Wladimir I. Lenin: Brief an G. M. Krschischanowski1 [Geschrieben am 4. November (22. Oktober) 1903 Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1928 im „Leninskij Sbornik" Nr. 7. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 136] Lieber Freund! Du kannst Dir nicht vorstellen, was hier vorgegangen ist, – der Teufel weiß, was das sein soll, und ich beschwöre Dich, alles, alles Mögliche und Unmögliche zu tun, um zusammen mit Boris herzukommen und Euch die Stimmen der Übrigen zu sichern. Du weißt, ich bin in Parteiangelegenheiten schon ziemlich erfahren, und ich erkläre entschieden, dass jeder Aufschub, jede kleinste Verzögerung und Schwankung die Partei mit dem Untergang bedroht. Man wird Dir wahrscheinlich eingehend von allem berichten. Es handelt sich darum, dass Plechanow plötzlich nach den Skandalgeschichten auf dem Kongress der Liga umgefallen ist und dadurch mich, Kurz und uns alle fürchterlich, schmählich im Stich gelassen hat. Jetzt ist er – ohne uns – zu den Martowleuten gegangen, um mit ihnen handelseinig zu werden. Da die Martowleute sehen, wie sehr er eine Spaltung fürchtet, fordern sie zweimal, viermal so viel, sie fordern nicht nur das Sechserkollegium, sondern auch die Aufnahme ihrer Leute in das Zentralkomitee (sie sagen noch nicht, wie viel und wen) und zweier ihrer Leute in den Rat und die Desavouierung des Vorgehens des Zentralkomitees in der Liga (eines Vorgehens, mit dem Plechanow vollkommen einverstanden war). Plechanow hat jämmerlich Angst vor Spaltung und Kampf! Die Lage ist verzweifelt, die Feinde jubeln und werden frech, unsere Leute sind in Wut. Plechanow droht, alles sofort hinzuwerfen, und er ist fähig, es zu tun. Ich wiederhole, Dein Herkommen ist unbedingt notwendig. 1 Die an G. Krschischanowski (Smit), der sich zu der Zeit in Russland befand, adressierten Briefe waren tatsächlich für das Zentralkomitee bestimmt, das damals aus folgenden Mitgliedern bestand: Krschischanowski, Noskow (Boris), Lengnik, Kurz (war zu der Zeit im Auslande), Krassin, Semljatschka, Essen und Gussarow („Doktor"). Auf Drängen Lenins kam Krschischanowski, ausgerüstet mit Vollmachten von den übrigen Zentralkomitee-Mitgliedern, nach Genf (Ende November), wo er an der Ausarbeitung eines Ultimatums des Zentralkomitees an die Minderheit mitarbeitete (siehe Anmerkung 98). |