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Wladimir I. Lenin 19171117 Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees

Wladimir I. Lenin: Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees

17. (4.) November 1917, Protokollarische Aufzeichnungen

[„Iswestija" Nr. 218, 20. (7.) November 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 43-49]

I. Rede über die Pressefrage

Genosse Karelin hat uns versichert, dass der Weg, den er beschreitet, zum Sozialismus führe; aber so zum Sozialismus gehen, heißt rücklings vorwärtsgehen. Trotzki hatte recht: im Namen der Pressefreiheit wurde der Aufstand der Junker organisiert, wurde in Petrograd und Moskau der Krieg erklärt. Dieses Mal sind die Sozialrevolutionäre nicht als Sozialisten und Revolutionäre aufgetreten. In dieser Woche waren alle Telegraphenämter in den Händen Kerenskis. Das EK des Allrussischen Eisenbahnerverbandes war auf ihrer Seite. Aber Truppen hatten sie nicht. Es zeigte sich, dass die Armee hinter uns stand. Ein verschwindendes Häuflein begann den Bürgerkrieg. Er ist nicht zu Ende. Kaledinleute marschieren auf Moskau, Stoßtruppen auf Petersburg. Wir wollen keinen Bürgerkrieg. Unsere Truppen haben eine große Langmut an den Tag gelegt. Sie haben abgewartet, haben nicht geschossen. Zuerst sind drei unserer Soldaten von den Stoßtruppen getötet worden. Wir sind mit Krassnow milde umgegangen. Er wurde nur in Hausarrest gehalten. Wir sind gegen den Bürgerkrieg. Wenn er aber trotzdem fortdauert, was sollen wir machen? Trotzki hatte recht, als er fragte, in wessen Namen ihr redet. Wir fragten Krassnow, ob er für Kaledin bürge, dass dieser den Krieg nicht fortsetzen werde. Er antwortete natürlich, dass er das nicht tun könne. Wie sollen wir also die Verfolgungsmaßnahmen gegen den Feind einstellen, der seine feindlichen Aktionen nicht eingestellt hat?

Wenn man uns Friedensbedingungen vorschlägt, so werden wir Verhandlungen aufnehmen. Aber zunächst schlagen uns diejenigen Frieden vor, von denen der Frieden nicht abhängt. Das sind nur schöne Worte. Die „Rjetsch" ist doch ein Organ der Kaledinleute. Wir glauben gern an die Aufrichtigkeit der Sozialrevolutionäre, aber nichtsdestoweniger stehen hinter ihrem Rücken Kaledin und Miljukow.

Je fester ihr, Soldaten und Arbeiter, sein werdet, desto mehr werden wir erreichen. Im Gegenteil, man wird sagen: „Sie sind noch nicht stark, wenn sie Miljukow freilassen." Wir haben auch früher erklärt, dass wir die bürgerlichen Zeitungen verbieten werden, wenn wir die Macht übernehmen. Duldet man das Erscheinen solcher Zeitungen, so heißt das, dass man aufhört, Sozialist zu sein. Wer da sagt: „Gebt die bürgerlichen Zeitungen frei", versteht nicht, dass wir mit Volldampf dem Sozialismus entgegensteuern. Nach dem Sturz des Zarismus hat man doch die zaristischen Zeitungen verboten! Jetzt haben wir das Joch der Bourgeoisie abgeschüttelt. Nicht wir haben die soziale Revolution ausgeheckt. Sie ist von den Delegierten des Rätekongresses proklamiert worden. Niemand hat protestiert. Alle haben das Dekret angenommen, in dem sie proklamiert wurde. Die Bourgeoisie proklamierte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Arbeiter sagen: „Nicht das brauchen wir." Man sagt: „Wir treten den Rückzug an." Nein, Genossen, die Sozialrevolutionäre sind zu Kerenski zurückgegangen. Man sagt, dass in unserer Resolution etwas Neues enthalten sei. Gewiss, wir geben etwas Neues, wenn wir dem Sozialismus entgegengehen. Als die Sozialrevolutionäre in der I. und II. Duma auftraten, hat man sie ebenfalls verspottet, weil sie etwas Neues sagten.

