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Wladimir I. Lenin 19030114 Die Moskauer Subatow-Leute in Petersburg

Wladimir I. Lenin: Die Moskauer Subatow-Leute in Petersburg

[„Iskra" Nr. 31, 1. Januar 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 314-318]

In den „Moskowskije Wjedomosti" (Nr. 345, vom 15. Dezember 1902) ist ein Brief des Arbeiters S. A. Slepow „an den Verleger" veröffentlicht, den wir weiter unten in vollem Wortlaut wiedergeben. Erstens wollen wir unsern sehr verehrten „Kollegen von der Feder", den Redakteur der „Moskowskije Wjedomosti", Herrn Gringmut, der ein so interessantes Schriftstück veröffentlicht hat, etwas aufmuntern. Eine Aufmunterung aber braucht Herr Gringmut zweifellos, denn seine hochnützliche Tätigkeit – Lieferung (und Beleuchtung) von Stoff für die revolutionäre Agitation – ist in letzter Zeit irgendwie schwächer, matter geworden es ist weniger Schwung darin. Man muss sich mehr Mühe geben, Herr Kollege! Zweitens ist es für die Petersburger Arbeiter jetzt im höchsten Grade wichtig, jeden Schritt der Subatowleute zu verfolgen, die Nachrichten darüber, wie sich die Arm in Arm mit den Spitzeln marschierenden Arbeiter mit ehemaligen, gegenwärtigen und zukünftigen Generalen, Damen der Gesellschaft und „echt-russischen" Intellektuellen unterhalten, regelmäßig zu sammeln, möglichst weit zu verbreiten und allen und jedem ausführlich zu erzählen.

Hier der Brief, den wir mit einigen Anmerkungen in Klammern versehen:

Geehrter Herr! Würden Sie es nicht für möglich halten, in den von allen echt-russischen Leuten geschätzten ,Moskowskije Wjedomosti' folgendes zu veröffentlichen:

