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M. A. Bakunin 18430500 Brief an Arnold Ruge

M. A. Bakunin: Brief an Arnold Ruge

[erschienen in: Ein Briefwechsel von 1843 Briefe von Karl Marx, Arnold Ruge, Michail Alexandrowitsch Bakunin und Ludwig Feuerbach Zusammengestellt und redigiert von Arnold Ruge. Deutsch-Französische Jahrbücher. Lfg.1/2. 1844, S. 28-31, Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abteilung. Werke – Artikel - Entwürfe, Band 2. Berlin 1982, S. 480-482]

Petersinsel im Bielersee, Mai 1843.

Ihren Brief aus Berlin hat mir unser Freund M. mitgeteilt. Sie scheinen über Deutschland unmutig geworden zu sein. Sie sehen nur die Familie und den Philister, der in ihre engen vier Pfähle mit all seinen Gedanken und Wünschen eingepfercht ist, und wollen an den Frühling nicht glauben, der ihn hervorlocken wird. Lieber Freund, verlieren Sie nur den Glauben nicht, nur Sie nicht. Bedenken Sie, ich, der Russe, der Barbar geb' ihn nicht auf, ich gebe Deutschland nicht auf und Sie, der Sie mitten in seiner Bewegung stehen, Sie, der Sie die Anfänge derselben erlebt haben, und von ihrem Aufschwung überrascht wurden, Sie wollen jetzt dieselben Gedanken zur Ohnmacht verurteilen, denen Sie früher, als ihre Macht noch nicht erprobt war, alles zutrauten? O, ich geb' es zu, es ist noch weit hin bis das deutsche 1789 tagt! Wann wären die Deutschen nicht um Jahrhunderte zurück gewesen? Aber es ist darum jetzt nicht die Zeit die Hände in den Schoß zu legen und feig zu verzweifeln. Wenn Männer, wie Sie, nicht mehr an Deutschlands Zukunft glauben, nicht mehr an ihr arbeiten wollen, wer wird denn glauben, wer handeln? Ich schreibe diesen Brief auf der Rousseau-Insel im Bielersee. Sie wissen, ich lebe nicht von Phantasien und Phrasen; aber es zuckt mir durch Mark und Bein bei dem Gedanken, dass ich grade heute, wo ich Ihnen und über einen solchen Gegenstand schreibe, an diesen Ort geführt bin. O, es ist gewiss, mein Glaube an den Sieg der Menschheit über Pfaffen und Tyrannen ist derselbe Glaube, den der große Verbannte in so viel Millionen Herzen goss, den er auch hierher mit sich genommen. Rousseau und Voltaire, diese Unsterblichen, werden wieder jung; in den begabtesten Köpfen der deutschen Nation feiern sie ihre Auferstehung; eine große Begeisterung für den Humanismus und für den Staat, dessen Prinzip nun endlich wirklich der Mensch ist, ein glühender Hass gegen die Priester und ihre freche Beschmutzung alles Menschlichgroßen und Wahren durchdringt wieder die Welt. Die Philosophie wird noch einmal die Rolle spielen, die sie in Frankreich so glorreich durchgeführt; und es beweist nichts gegen sie, dass ihre Macht und Furchtbarkeit den Gegnern früher klar geworden, als ihr selber. Sie ist naiv und erwartet zuerst keinen Kampf und keine Verfolgung, denn sie nimmt alle Menschen als vernünftige Wesen und wendet sich an ihre Vernunft, als wäre diese ihr unumschränkter Gebieter. Es ist ganz in der Ordnung, dass unsere Gegner, welche die Stirn haben zu erklären, wir sind unvernünftig und wollen es bleiben, den praktischen Kampf, den Widerstand gegen die Vernunft durch unvernünftige Maßregeln eröffnen. Dieser Zustand beweist nur die Übermacht der Philosophie, dies Geschrei gegen sie ist schon der Sieg. Voltaire sagt einmal: Vous, petits hommes, revetus d'un petit emploi, qui vous donne une petite autorité dans un petit pays, vous criez contre la philosophie? Wir leben für Deutschland in dem Zeitalter Rousseau's und Voltaire's und „diejenigen unter uns, welche jung genug sind, um die Früchte unserer Arbeit zu erleben, werden eine große Revolution und eine Zeit sehen, in der es der Mühe lohnt geboren zu sein”. Wir dürfen auch diese Worte Voltaire’s wiederholen ohne zu befürchten, dass sie das zweite Mal weniger, als das erste durch die Geschichte bestätigt würden.

Jetzt sind die Franzosen noch unsere Lehrer. Sie haben in politischer Hinsicht einen Vorsprung von Jahrhunderten. Und was folgt alles daraus! Diese gewaltige Literatur, diese lebendige Poesie und bildende Kunst, diese Durchbildung und Vergeistigung des ganzen Volkes, lauter Verhältnisse, die wir nur von ferne verstehen!

Wir müssen nachholen, wir müssen unserm metaphysischen Hochmute, der die Welt nicht warm macht, die Rute geben, wir müssen lernen, wir müssen Tag und Nacht arbeiten, um es dahin zu bringen, wie Menschen mit Menschen zu leben, frei zu sein und frei zu machen – wir müssen – ich komme immer darauf zurück, unsere Zeit mit unseren Gedanken in Besitz nehmen. Dem Denker und Dichter ist es vergönnt, die Zukunft vorweg zu nehmen und eine neue Welt der Freiheit und Schönheit mitten in den Wust des Untergangs und des Moders, der uns umgibt, hinein zu bauen.

