Zur zweiten Auflage

Zur zweiten Auflage

Bei der zweiten Auflage geziemt sich‘s, dass ich vorerst meinen Dank für die zumeist wohlwollende Kritik und für die eingehende Beachtung ausspreche, die meine Arbeit in der deutschen Parteipresse gefunden hat. Die meinem Buche gezollte Kritik ist von mir jetzt sorgfältig erwogen worden und hat mich bestimmt, bei der Revision des Textes einiges Vergessenes nachzuholen und Missverstandenes klarer zu gestalten.

Freilich bezieht sich dies meist auf Untergeordnetes. Der Hauptpunkt, wo die Kritik ansetzte, war die Frage der gesellschaftlichen Entwicklung, die Frage, ob sie mit Notwendigkeit auf den Massenstreik als Form der proletarischen Revolution, hinauslaufe. Von verschiedenen Kritikern ist mir vorgeworfen worden, dass ich die friedliche Entwicklung, das geordnete Aufsteigen der unterdrückten Massen, wenn auch nicht ganz ausschließe, so doch als etwas sehr Unwahrscheinliches hinstelle und allzu sehr zu der Auffassung neige, dass die gesellschaftliche Entwicklung zur Katastrophe führt. Weil so der Endkonflikt als unvermeidlich angesehen wird, ergäbe sich in meiner Darstellung als notwendige Form der Entscheidungsschlacht der Massenstreik.

In diesem Punkt, an den sich die bekannte Diskussion zwischen Neue Zeit und Vorwärts geknüpft hat, habe ich keine eingehenden Änderungen oder Neuausführungen in meiner Schrift anbringen zu müssen geglaubt. Es wäre das erstens unmöglich gewesen, ohne den ganzen Zyklus der Probleme von der Konzentration des Kapitals, der Zuspitzung der Klassengegensätze, der Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung eingehend zu erörtern. Eine solche Erörterung aber gehört nicht in eine Untersuchung über die Natur und den Wert des Generalstreiks; sie ist eine Arbeit für sich, die schon seit Jahren vorliegt in Kautskys: „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“. Die gesellschaftliche Entwicklung auf ökonomischem wie politischem Gebiet, die sich seitdem vollzog, hat dann weitere zahlreiche Belege für die Schlüsse beigebracht, zu denen Kautsky in einer Periode geschäftlicher Prosperität und politischen Stillstands gelangte.

Meine Schrift aber beschränkt sich auf die Beantwortung der Frage, ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen, in welchen Lagen der Streik dem Proletariat als Kampfmittel gegen den Staat dienen könne. Die Prüfung des vorhandenen Tatsachenmaterials, der Erfahrungen der Vergangenheit und der sozialpolitischen Tendenzen der Gegenwart ergab, dass der Massenstreik ebenso wohl, unter gewissen Voraussetzungen, in einer bestimmten Periode des proletarischen Emanzipationskampfes ein geeignetes Mittel sein könne, dem Staat Reformen abzuzwingen, wie er bei weiter entwickelten Klassengegensätzen und in einer revolutionären Lage die Form der proletarischen Revolution sein müsse, weil für das Proletariat die Verweigerung der Arbeitskraft das aus seiner ganzen Stellung in der heutigen Gesellschaft hervorgehende äußerste und unveräußerliche Macht- oder Gewaltmittel ist. Das aber behaupten, bedeutet nicht die Unvermeidlichkeit der gewaltsamen Revolution unter allen Umständen voraussagen. Es spricht zwar die geschichtliche Erfahrung für ein solches Endergebnis der Entwicklung, da es kein Beispiel einer privilegierten Klasse gibt, die sich ohne äußersten Kampf zurückdrängen lässt. Es weisen zwar zurzeit unsere politischen Wettergläser alle auf Sturm, aber dennoch gibt es Möglichkeiten einer andern Entwicklung als einer, die auf den Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hinausläuft. Eine dieser Möglichkeiten wäre ein Weltkrieg und seine Folgen. Eine andre kann hervorgehen aus den sozialen Wirkungen der Trusts, die ja erst am Anfang ihrer Tätigkeit stehen und vielleicht den gesellschaftlichen Boden auf von uns noch ungeahnte Weise durchwühlen werden.

Zwar würde auch keine dieser Möglichkeiten des Proletariats die Notwendigkeit ausschalten, die politische Macht zu erobern, um seine Gesellschaftsordnung durchzuführen. Es eröffnen sich dabei aber Aussichten, dass fast die Gesamtheit der Mittelklassen sich gegen das herrschende Regiment kehren und, die moralisch-geistige Überlegenheit des Proletariats anerkennend, seiner Leitung folgen würde. Denn ein andrer Punkt, der die heutige gesellschaftliche Bewegung und damit auch ihre Aussichten von jeder früheren wesentlich unterscheidet, ist die von Bebel in seiner Rede zu Jena mit Recht hervorgehobene Aufklärung und das politische Bewusstsein der Massen.

