubte, die Sozialdemokratie sei beseitigt. Am glücklichsten aber fühlte man sich in Russland. Der Reichslügenverband wurde von den „echtrussischen Leuten" in Russland ins Herz geschlossen, dem General Liebert wurde der Bruderschmatz angeboten, angeboten von den Leuten, die die Pogrome veranstaltet haben und die jetzt so bloßgestellt worden sind. Es ist festgestellt, dass der echtrussische Verband unter Führung von Dubrowin die größten Verbrechen und Attentate ausgeführt hat. Die intimste Polizei des Zaren, die sogenannte Ochrana, hat mit den Schwarz-Hundert-Leuten1 in engster Verbindung gestanden. Ein Verband, der Pogrome organisiert, der eine Anzahl von Menschen auf dem gewissen hat, der eine Anzahl von freiheitlichen Abgeordneten hat morden lassen, der die ganze Verwaltung korrumpiert, ein solcher Verband ist in der Tat der würdige Verbündete des deutschen Reichslügenverbandes. („Sehr richtig!") Es ist der Zar gewesen, derselbe Mensch, der sich jetzt auf deutschem Boden aufhält und der den deutschen Boden besudelt, der bis vor kurzem das Abzeichen des Verbandes der echtrussischen Leute auf der Brust getragen hat (Stürmische Pfuirufe.), bis der Minister dieses Abzeichen verbot, weil der Verband öffentlich zu sehr kompromittiert war. Wir haben Beweise, dass der Zar bis vor kurzem Mitglied dieses Verbandes gewesen ist. („Pfui!") Wollen wir dazu schweigen? Es muss jedem Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben, wenn er hört, dass eine russische Polizei in Deutschland ihr Wesen getrieben hat und meiner Ansicht nach noch treibt. Alle Ableugnungen glaube ich nicht. Die Zahl der russischen Spitzel in Deutschland ist gegenwärtig ungeheuer groß. Es ist ja bekannt, zu unserer Schande muss es gesagt werden, dass die deutschen Polizeibehörden russische Staatsangehörige unter dem Drucke der Androhung der Ausweisung zu Spitzeldiensten gegen ihr eigenes russisches Vaterland pressen wollten. (Stürmische Pfuirufe.) Der Fall, wo der Kriminalkommissar Schöne das an einem russischen Kaufmann in Berlin versucht hat, ist ja bekannt. Das zeugt von so abgrundtiefer Gemeinheit, dass man sich gescheut hat, den Fall vor die ordentlichen Gerichte zu bringen, trotzdem Grund dazu vorhanden war. Und dieser Kriminalkommissar Schöne ist heute noch im Amte. Wenn wir Rechtsvertreter diese Beamten als Zeugen vor Gericht zitieren wollen, dann wird vom Berliner Polizeipräsidenten sofort die Genehmigung versagt, weil das Amtsgeheimnis das nicht zulasse. („Hört! Hört!") Ganz vogelfrei sind die russischen Studenten. In ihre Wohnungen wird eingebrochen, ihre Papiere werden durchwühlt, ohne irgendwelchen Grund werden sie verhaftet, nur unter der Angabe, man wolle die Ausweisung vorbereiten, und später werden sie hinausgeworfen. Werden sie von Gerichten freigesprochen, dann nimmt sie die Polizei wieder fest. Ein Fall sei hier erzählt: Als der russische Emigrant Krassikow und ein anderer Russe auf Beschluss des Gerichts aus dem Gefängnis entlassen wurden, warteten mein Bruder und ich mit einer Equipage vor dem Gefängnis. Wir wussten, dass die Polizei versuchen würde, die beiden sofort wieder festzunehmen. Als Krassikow in die Equipage stieg, tauchten zwei fragwürdige Gestalten auf; der eine legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Er darf nicht fahren!" Mein Bruder gab dem Beamten einen Stoß, setzte sich auf den Bock, und es gelang uns, die beiden zu entführen. (Lebhaftes „Bravo!") Es ist eine Tatsache, dass die eben von deutschen Gerichten Freigesprochenen sofort von der Polizei wieder verhaftet werden. (Stürmische Protestrufe.) Haben wir nicht alle Ursache, gegen so etwas zu protestieren? In Frankreich, in England, in freien Ländern kommt so etwas nicht vor, nur in Deutschland und in Russland. Deutschland ist, abgesehen von Russland, das einzige Land, in dem solche Zustände noch in solchem umfangreichen Maße herrschen. Die Krone von Speichelleckerei, Liebedienerei usw. hat Deutschland sich aufs Haupt gedrückt, und in Deutschland wieder ist es