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Karl Liebknecht 19090624 Gegen den Raub sozialdemokratischer Landtagsmandate

Karl Liebknecht: Gegen den Raub sozialdemokratischer Landtagsmandate

Reden in der Berliner Stadtverordnetenversammlung

[Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, 36. Jahrgang, 1909, S. 284, 289/290. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 293-299]

I

Meine Herren, ich möchte eine andere Frage zur Sprache bringen, die hier zur Sprache gebracht werden muss, wenn sich die Bürger von Berlin nicht darüber wundern sollen, dass an der Stelle, die die nächste zur Vertretung ihrer Interessen ist, darüber geschwiegen wird.

Die Mandate der vier Landtagsabgeordneten sind kassiert worden am 19. Mai1. Es ist nun die bisher unwidersprochene Nachricht durch die Presse gegangen, dass die Neuwahlen erst im November stattfinden werden, das heißt sechs Monate nach Kassierung der Mandate. Es bedarf keiner Darlegung, dass eine so weite Hinauszögerung der Neuwahlen ein öffentlicher Skandal sein würde. Ich habe das auch im Abgeordnetenhause heute so gekennzeichnet. Allerdings enthält die preußische Verfassung keine positive Bestimmung darüber, wann bei etwaiger Kassierung von Mandaten die Neuwahlen stattzufinden haben. Es entspricht aber selbstverständlich dem Sinne der Verfassung, dass Kontinuität in der Besetzung der Mandate stattfinden soll und dass infolgedessen die Neuwahl unmittelbar nach Kassierung eines Mandats anzuordnen ist.

Wir sind uns vollständig darüber klar, welche Gründe für jene geplante Hinausschiebung der Neuwahl maßgebend sein werden, Gründe, die sich allerdings in der einseitigsten und energischsten Weise gegen die Sozialdemokratie richten. Einmal handelt es sich darum, dass offenbar die Reisebedürfnisse der wohlhabenden Wähler vor die Interessen der großen Mehrzahl der Wähler gestellt werden sollen, und in zweiter Linie handelt es sich darum, dass im Oktober ein Umzug stattfinden wird, der zweifellos zum Nachteil der proletarischen Wähler dienen wird.

Meine Herren, wir wissen ja, dass der Magistrat nicht die Stelle ist, die den Wahltermin anzuberaumen hat; aber die Nachricht in der Presse, von der ich gesprochen habe, ist von vielen Seiten als eine magistratsoffiziöse bezeichnet worden. Meine Herren, es gibt auch gewiss allerhand Verbindungen zwischen dem Magistrat und dem Ministerium. (Zuruf: „Leider nicht!") Allerdings sind ja die Herren Freisinnigen jetzt ein wenig aus den Ministercouloirs verdrängt. Jedenfalls liegt der Verdacht nicht fern, dass der Magistrat jene Auslassung vielleicht als einen ballon d'essay, einen Versuchsballon, hat steigen lassen, dass bei ihm vielleicht der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen ist. Ich möchte infolgedessen den Magistrat bitten, uns mitzuteilen, ob ihm über den Wahltermin bereits etwas bekannt ist und ob er mit dem Ministerium in Verbindung darüber getreten ist, wann der Wahltermin stattzufinden haben wird. Es würde die vier Wahlkreise auf das Äußerste empören, wenn auf die gröbliche Ungerechtigkeit, die in der Kassierung der vier Mandate liegt, die noch gröblichere Ungerechtigkeit gehäuft würde, die Neuwahlen um sechs Monate hinauszuschieben.

II

Ich kann nicht anders als mich auf diejenigen Ausführungen beziehen, die Herr Kollege Sonnenfeld vorher gemacht hat2; auf sie habe ich zu erwidern. Wenn das, was Herr Kollege Sonnenfeld gesagt hat, nicht zur Sache gehört hat, so wäre es vielleicht zweckmäßig gewesen, es ihm zu untersagen; seine Äußerungen sind aber zugelassen worden, und ich erwidere darauf.

In Bezug auf den angeblichen Terrorismus weise ich darauf hin, dass die unteren Klassen seit Jahren und Jahren, solange das preußische Dreiklassenwahlrecht besteht, stets unter dem Terrorismus der herrschenden Klassen gelitten haben, dass das Dreiklassenwahlrecht eingerichtet worden ist zum Zweck des Terrorismus, dass mit anderen Worten das Dreiklassenwahlrecht das System des Terrorismus ist. Dieses System des Terrorismus ist bisher unbeanstandet geblieben, solange es ausschließlich von den herrschenden Klassen ausgeübt wurde.

Nun handelte es sich darum, dass die unteren Klassen auch in das Dreiklassenwahlhaus hineinkommen wollten; sie haben sich endlich – und ich habe das durchaus gebilligt – gesagt: Wir werden uns hüten, ewig auf uns herum prügeln zu lassen. Es gibt auch ein Notwehrrecht, und das Notwehrrecht ist ein anständiges Recht, ein Recht, das im Gesetz anerkannt ist. Ein Notwehrrecht ist es, das die Arbeiter ausgeübt haben, wenn sie Terrorismus geübt haben sollten. Sie haben ein gutes Recht dazu, diesen Terrorismus auszuüben. (Zuruf: „Zugegeben!") Ich habe gesagt: wenn dieser Terrorismus ausgeübt ist. Ich hoffe, Sie werden das verstehen können.