Am 10. dieses Monats fand in Petersburg, in den Räumen der ,Russischen Gesellschaft'1, eine Sitzung der Mitglieder des Rates dieser ,Russischen Gesellschaft' statt, die ausschließlich Fragen gewidmet war, die die Lebensweise der russischen Fabrikarbeiter betreffen. Von den hervorragendsten Vertretern der Petersburger Gesellschaft waren anwesend: der ehemalige stellvertretende Generalgouverneur von Warschau, General K. W. Komarow, General-Kontrolleur A. W. Wassiljew, Oberst А. P. Weretennikow, Graf Apraxin, der ehemalige Generalgouverneur von Kiew, Graf А. P. Ignatjew, Graf Р. A. Golnischtschew-Kutusow, General Sabudski, Admiral Nasimow, Mkobi Wjatscheslawitsch von Plehwe, Mitglied des Rates beim Kultusministerium I. P. Chruschtschew, Professor des Generalstabs Solotarjew, W. S. Kriwenko, Graf N. F. Heyden, General Demjanenkow, Probst Ornatski und andere Vertreter der Kirche; es waren auch Damen der Petersburger höheren Gesellschaftskreise anwesend, ferner von der Stadtverwaltung – der Bürgermeister Leljanow und der Stadtverordnete Dechterew. Von den Männern der Presse – der Redakteur des ,Swjet' W. W. Komarow, der Redakteur des ,Russkij Wjestnik', W. L. Welitschko, der Mitarbeiter des ,Nowoje Wremja' Syromjatnikow, der ehemalige Redakteur des ,Prawitelstwenny Wjestnik' K. K. Slutschewski, der Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift ,Oskolki' Leikin, der Maler Karasin u. a. – Die Sitzung wurde eröffnet mit einem Bericht über die Lage der Arbeiter der Fabriken und Betriebe. Diesen Bericht erstattete der Arbeiter I. S. Sokolow (siehe über ihn in Nr. 30 der ,Iskra', wo, auf Grund einer Mitteilung des ,Swjet', eine vollständigere Liste der Petersburger Subatowanhänger aus Arbeiterkreisen veröffentlicht ist. – Red. der ,Iskra'2). Der Berichterstatter schilderte vor allem die gegenwärtige Lage der Arbeiterklasse in den Industriestädten, ihre wirtschaftlichen und geistigen Nöte, ihr Streben nach Wissen usw. (Es ist schade, dass der Bericht des Herrn Sokolow nicht veröffentlicht worden ist! Es wäre interessant zu sehen, wie er das Streben der Arbeiter nach Wissen ,schildern' konnte, ohne von der Polizeihetze gegen dieses Beatreben zu sprechen. – Red. Der ,Iskra'.) Dann haben die Vertreter der Moskauer Arbeiter (wäre es nicht richtiger, zu sagen: die Vertreter der Moskauer Geheimpolizei? Ist nicht auch Ihre Reise, Herr Slepow, und die Reise Ihrer Kameraden nach Petersburg mit dem Gelde der Polizei bezahlt worden? – Red. der ,Iskra'), unter denen auch ich mich befand, die Ehre gehabt, an der Sitzung der ,Russischen Gesellschaft' teilzunehmen und der verehrten Versammlung über die Lage der Dinge in der Arbeiterwelt Moskaus zu berichten. In unserem Bericht haben wir vor allem im Namen der russischen Arbeiter den Mitgliedern der ,Russischen Gesellschaft' unsern tiefgefühlten Dank dafür ausgesprochen, dass sie ihren Vertretern die Möglichkeit gegeben haben, über die Lage zu berichten, in der sich die russische Arbeiterklasse gegenwärtig befindet. Weiter haben wir die Vertreter der höheren russischen Gesellschaft gebeten, der Bildung der russischen Arbeiter die größte Aufmerksamkeit zu schenken (nun, natürlich! Gerade von den höheren Klassen soll der Arbeiter Bildung erwarten – mit Hilfe der Knute wahrscheinlich! – Red. der ,Iskra'); sie befindet sich in einem durchaus nicht befriedigenden Zustande, was von böswilligen Leuten zu Zwecken der sozialistischen Propaganda ausgenutzt wird (wenn der Mangel an Bildung für die Sozialisten vorteilhaft ist, warum schließt dann die Regierung die Schulen für Arbeiter, warum schließt sie die Lesehallen? Etwas muss da nicht stimmen, Herr Slepow! Red. der ,Iskra'), wodurch nicht nur den Arbeitern, sondern dem ganzen russischen Staate Schaden zugefügt wird. – Dann haben wir uns bemüht, die Aufmerksamkeit der verehrten Versammlung auf den Umstand zu lenken, dass die Moskauer Fabrikbesitzer den Plan der Moskauer Arbeiter ablehnen, sich zu einer engen Familie zusammenzuschließen, um eigene Hilfskassen zu schaffen, die so wichtig sind für die Rettung der Arbeiter aus der auf ihnen lastenden Not. Dabei haben wir die Mitglieder der verehrten Versammlung gebeten, in Regierungskreisen die Frage eines Kredits für die Arbeiter-Hilfskassen aufzuwerfen (siehe die Rede des Nischni-Nowgoroder Arbeiters Samylin vor Gericht in Nr. 29 der ,Iskra', in der Samylin erzählt, wie er wegen seiner Teilnahme an einem ökonomischen Zirkel verhaftet wurde3. Da habt ihr eure Bildung, da habt ihr eure Kassen! – Red. der ,Iskra'). Zweifellos würde die Unterstützung der Arbeiter in ihren wirtschaftlichen Nöten die beste Widerlegung der böswilligen Propaganda in ihren Reihen sein (meint Herr Slepow – wie gut der Name zu ihm passt4 – ernstlich, dass der klassenbewusste Arbeiter um erbärmlicher Almosen willen auf sein Streben nach Freiheit verzichten wird? Die rückständige, unwissende Masse aber ,in ihren wirtschaftlichen Nöten zu unterstützen', sind selbst die höchstgestellten Beschützer der Subatowleute nicht imstande, denn eine solche Unterstützung erfordert zunächst die Änderung der ganzen Gesellschaftsordnung, die auf der Verelendung der Massen beruht. – Red. der ,Iskra'). Diese falschen ,Gönner der Arbeiter sagen immer, dass man nur durch Revolten, Empörung, Widerstand gegen die Behörden usw. das Leben bessern könne. Zu unserem Unglück hat, wie alle wissen, eine solche Hetze mitunter Erfolg. Die friedliche Besserung der Lebensbedingungen der Arbeiter widerlegt diese Agitation am besten. –- Dann hatten wir die Ehre, der verehrten Versammlung zu berichten, dass die sozialistische Propaganda in Moskau, trotz der großen Arbeitslosigkeit, in letzter Zeit ihre Wirksamkeit eingebüßt hat (wir haben aber erst vor kurzem von den ungeheuer vielen Verhaftungen in Moskau gehört! Wozu wäre es notwendig gewesen, irgend jemand zu verhaften, wenn die Propaganda ihre Wirksamkeit eingebüßt hätte?? – Red. der ,Iskra'), und zwar gerade, weil die Arbeiter beginnen, sich zu organisieren, weil sie die Gesellschaft für gegenseitige Hilfe, die Konsumgenossenschaft haben, und weil die wohlwollende Aufmerksamkeit der Behörden bereits auf die Nöte der Arbeiter gerichtet ist, denen die Möglichkeit gegeben wird, Vorträge zu Bildungszwecken usw. zu veranstalten. – Außer allem Obengesagten berichteten wir der Versammlung noch über die in Moskau vorgekommenen Fälle, in denen wir als Vermittler und Schlichter zwischen den Arbeitern und den Fabrikbesitzern auftraten und Unruhen nicht nur beilegten, sondern auch solche, die auszubrechen drohten, verhinderten, so z. B. im Hakental-Werk, im Betrieb der Gebr. Bromley, in der Dobrow-Nabholz-Fabrik. Wir haben ferner auf den Streik der Arbeiter in den Metallwerken Goujon hingewiesen, wo die Arbeiter der Walz- und der Nägelabteilung zwar die Arbeit niederlegten, aber dank unserer Einmischung keine Unruhen hervorriefen, und dann, auf unseren kameradschaftlichen Rat hin, die Arbeit wieder aufnahmen (solche ,kameradschaftlichen' Ratschläge bekommen die Arbeiter bei jedem Streik von Polizei und von den Fabrikinspektoren genug zu hören, die immer Batten, ,die Arbeit wieder aufzunehmen'. Das sind nicht kameradschaftliche, sondern polizeiliche Ratschläge. – Red. der ,Iskra').

