Karl Liebknecht: Gegenüber der Reaktion auf einen Schelm anderthalbe! Zeitungsbericht über eine Rede in der Massenversammlung in Berlin anlässlich der Rückkehr aus der Festungshaft [Vorwärts Nr. 127 vom 4. Juni 1909. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 265-267] Parteigenossen! Sie können sich denken, dass ich der heutigen Veranstaltung mit etwas eigenen Gefühlen gegenüberstehe. Zunächst einmal, weil ich der Menschheit ein klein bisschen entwöhnt worden bin und mich nun plötzlich einer gewaltigen Menschenmenge gegenüber sehe, die mir mit ihrer Liebenswürdigkeit so herzlich entgegentritt. Aber auch etwas anderes ist es, was mich bei dieser Festlichkeit ein klein wenig beunruhigt. Parteigenossen! Ich behaupte, dass etwas Unrecht geschieht, wenn mit mir ein so großes Wesen getrieben wird. Ich behaupte, Parteigenossen, wenn ähnliches, wie es mir geschehen ist, in Russland geschehen wäre oder in Deutschland zur Zeit des Sozialistengesetzes, wäre kein so großes Aufheben gemacht worden. Ganz besondere Umstände, die mit meiner Person gar nichts zu tun haben, haben veranlasst, dass meine Prozesse eine gewisse Bedeutung gewonnen haben. Und so möchte ich die Veranstaltung nicht als meiner Person gewidmet betrachten, sondern als ein fröhliches und herzliches Bekenntnis zu der Partei. Parteigenossen! Es ist in der Zeit meiner Abwesenheit vom Kampfplatz mancherlei geschehen. Es haben Umwälzungen mächtiger und bedeutungsvoller Art stattgefunden. In der auswärtigen Politik haben ganz außerordentlich bedeutsame Veränderungen, einige Revolutionen stattgefunden; wir sahen einen Krieg dem Ausbruch nahe. Auch in Deutschland haben sich politische Veränderungen vollzogen, die von allergrößter Bedeutung sind. Das Ende der Blockpolitik ist da. Heute gibt es in ganz Deutschland nicht einen einzigen vernünftigen und ehrlichen Menschen mehr, der nicht einsieht, dass der Blockblödsinn darauf ausging, das Bürgertum gänzlich zu korrumpieren, zu blamieren und es völlig unfähig zu machen, eine politische Rolle zu spielen. Wir haben ferner erlebt, dass das Proletariat trotz der dreifachen Mauern siegreich, wenn auch in bescheidener Zahl, in das Haus der preußischen Reaktion eingezogen ist. Dass ich mit zu den im Juni vorigen Jahres Gewählten gehöre, habe ich nicht meinen persönlichen Verdiensten zuzuschreiben. Aus den Bekundungen, die ich von überall her erhalten habe, entnehme ich, dass der Prozess seinen Teil mit dazu beigetragen haben mag. Aber ich muss Vorschusslorbeeren, die mir in allzu reichlichem Maße durch Genossen Borgmann zuteil geworden sind, ablehnen. Ich möchte Sie bitten, mich mit genauso nüchternem Blick wie früher zu betrachten, wie es der Wirklichkeit entspricht. Gewiss werde ich für die Partei tun, was ich für sie tun kann, aber nur ein Schelm tut mehr, als er kann. Das eine kann ich allerdings versichern, die Herren, die glaubten, durch diesen Prozess aus mir etwas anderes machen zu können, als ich gewesen bin, haben sich geirrt. (Beifall.) Parteigenossen! In der Sozialdemokratie verschlägt die Abschreckungstheorie niemals. Je mehr man versucht, mit dem Schrecken zu kommen, desto fester wurzeln wir in unseren Überzeugungen. („Bravo!") Dass ich das, was ich als meine Überzeugung erworben habe, durch ein gegen mich gefälltes Urteil verlieren könne, über dessen schärfste Verurteilung und Missbilligung die ganze Welt einig ist, dass ich dadurch in meiner Überzeugung wankend gemacht werden könnte, ist wahrer Köhlerglaube, von dem ich annehme, dass ihn die Herren an den maßgebenden Stellen jetzt selbst nicht mehr hegen. Man müsste geradezu eine politische Wachsnase sein, wenn man durch solche Umstände, wie ich sie erduldet habe, zu anderer Auffassung gekommen wäre. So werden wir nicht erzogen. Wenn man uns erziehen will zur Freude an Staat und Verwaltung, so versuche man es durch eine Besserung der Verhältnisse des Staates, der Verwaltung. Durch Gewalt, durch Gefängnisstrafen wird man nicht einen Zollbreit von uns erringen. Ich möchte mit der Überzeugung schließen, dass in der Sozialdemokratie jetzt und ewig der Geist herrschen möge, der sich kurz dahin ausdrücken lässt: Gegenüber der Reaktion auf einen Schelm anderthalbe. (Lebhafter Beifall.) |
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