Nun meine ich: Es ist sehr sonderbar, dass jemand, der nach seinem Programm Seite an Seite mit uns kämpfen sollte gegen das öffentliche Wahlrecht – in einem Falle, wo unsere Aktion, die als eine terroristische Aktion gedeutet worden ist, den ausschließlichen Zweck verfolgt, dieses Wahlrecht zu beseitigen, das Sie angeblich auch beseitigen wollen –, ein solches Geschrei über den angeblichen sozialistischen Terrorismus erhebt, während Sie in diesen ganzen Debatten nicht ein einziges Wort gefunden haben zur Verurteilung des Terrorismus der Regierung und der Parteien, denen Sie damals verschrieben waren, von denen Sie jetzt freilich hinausgeworfen sind. Das ist der Dank dafür.

Es ist in der Tat betrüblich, dass derjenige Terrorismus, unter dem ganz Deutschland seufzt, der Terrorismus der Konservativen, der Reichspartei, der Nationalliberalen, der Regierung auch in den Verhandlungen des Landtags von den Mitgliedern der freisinnigen Fraktion mit kaum einem Worte gestreift worden ist, während sie die ganze Schale ihrer Entrüstung ausgeschüttet haben über den „Terrorismus" der Sozialdemokratie, der Arbeiter, die allein in Berlin Gelegenheit hatten, vielleicht etwas Terrorismus zu üben, und denen es vielleicht dadurch gelungen ist, den Herren einige unbequeme Situationen zu bereiten.

Also, es ist klar, dass Sie gegenüber dem Terrorismus der reaktionären Parteien nicht die Stellung eingenommen haben, die Sie schon programmatisch hätten einnehmen müssen, und dass Sie nicht imstande sind, unsern Standpunkt gegenüber dem Terrorismus zu würdigen. Wenn Sie hätten gerecht sein wollen, wenn Ihnen daran gelegen wäre, unsern Standpunkt zu würdigen, so hätten Sie sagen müssen: Es ist allerdings bedauerlich, dass sich in diesem Falle der etwaige sozialdemokratische Terrorismus gegen uns richtete, aber wir müssen anerkennen, dass diese Millionen und Millionen von Proletariern wahrhaftig lange genug unter dem Dreiklassenwahlrecht geseufzt haben und dass man ihnen nicht verargen kann, wenn sie die Ruten, mit denen man sie über ein halbes Jahrhundert gezüchtigt hat, endlich nun auch einmal selbst in die Hand nehmen und versuchen, diejenigen, die sie bisher gezüchtigt haben, wieder zu züchtigen. Das wäre der Standpunkt eines freien Mannes, eines Mannes, der sich freisinnig nennt. So hätten Sie reden müssen; statt dessen haben Sie Ihre Entrüstung nur gegen die Sozialdemokraten gewendet.

Herr Kollege Sonnenfeld hat eine Interpretation des Wahlprotestes gegeben, gegen die ich mich auf das schärfste zu wenden habe. Wenn es sich in dem Sinne um einen eventuellen Protest gehandelt hätte, dass er von vornherein ungültig gewesen wäre, wäre all die Aufregung, wäre auch der Zurückzieher des Herrn Pohl gar nicht nötig gewesen. Die ganzen Vorgänge sind nur erklärlich, weil das Wörtchen eventuell in der deutschen Sprache, insbesondere bei Nichtjuristen, vielfach nur die Bedeutung einer Interjektion zu haben pflegt. (Widerspruch.)

Dann dürfte der Herr Kollege Sonnenfeld auch als Jurist wissen, dass es verschiedene Arten von Bedingungen gibt, auch eine Bedingung, die conditio in praesens genannt wird, eine Bedingung in die Gegenwart, und diese Bedingung ist nach allgemeiner Judikatur in dem rechtlichen Sinne keine Bedingung, die geeignet wäre, einen Rechtsakt als bedingt in technischem Sinne erscheinen zu lassen. Eine conditio in praesens hat hier höchstens vorgelegen. Der Mann hat gesagt: Für den Fall, dass der Einwand, den ich erhoben habe, ein vernünftiger ist, ein Einwand, der sich hören lässt, für diesen Fall, der aber jetzt schon entweder besteht oder nicht besteht, also nicht etwas ist, was erst in Zukunft ungewiss eintritt, wird der Protest erhoben. Das ist ein unbedingter Protest, und damit fallen alle weiteren Folgerungen, die Herr Kollege Sonnenfeld gezogen hat.