Dies ist jedoch nicht die Frage, um die es sich hier handelt. Die Ansicht, der Massenstreik sei im Falle des Konflikts die Form der proletarischen Revolution, bedeutet ebenso wenig ein einseitiges Betonen der Zuspitzung der Verhältnisse, wie ein ungebührliches Herabsetzen der andern Mittel des proletarischen Kampfes, vor allem des Parlamentarismus. Die Kritik, die eine derartige Herabsetzung aus meiner Schrift herausgelesen hat, muss ich des mangelnden Verständnisses anklagen. Dieser Mangel an Verständnis aber findet offenbar seinen Grund in ungenügendem Einleben in dialektisches Denken. Diese Kritiker verstehen nicht, oder doch nur ungenügend. dass die Aufklärung, die Schulung, der Zusammenhalt, das Klassenbewusstsein, die der politisch-parlamentarische Kampf in Zusammenhang mit andern Kampfmitteln dem Proletariat im Lauf der Entwicklung gibt, zu einem Punkt führen kann, wo diese Kampfmethode sich selbst aufhebt, das heißt, wo sie in andere, anscheinend gegensätzliche Methoden umschlagen muss, gerade so gut, wie die Anwendung dieser Methoden in einer früheren Phase des proletarischen Kampfes nötig sein mag, um den Boden des Parlamentarismus zu gewinnen. Nicht ich, die ich diese Dialektik der realen Entwicklung aufdecke, mache mich der Inkonsequenz oder des „Dualismus“ schuldig, sondern das Leben selbst ist es, das sich in den Bahnen des anscheinend Widerspruchsvollen, Gegensätzlichen vorwärts bewegt. Das „Wenn und Aber“ ist bei der Untersuchung geschichtlicher Tendenzen der Gegenwart und ihrer Weiterführung in die Zukunft unvermeidlich, denn die historische Entwicklung wird von zahlreichen Faktoren bedingt und diese soviel wie möglich zu würdigen und abzuwägen, ist Aufgabe des Soziologen. Das „Entweder-Oder“ jedoch, das heißt in diesem Fall das Bekenntnis zur Auffassung, eine hohe Schätzung des revolutionären Wertes des Massenstreiks bedeute notwendig ein Schwärmen für Katastrophen, ein Naserümpfen über den parlamentarischen Kampf – ein solches „Entweder-Oder“ scheint nur ein Rückfall in das metaphysische Denken, das für die Sozialdemokratie ein überwundener Standpunkt sein soll.

Wenn ich also an diesem Punkte meiner Schrift im wesentlichen nichts geändert habe, so war die Kritik mir dennoch von Nutzen, weil sie mir zeigte, dass meine Ausführungen über den verschiedenen Charakter und die verschiedenen Aussichten des Streiks je nach Lage und Umständen nicht ganz verstanden worden waren. Deswegen habe ich sie bei der Revision des Textes teilweise umgearbeitet und wo nötig, ergänzt. Auch dem Faktor der öffentlichen Meinung ist eine eingehendere Betrachtung gewidmet und sie ist in ihren Bestandteilen analysiert worden. Von großem Nutzen war mir in diesen Punkten ein inzwischen in der Neuen Zeit, Jahrgang 23, Band II, Nr. 51, Seite 804-816, erschienener trefflicher Artikel des Genossen Hilferding über „Parlamentarismus und Massenstreik“. Seine ausgezeichneten Ausführungen über die verschiedene Natur des Massenstreiks je nach den Machtverhältnissen der Klassen und dem Stadium der proletarischen Bewegung werden den Lesern meiner Schrift warm empfohlen.

In einem Punkt muss ich gestehen, zu sehr durch die rosafarbene Brille gesehen zu haben: an jener Stelle nämlich, wo ich die schweizerische Demokratie als eine hinstellte, in der dem Willen des Volkes die uneingeschränkteste Gelegenheit geboten wird, sich in geordneten Formen zu äußern. Das Ergebnis der letzten Wahlen lehrt, dass auch dort die Demokratie eine Kugel am Bein trägt und das augenscheinlich uneingeschränkteste Wahlrecht sich sehr wohl mit Wahlbestimmungen vereinen lässt, die den politischen Einfluss des Proletariats künstlich herabsetzen.