Die privaten Inserate müssen monopolisiert werden. Die Mitglieder des Buchdruckerverbandes betrachten diese Frage vom Standpunkt ihrer engen Berufsinteressen. Wir werden ihre Interessen sichern, aber in anderer Form. Wir können der Bourgeoisie nicht die Möglichkeit geben, uns zu verleumden. Wir müssen sofort eine Kommission zur Untersuchung der Abhängigkeit der bürgerlichen Zeitungen von den Banken einsetzen.1 Welche Freiheit brauchen diese Zeitungen? Die Freiheit, eine Masse Papier zu kaufen und eine Masse Tintenkulis zu dingen? Diese vom Kapital abhängige Pressefreiheit müssen wir beseitigen. Das ist eine Frage von prinzipieller Bedeutung. Wenn wir der sozialen Revolution entgegengehen, so können wir nicht zu den Bomben Kaledins Lügenbomben hinzufügen. Mängel sind in unserem Gesetzentwurf natürlich vorhanden. Aber die Sowjets werden ihn überall entsprechend den örtlichen Verhältnissen anwenden. Wir sind keine Bürokraten und verlangen nicht, dass man sich überall genau an den Buchstaben hält, wie das in den alten Kanzleien der Fall war. Ich erinnere mich daran, wie die Sozialrevolutionäre erklärten: Wie furchtbar wenig weiß man auf dem Lande. Dort schöpft man alle Informationen aus der Zeitung „Russkoje Slowo". Wir sind schuld daraus wir die Zeitungen in den Händen der Bourgeoisie gelassen haben. Wir müssen vorwärtsschreiten, einer neuen Gesellschaft entgegengehen, und uns zu den bürgerlichen Zeitungen ebenso verhalten, wie wir uns zu den reaktionären Zeitungen im Februar-März verhalten haben.

II. Antwort auf eine Anfrage der linken Sozialrevolutionäre

Die Anfrage der linken Sozialrevolutionäre beantwortet Lenin. Er erinnert daran, dass die Bolschewiki in den ersten Tagen nach dem Umsturz den Vertretern der linken Sozialrevolutionäre angeboten hatten, in die neue Regierung einzutreten, dass aber Fraktion der linken Sozialrevolutionäre selbst, die in jenen schweren, kritischen Tagen nicht die Verantwortung mit ihren Nachbarn von links teilen wollten, die Zusammenarbeit mit den Bolschewiki abgelehnt hatte.

Die neue Regierung konnte in ihrer Tätigkeit nicht vor allen Hindernissen Halt machen, die sich ihr bei genauer Beachtung aller Formalitäten in den Weg stellen konnten. Der Augenblick war zu ernst und duldete keinen Verzug. Es durfte keine Zeit verschwendet werden, um Unebenheiten zu glätten, die nur die äußere Form betrafen, aber nichts am Wesen der neuen Maßnahmen änderten. Hat doch auch der II. Allrussische Rätekongress alle formalen Schwierigkeiten beiseite geschoben und in einer großen Sitzung zwei Gesetze von weltgeschichtlicher Bedeutung angenommen. Mögen vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft diese Gesetze formale Mängel haben, aber die Macht befindet sich doch in den Händen der Räte, die die nötigen Korrekturen vornehmen können. Die verbrecherische Passivität der Kerenskiregierung hat das Land und die Revolution an den Rand des Abgrundes gebracht. Zögern wäre hier wirklich gleichbedeutend mit Untergang. Indem die neue Regierung Gesetze erlässt, die den Hoffnungen und Wünschen der breiten Volksmassen entgegenkommen, errichtet sie Marksteine auf dem Wege der Entwicklung neuer Lebensformen. Die örtlichen Räte können die grundlegenden Bestimmungen der Regierung je nach den örtlichen Verhältnissen, je nach der Zeit modifizieren, erweitern und ergänzen. Die lebendige schöpferische Tätigkeit der Massen ist der Hauptfaktor des neuen öffentlichen Lebens. Die Arbeiter müssen an die Organisierung der Arbeiterkontrolle in ihren Fabriken und Werken gehen, müssen das Land mit Industrieerzeugnissen versorgen und sie gegen Brot austauschen. Über jedes Erzeugnis, jedes Pfund Brot muss Buch geführt werden, denn Sozialismus ist vor allen Dingen Rechnungslegung. Der Sozialismus wird nicht auf Befehl von oben geschaffen. Seinem Wesen ist der amtlich-bürokratische Automatismus fremd. Der lebendige, schöpferische Sozialismus ist das Werk der Volksmassen selbst.