Preußen, das voran ist. Es ist eine Pflicht des deutschen Proletariats und des Proletariats aller anderen Länder, gegen den Besuch des Zaren zu protestieren. („Sehr richtig!") Ich habe Ihnen ein Bild von den Zuständen in Russland und ein Bild von den Zuständen, unter denen die Russen in Deutschland leben, entrollt. Die preußische Polizei bemüht sich offenbar, den Russen die Meinung beizubringen, dass es in Russland gar nicht so schlimm sei. Wir haben gesehen, wie man ihnen, soweit sie in irgendeiner Weise Vorkämpfer der russischen Freiheit sind, soweit sie nur irgendwie sympathisieren mit einer nur einigermaßen demokratischen Partei, das Leben in Deutschland zur Hölle macht. In dem Dresdner Prozess hat der Vorsitzende gesagt, dass die Angeklagten die deutsche Gastfreundschaft verletzt hätten. Diese Gastfreundschaft ist ein Hohn auf Gastfreundschaft, ist eine ewige Drangsal, ein Hetzen von Ort zu Ort. Aber der Abschaum aller Menschheit, die Spitzel, die Harting, Asew und Konsorten, werden in Deutschland mit offenen Armen aufgenommen. (Stürmische Entrüstung.) Im Namen des deutschen Volkes darf man das als eine Schmach und Schande bezeichnen und verlangen, dass man diese Kreaturen aus dem Lande wirft und die wahrhaft anständigen Russen, die ihr Leben mit dem Kampf um das Glück ihres Volkes ausfüllen, herein ruft Der Zar ist kein Vertreter des russischen Volkes, er ist ein Vertreter der Pogrombanditen, der Verantwortliche der Blutschuld in Russland. Der russische Zar, der jetzt in Deutschland bewacht wird von deutschen Soldaten – die Soldaten sind zu dem schmachvollen Dienst kommandiert –, er ist der Zar des Galgens und der Gefängnisse, der Verbannungen und der Spitzelei. (Stürmischer Beifall.) Er kommt ja auch wie ein Dieb in der Nacht nach Deutschland. („Sehr gut.") Nicht Ross noch Reisige schützen die steile Höh, wo Fürsten stehen. (Stürmisches Gelächter.) In seinem eigenen Lande darf er sich schon gar nicht sehen lassen, aber auch hier muss er mit allen Mitteln bewacht werden. Eine ungeheure Masse von Spitzeln treibt sich zu diesem Zwecke herum, und es sind sicher auch hier einige Dutzend in der Versammlung. So kommt ein Fürst in die deutschen Lande! Er ist der Vertreter der Regierung Russlands, und die ihn empfangen, vertreten nur die deutsche Regierung und nicht das deutsche Volk. Wir erklären es des deutschen Volkes für unwürdig, dass der Vertreter einer Regierung, wie sie in Russland besteht, seinen Fuß auf deutschen Boden setzt. Es ist notwendig, dass wir uns klar sind über den Charakter des Zarismus. Es ist notwendig, dass wir den Hass und die Empörung gegen den Zarismus, die in uns lohen, zum Ausdruck bringen, dass wir der deutschen Bevölkerung zum Bewusstsein bringen, dass der Kampf auch geführt werden muss gegen die preußische Reaktion, die ihre Stütze in der russischen hat, dass eine politische Quarantäne gegen Russland errichtet wird. Nieder mit dem Zarismus! (Stürmischer, immer wieder einsetzender Beifall, der schließlich in ein dreimaliges Hoch auf den Referenten ausklingt.) 1 Mit der Bezeichnung „echtrussische Leute" meint Liebknecht die Mitglieder des „Verbandes des russischen Volkes", einer 1905 zum Kampf gegen die Revolution gegründeten monarchistischen Schwarzhunderterorganisation in Russland. An der Spitze dieses hauptsächlich aus Gutsbesitzern, Kaufleuten, Polizeibeamten, Kulaken und Priestern bestehenden konterrevolutionären Verbandes standen I. Dubrowin, N. E. Markow II. und (bis 1907) W. M. Purischkewitsch. 1907 spaltete sich, hervorgerufen durch Streitigkeiten in Fragen der III. Staatsduma, ein neuer reaktionärer Verein ab, der „Verband des Erzengels Michael", geführt von W. M. Purischkewitsch. Schwarzhunderter, bewaffnete Banden, gegründet 1905–1907 durch die zaristische Polizei und monarchistische Organisationen. Sie ermordeten revolutionäre Arbeiter und Angehörige der Intelligenz, organisierten Judenpogrome und terrorisierten die nationalen Minderheiten. |
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