Die Mitglieder der ,Russischen Gesellschaft' haben unsere Berichte wohlwollend angehört (warum sollten sie auch nicht wohlwollend Arbeiter anhören, die die Polizei in ihrer Arbeit unterstützen! – Red. der ,Iskra') und viele haben sich in dem Sinne geäußert, dass man die Frage der Arbeiter ernstlich überlegen und den Arbeitern die Möglichkeit und die Mittel geben müsse, sich dem Einfluss der sozialistischen Lehre zu entziehen (ein interessantes Bild: Generale und Pfaffen, Subatowspitzel und dem Polizeigeist ergebene Schriftsteller sind zusammengekommen, um dem Arbeiter zu ,helfen', sich dem Einfluss der sozialistischen Lehre zu entziehen! – und nebenbei auch zu helfen, die unvorsichtigen Arbeiter, die in die Falle gehen, abzufangen. – Red. der ,Iskra'), man müsse sie – unter der Aufsieht der Regierungsgesetze und unter Führung jenes Teiles der Intelligenz, der seine Heimat wahrhaft liebt und ihr Wohl und ihr Gedeihen anstrebt – zur Selbsttätigkeit zulassen (schöne Selbsttätigkeit unter Polizeiaufsicht! Nein, die Arbeiter verlangen jetzt bereits die Selbsttätigkeit unter der Bedingung der Nichteinmischung der Polizei, der Freiheit der Wahl solcher Intellektuellen zu ihren Führern, denen sie, die Arbeiter, vertrauen. – Red. der ,Iskra'). W. W. Komarow, A. W. Wassiljew, der Oberst Weretennikow, Herr Dechterew, der Maler Karasin, Fürst D. P. Golitzyn und viele andere haben für die Arbeiterfrage sehr viel Teilnahme gezeigt. Es wurden Gedanken geäußert über die Notwendigkeit, besondere Räte der Arbeiter mit einem Zentralrat an der Spitze zu gründen, die durch Verhinderung von Missverständnissen zwischen Arbeitern und Fabrikbesitzern segensreich wirken würden. Nach Meinung des Herrn Dechterew müsse das zugelassen werden, weil die Menge nie zielbewusst handeln kann und weil auf die Menge der Arbeiter am besten die Arbeiter selber einwirken können; als Beispiel führte er solche, in Frankreich bestehende Einrichtungen an, die die oben aufgezeigten Aufgaben mit Erfolg erfüllen (ja, die Räte der Arbeiter haben in Frankreich und in ganz Europa Erfolg. Das ist wahr. Aber sie haben darum Erfolg, weil die Arbeiter dort im Besitz der politischen Freiheit sind, weil sie ihre Verbände, ihre Zeitungen, ihre gewählten Vertreter in den Parlamenten haben. Meint Herr Dechterew wirklich, dass die Petersburger Arbeiter alle so einfältig seien, dass sie das nicht wüssten? – Red. der ,Iskrа'). – Die Frage des Regierungskredits für die Arbeiter-Hilfskassen ist von den Mitgliedern der ,Russischen Gesellschaft' ebenfalls mit Wohlwollen aufgenommen worden. Die Sitzung endete damit, dass beschlossen wurde, eine besondere Kommission zur Erörterung der Maßnahmen auf diesem Gebiet zu wählen. – Wir hoffen, dass Sie, Herr Redakteur, als echt-russischer Mann, uns Arbeitern ebenfalls wohlwollend gegenüberstehen und dass Sie gestatten, das oben Erzählte in Ihrer Zeitung mitzuteilen, damit alle unsere besten Leute sich zusammenschließen zum gemeinsamen Kampf gegen die Feinde unserer Heimat, die Wirren in die Volksmassen hinein tragen, den Samen des Bruderkampfes säen und die Ergebenheit für das durch Jahrhunderte geheiligte Vermächtnis der alten Zeit, die Achtung und Ehrfurcht vor der Obrigkeit schwächen. Wir haben den festen Glauben, dass es auch in Russland Leute gibt, die bereit sind, ihre Kräfte in den Dienst des Vaterlandes zu stellen, auf seinem Altar ihre Kräfte und Fähigkeiten zu opfern und durch einmütigen Zusammenschluss der Unwahrheit und dem Bösen in Russland ein unüberwindliches Hindernis entgegenzustellen.