Und Angesichts alles dessen, eingeweiht in das Geheimnis der ewigen Mächte, welche die Zeit aus ihrem Schoße neu gebären, wollen Sie verzweifeln? Verzweifeln Sie an Deutschland, so verzweifeln Sie nicht nur an sich selbst, Sie geben die Macht der Wahrheit auf, der Sie sich gewidmet. Wenig Menschen sind edel genug, sich ganz und ohne Rückhalt dem Weben und Wirken der befreienden Wahrheit hinzugeben, wenige vermögen diese Bewegung des Herzens und des Kopfes ihren Zeitgenossen mitzuteilen; wem es aber einmal gelang der Mund der Freiheit zu werden und die Welt mit den Silbertönen ihrer Stimme zu fesseln, der hat eine Bürgschaft für den Sieg seiner Sache, die ein anderer nur durch eine gleiche Arbeit und ein gleiches Gelingen erreichen kann.

Nun geb’ ich es zu, wir müssen mit unsrer eignen Vergangenheit brechen. Wir sind geschlagen worden und wenn es auch nur die rohe Gewalt war, die der Bewegung des Denkens und Dichtens ein Hindernis in den Weg warf, so wäre diese Rohheit selbst unmöglich gewesen, wenn wir nicht ein abgesondertes Leben im Himmel der gelehrten Theorie geführt, wenn wir das Volk auf unserer Seite gehabt hätten. Wir haben seine Sache nicht vor ihm selbst geführt. Anders die Franzosen. Man würde ja auch ihre Befreier unterdrückt haben, wenn man es vermocht hätte. –

Ich weiß, Sie lieben die Franzosen, Sie fühlen ihre Überlegenheit. Das ist genug für einen starken Willen in einer so großen Sache, um ihnen nachzueifern und sie zu erreichen. Welch ein Gefühl! Welch’ eine namenlose Seligkeit, dieses Streben und diese Macht! O, wie beneid’ ich Sie um Ihre Arbeit, ja selbst um Ihren Zorn, denn auch dieser ist das Gefühl aller Edlen in Ihrem Volk. Vermocht’ ich es nur mitzuwirken! Mein Blut und Leben für seine Befreiung! Glauben Sie mir, es wird sich erheben und das Tageslicht der Menschengeschichte erreichen. Es wird nicht immer die Schmach der Germanen, die besten Diener aller Tyrannei zu sein, für seinen Stolz rechnen. Sie werfen ihm vor, es sei nicht frei, es sei nur ein Privatvolk. Sie sagen nur was es ist; wie wollen Sie damit beweisen, was es sein wird?

War es in Frankreich nicht ganz derselbe Fall, und wie bald ist ganz Frankreich ein öffentliches Wesen und seine Söhne politische Menschen geworden. Wir dürfen die Sache des Volks, auch wenn es selbst sie verließe, nicht aufgeben. Sie fallen von uns ab, diese Philister, sie verfolgen uns; desto treuer werden ihre Kinder unserer Sache sich hingeben. Ihre Väter suchen die Freiheit zu morden, sie Werden für die Freiheit in den Tod gehen.

Und welch' einen Vorzug haben wir vor den Männern des 18ten Jahrhunderts? Sie sprachen aus einer öden Zeit heraus. Wir haben die ungeheuren Resultate ihrer Ideen lebendig vor Augen, wir können praktisch mit ihnen in Berührung kommen. Gehen wir nach Frankreich, setzen wir den Fuß über den Rhein, und wir stehen mit Einem Schlage mitten in den neuen Elementen, die in Deutschland noch gar nicht geboren sind. Die Ausbreitung des politischen Denkens in alle Kreise der Gesellschaft, die Energie des Denkens und Redens, die in den hervorstechenden Köpfen nur darum zum Ausbruch kommt, weil die Wucht eines ganzen Volks in jedem schlagenden Worte empfunden wird – alles das können wir jetzt aus lebendiger Anschauung kennen lernen. Eine Reise nach Frankreich und selbst ein längerer Aufenthalt in Paris würde uns von dem größten Nutzen sein.

Die deutsche Theorie hat diesen Sturz aus allen ihren Himmeln, der ihr jetzt widerfahrt, indem rohe Theologen und dumme Landjunker sie wie einen Jagdhund an den Ohren schütteln und ihrem Lauf die Wege weisen, reichlich verdient. Gut für sie, wenn dieser Sturz sie von ihrem Hochmute heilt. Es wird ganz auf sie ankommen, ob sie sich nun aus ihrem Schicksale die Lehre ziehen will, dass sie in einsamer dunkler Höhe verlassen und nur im Herzen des Volks gesichert ist. Wer 20 gewinnt das Volk, wir oder ihr? das rufen diese obskuren Kastraten den Philosophen zu. O Schande über diese Tatsache! aber auch Heil und Ehre den Männern, die nun die Sache der Menschheit siegreich hinausführen.

Hier, erst hier beginnt der Kampf, und so stark ist unsere Sache, dass wir wenige zerstreute Männer mit gebundenen Händen durch unsern bloßen Schlachtruf ihre Myriaden in Furcht und Schrecken setzen. Wohlan, es gilt! und eure Banden will ich lösen, ihr Germanen, die ihr Griechen werden wollt, ich der Skythe. Sendet mir eure Werke! Auf Rousseaus Insel will ich sie drucken und mit feurigen Lettern noch einmal an den Himmel der Geschichte schreiben: Untergang den Persern!

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