III. Zwei Antworten auf eine Anfrage der linken Sozialrevolutionäre

1

Lenin geht auf die konkreten Beschuldigungen ein, die gegen den Rat der Volkskommissare erhoben worden sind. Von dem Befehl Murawjows habe der Rat der Volkskommissare erst aus den Zeitungen erfahren, da dem Oberkommandierenden das Recht erteilt worden sei, eigenmächtig Befehle zu erlassen, die keinen Aufschub dulden. Da dieser Befehl zwar nichts enthielt, was dem Geist der neuen Macht widerspricht, in seiner Fassung aber unliebsame Missverständnisse hervorrufen konnte, hat das Zentralexekutivkomitee ihn annulliert. Ferner kritisiert ihr das Dekret über Grund und Boden.2 Dieses Dekret entspricht aber den Forderungen des Volkes. Ihr werft uns Schematismus vor. Aber wo sind eure Entwürfe, Abänderungsanträge, Resolutionen? Wo sind die Früchte eurer schöpferischen, gesetzgeberischen Tätigkeit? Ihr hattet die Freiheit zu schaffen. Aber wir sehen nichts davon. Ihr sagt, dass wir Extremisten seien. Wer aber seid ihr? Apologeten der parlamentarischen Obstruktion, dessen, was man früher kleinliches Ränkespinnen nannte. Wenn ihr unzufrieden seid, dann beruft einen neuen Kongress ein. Handelt, redet aber nicht vom Zerfall der Macht. Die Macht gehört unserer Partei, die sich auf das Vertrauen der breiten Volksmassen stützt. Wenn auch einige unserer Genossen eine Stellung einnehmen, die nichts mit dem Bolschewismus gemein hat, so werden doch die Arbeitermassen Moskaus den Rykow und Nogin keine Gefolgschaft leisten. Genosse Proschjan hat erklärt, dass die linken Sozialrevolutionäre in Finnland, wo sie mit den Massen Fühlung hatten, die engste Zusammenarbeit des gesamten linken Flügels des revolutionären Sozialismus für notwendig hielten. Wenn hier aber die linken Sozialrevolutionäre sich uns nicht anschließen, so beweisen sie damit nur, dass sie hier das gleiche Schicksal ereilt hat wie ihre Vorläufer, die Vaterlandsverteidiger. Sie haben den Kontakt mit dem Volke verloren.

2

Lenin beruft sich auf das Beispiel der Parteitage, auf die Notwendigkeit, sich der Parteidisziplin unterzuordnen und erklärt, dass er an der Abstimmung teilnehmen werde.

IV. Rede und Resolution aus Anlass der Erklärung Nogins über den Austritt aus dem Rat der Volkskommissare

1

Lenin weist darauf hin, dass die Behauptung: „Der Westen bewahrt schändliches Schweigen"3 in dem Munde eines Internationalisten unzulässig ist. Nur ein Blinder kann die Gärung nicht wahrnehmen, die sich der Arbeitermassen Deutschlands und des Westens bemächtigt hat. Die Oberschicht des deutschen Proletariats, die sozialistische Intelligenz, besteht dort, wie überall, in ihrer Mehrheit aus Vaterlandsverteidigern. Aber die proletarischen Massen sind entgegen dem Willen ihrer Spitzen bereit, unserem Ruf zu folgen. Die in der deutschen Armee und Flotte herrschende grausame Disziplin hat das Auftreten oppositioneller Elemente nicht verhindern können. Die revolutionären Matrosen der deutschen Flotte, die von vornherein wussten, dass ihr Versuch zum Scheitern verurteilt war, gingen heldenmütig in den sicheren Tod, nur um durch ihren Tod den im Volke noch schlummernden Geist des Aufruhrs zu wecken. Die „Spartakusgruppe" betreibt ihre revolutionäre Propaganda immer intensiver. Der Name Liebknechts, des unermüdlichen Kämpfers für die Ideale des Proletariats, wird in Deutschland mit jedem Tag immer volkstümlicher.