Ich kann nicht umhin, mit einem Worte auch einzugehen auf das, was Herr Kollege Sonnenfeld aus irgendeiner Reichsverbandszeitung am Schluss über die angebliche Moral der Sozialdemokratie vorgelesen hat. Meine Herren, in der Moral nehmen wir es immer noch mit Ihnen auf (Heiterkeit.), und es macht einen absonderlichen Eindruck, wenn jemand bei einer derartigen Debatte unbewiesene Behauptungen in Fülle in die Welt hinaus schleudert und dann sich auf ein hohes moralisches Pferd setzt gegenüber der Sozialdemokratie.

Meine Herren, was der Herr Kollege Sonnenfeld zitiert hat, ist unrichtig; es handelt sich um etwas vollständig anderes. Es handelt sich in diesen Auslassungen meines Freundes Kautsky um eine historische Untersuchung, um eine Untersuchung über die historische Gestaltung der menschlichen Ethik. Der Standpunkt, den mein Freund Kautsky in einer besonderen Schrift über „Ethik und materialistische Geschichtsauffassung" grundsätzlich eingenommen hat, ist der, dass die Ethik ein soziales Erzeugnis ist, dass sie sich innerhalb der jeweiligen menschlichen Gesellschaftsgebilde entwickelt hat. Er weist haarscharf nach, dass die ethischen Grundsätze historisch nur gegolten haben für den jeweils speziell zusammengefassten gesellschaftlichen Kreis und dass sich ethische Grundsätze gegenüber den außerhalb des Kreises stehenden Personen erst ganz allmählich im Verlauf der Zivilisation mit Erweiterung der gemeinschaftlichen Interessen herausgebildet haben. Betrachten Sie doch einmal die Bibel, das Alte Testament, dessen Ethik Ihnen vielleicht nicht ganz fern liegt! Da wird zum Beispiel der Wucher verboten gegenüber dem Juden, nicht aber gegenüber dem Fremdling. Das ist die Ethik, die Kautsky gekennzeichnet hat, und er hat dann in Anwendung auf unsere heutige Zeit gesagt: Sollte es heute eine unbedingte Pflicht geben, die Wahrheit frei zu bekennen?

Meine Herren, Herr Kollege Sonnenfeld hat mit einem Appell geschlossen, indem er sich mit Emphase der Spitzel, der Kriminalbeamten annahm, die etwa an einen Sozialdemokraten herantreten und von ihm Auskünfte über seine Partei verlangen. Meine Herren, das ist ja das Beispiel, das Kautsky anführt. Kautsky sagt: Soll denn ein Parteigenosse verpflichtet sein, einem ausfragenden Polizeibeamten oder Spitzel die Wahrheit zu sagen? (Zuruf: „gewiss!") Ja, Sie sagen das hier. (Große Heiterkeit.) Es wäre Ihnen vielleicht ganz angenehm; Sie scheinen ja eine große Freundschaft für die Spitzel zu hegen. Aber das möchte ich Ihnen sagen: Gegenüber einer so schmutzigen Gesellschaft wird man sich wohl überlegen müssen, ob man überhaupt etwas und ob man die Wahrheit sagen darf. Einer so schmutzigen Person darf ich nicht die positive Wahrheit sagen; es ist die sittliche Pflicht jedes anständigen Menschen, einen so schmutzigen Menschen vor die Tür zu werfen.

Meine Herren, seien Sie also befriedigt! Sie haben die Spitzelethik vom Herrn Kollegen Sonnenfeld verteidigt gesehen. Wir Sozialdemokraten stehen allerdings nicht auf dem Standpunkt dieser Spitzelethik; wir stehen auf dem Standpunkt, dass, wer Schmutz angreift, sich selbst besudelt und dass derartigen Elementen gegenüber, die sich durch ihr ganzes Handwerk außerhalb jeder anständigen Gesellschaft gestellt haben, im allgemeinen diejenigen Grundsätze des Anstandes nicht gelten, die anständigen Menschen gegenüber gelten. Das ist dasjenige, was Kautsky ausgeführt hat, und wer es wagt, aus diesem Standpunkt heraus der Sozialdemokratie einen Vorwurf zu machen, dem sage ich, entweder hat er diesen Standpunkt nicht verstanden, oder er ist ein Heuchler. (Beifall und Widerspruch.)

1 Bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus am 16. Juni 1908 errangen erstmalig sieben Sozialdemokraten trotz des Dreiklassenwahlrechts das Abgeordnetenmandat. Karl Liebknecht war als sozialdemokratischer Spitzenkandidat im 11. Berliner Kommunalwahlbezirk gewählt worden. Die Reaktion focht die Gültigkeit von vier sozialdemokratischen Mandaten an, indem sie der Sozialdemokratie Wahlterror und dem Berliner Magistrat eine falsche Einstufung der Wähler in die drei Steuerklassen vorwarf. Sie erreichte, dass die Mehrheit des Abgeordnetenhauses am 19. Mai 1909 die Mandate der vier sozialdemokratischen Abgeordneten kassierte. Bei den erst Ende 1909 durchgeführten Ersatzwahlen ging ein sozialdemokratisches Mandat wieder an den Freisinn verloren.

2 In der Debatte warf der freisinnige Abgeordnete Sonnenfeld der Sozialdemokratie vor, durch Boykott „Wahlterror" geübt zu haben. Die Red.

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