Arbeiter F. A. Slepow."

Zum Schluss konnte Herr Slepow nicht umhin, sich zu verplappern! Die ganze Linderung der Nöte der Arbeiter, das ganze Wohlwollen der Regierung ist auf eins hinausgelaufen: aus Arbeitern sind Gruppen zum Kampf gegen den Sozialismus zu bilden. Das ist die Wahrheit. Und es wird für die Arbeiter sehr wertvoll sein, zu erfahren, dass neben Knute und Gefängnissen ihnen auch noch „Achtung und Ehrfurcht vor der Obrigkeit" durch die Herren Subatowarbeiter eingebläut werden soll. In öffentlichen Versammlungen wird kein vernünftiger Arbeiter das sagen, was er denkt, – das hieße sich einfach der Polizei ausliefern. Durch unsere Zeitungen, unsere Flugblätter und unsere Versammlungen aber können und müssen wir erreichen, dass der neue Subatowfeldzug nur dem Sozialismus Nutzen bringt.

1 Die „Russische Gesellschaft", von der der im Artikel angeführte Brief des Moskauer Subatow-Anhängers, des Arbeiters F. Slepow, spricht, war eine Gesellschaft in Petersburg, die die höhere Beamtenschaft und die reaktionäre Intelligenz, die Subatow in seiner „Arbeiter"-Politik unterstützte, vereinigte.

2 Die Liste der Petersburger Arbeiter, die zu den Subatow-Anhängern gehörten, ist in L. Trotzkis Artikel „Das Subatowtum in Petersburg" enthalten („Iskra" Nr. 30, 15. Dezember 1902).

3 Die Rede Samylins ist als Feuilleton unter dem Titel „Die Arbeiter von Nishni-Nowgorod vor Gericht" („Iskra" Nr. 29, 1. Dezember 1902) veröffentlicht worden und wurde außerdem als Sonderdruck herausgegeben.

4 Slepow, abgeleitet von Slepoi, deutsch – der Blinde. Die Red.

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