Wir glauben an die Revolution im Westen, Wir wissen, dass sie unvermeidlich ist; aber auf Bestellung lässt sie sich natürlich nicht machen. Konnten wir etwa im Dezember vorigen Jahres mit Bestimmtheit die kommenden Februartage voraussehen? Wussten wir etwa im September mit Sicherheit, dass in einem Monat die revolutionäre Demokratie in Russland die größte Umwälzung der Welt herbeiführen werde? Wir wussten, dass die alte Macht sich auf einem Vulkan befand. Auf Grund vieler Anzeichen errieten wir jene gewaltige unterirdische Arbeit, die in den Tiefen des Volksbewusstseins vor sich ging. Wir fühlten, dass die Luft mit Elektrizität geladen war. Wir wussten, dass sie sich unvermeidlich in ein reinigendes Gewitter entladen werde. Aber wir waren nicht in der Lage zu prophezeien, an welchem Tage, in welcher Stunde dieses Gewitter ausbrechen werde. Dasselbe Bild wie bei uns sehen wir jetzt auch in Deutschland. Auch dort reift dieselbe dumpfe Unzufriedenheit der Volksmassen heran, die sich unvermeidlich in eine Volksbewegung ergießen wird. Wir können die Revolution nicht dekretieren, aber sie zu fördern, sind auch wir imstande. Wir werden in den Schützengräben die Verbrüderung organisieren und den Völkern des Westens helfen, die unbesiegbare sozialistische Revolution zu beginnen. Genosse Sachs sprach ferner von der Dekretierung des Sozialismus. Fordert etwa die jetzige Regierung nicht die Massen selbst zur Schaffung besserer Lebensformen auf? Der Austausch der Erzeugnisse der verarbeitenden Industrie gegen Brot, die strenge Kontrolle und Rechnungslegung in der Produktion – das ist der Anfang des Sozialismus. Jawohl, unsere Republik wird eine Republik der Arbeit sein. Wer nicht arbeiten will, soll nicht essen.

Weiter. Worin äußert sich die Isolierung unserer Partei? Darin, dass einzelne Intellektuelle sich von uns abspalten. Aber wir finden mit jedem Tage immer größere Unterstützung bei den Bauern. Nur der wird siegen und die Macht behaupten, der an das Volk glaubt, der bis auf den Grund der lebendigen schöpferischen Kräfte des Volkes untertauchen wird.

2

Das Zentralexekutivkomitee beauftragt den Rat der Volkskommissare, zur nächsten Sitzung Kandidaturen für die Posten der Volkskommissare für Inneres, für Industrie und Handel aufzustellen, und schlägt dem Genossen Kolegajew vor, den Posten des Volkskommissars für Landwirtschaft zu übernehmen.4

1 Im Archiv des Lenin-Instituts ist ein Entwurf einer veröffentlichten Resolution Lenins vorhanden über die Frage der Ernennung einer Untersuchungskommission zur Feststellung der Verbindungen der Zeitungen und Zeitschriften mit dem Kapital sowie ihrer Einannahmequellen. Diese Resolution wollte Lenin offenbar in dieser Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees einbringen.

2 Lenin meint die Erklärung A. Kolegajews: „Die neuen Gesetze sind nicht nur äußerlich mangelhaft, sondern widersprechen durchweg einander ihrem Geiste nach. So z. B. hat das Bodendekret ein für allemal das Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben, während die bald darauf erlassene Verordnung über die Landkomitees diese Frage umgangen hat."

3 Lenin meint folgende Stelle in der Rede G. Sachs', der im Namen der Fraktion der linken Sozialrevolutionäre auftrat: „Sachs sieht in dem Austritt der Volkskommissare ein Zeichen dafür, dass der übrige Teil den Kurs auf die sozialistische Revolution eingeschlagen hat. Aber indem wir die Brücke zum anderen Ufer hinter uns abbrechen, laufen wir da nicht Gefahr, uns ganz zu isolieren? Denn von keiner Seite bekommen wir bisher irgendeine wirkliche Unterstützung. Westeuropa bewahrt schändliches Schweigen. Man kann den Sozialismus nicht durch Verordnungen einführen …"

4 Die von Lenin vorgeschlagene Resolution wurde vom Allrussischen Zentralexekutivkomitee mit 30 Stimmen angenommen, wobei die linken Sozialrevolutionäre sich an der Abstimmung nicht beteiligten.

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