★ ★

Seit dem Moment, wo die erste Auflage meiner Arbeit erschien, ist die Frage des politischen Massenstreiks immer mehr in den Vordergrund des Interesses getreten. Das ganze alte Europa dröhnt von dem ehernen Schritt der russischen Revolution; die Geschichte hat Flügel bekommen; wichtige, lang vorbereitete Verschiebungen des Machtverhältnisses der Klassen sind plötzlich zutage getreten; politische Ereignisse von ungeheurer Tragweite, die vor kaum einem Jahre in weiter Ferne dämmerten, sind in nächste Nähe gerückt. Schon hat das österreichische Proletariat, die günstige Situation in bewunderungswürdiger Weise ausnützend, durch einmütiges Vorgehen den halben Sieg errungen: es steht da, bewaffnet und entschlossen, zum Massenstreik überzugehen, wenn das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht nicht in kürzester Zeit „heraus“ kommt. Und schon rauschen deutlich vernehmbar die Flügel der Göttin des Sieges durch die Luft.

Hart an der österreichischen Grenze aber, in Sachsen, fängt es zu wetterleuchten an. Lang kann der Grimm des entrechteten Volkes sich ansammeln, nicht leicht wird bei der bedächtigen und ruhigen germanischen Rasse der Zorngedanke zur Tat. Aber die ersten Zeichen einer seelischen Wandlung vollziehen sich. Und wenn einmal die Massen der deutschen Arbeiter, aufgeklärt, organisiert, geschult, ruhigen Blutes und klaren Sinnes wie keine andern der Welt, in Bewegung geraten, wenn einmal eine revolutionäre Situation ihnen den Gebrauch der dem Proletariat eigentümlichen Waffe nahe legt, ihnen aufdrängen würde, dann wird das Ringen furchtbar sein, aber der Sieg von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn er wäre die Zertrümmerung der mitteleuropäischen Reaktion, das heißt der stärksten reaktionären Macht, die nach dem Falle des russischen Absolutismus noch übrig geblieben ist.

Alles aber, was in Österreich-Ungarn geschieht und in Deutschland sich vorzubereiten anfängt, ist von der russischen Revolution gleichsam gelöst, in Gang gesetzt worden. Und wie sie der Herd ist, von wo aus revolutionäre Gluten sich ununterbrochen über ganz Europa verbreiten, so ist sie es auch, die uns zurzeit unerschöpfliche Belehrung über die Erscheinungen, die Methoden, die Aussichten und Folgen der neuen revolutionären Waffe des Massenstreiks bietet. Gewiss kann das westeuropäische Proletariat nicht alle Erfahrungen seiner russischen Brüder ohne weiteres auf seine eigene Situation übertragen und ihren Kampf einfach nachahmen. Es kämpft ja zum Teil gegen andre Klassen, für andre Güter, in einem andern gesellschaftlichen Milieu, wo mehr oder weniger demokratische Anschauungen, Lebensformen und Sitten schon den Boden aufgewühlt und die Atmosphäre durchtränkt haben. Alles dies Ungleichartige sollen wir nicht übersehen, aber ebenso wenig soll es uns das Gleichartige verdecken. In der russischen Revolution, wie bei einer eventuellen Erhebung der Volksmassen in Westeuropa, handelt es sich um einen Kampf des Proletariats gegen die Staatsmacht, einen Kampf. der größtenteils mit denselben Waffen durchgeführt werden muss, einen Kampf, in dem das Proletariat sich auflehnt gegen Zustände und Verhältnisse, die ihm unerträglich geworden sind. Denn die soziale Revolution, der Sturz des bürgerlichen Regiments kann nur erfolgen, wenn dieses Regiment, wenn Ausbeutung und Unterdrückung überhaupt, dem westeuropäischen Proletariat ebenso unerträglich geworden sind, wie heute dem russischen der Absolutismus, die uneingeschränkte Ausbeutung und die politische Rechtlosigkeit; wenn es ebenso bereit ist, alles und alles daran zu setzen, sich von der bürgerlichen Herrschaft zu befreien, wie heute die russische Arbeiterklasse es ist, den Absolutismus niederzuwerfen.

Ist auch die volle Würdigung der russischen Revolution selbstverständlich der Zukunft vorbehalten, so ließe sich über die Lehren der russischen revolutionären Streiks schon heute manches sagen, was meine Schrift vor neun Monaten nur andeuten konnte. Möglichkeiten, die damals noch halb als zukünftig aufgefasst werden mussten, so die Streiks der Eisenbahner sowie der Post- und Telegraphenangestellten, ihre Wirkungen auf das Bauerntum, auf die finanzielle Lage usw., sind inzwischen Wirklichkeit geworden.

Unter der Fülle von belehrenden Anregungen, die die russischen Ereignisse uns geben, scheinen mir vor allem die folgenden in Bezug auf den Massenstreik als Form der Revolution von hoher Wichtigkeit.

Erstens die lange Ausdehnung des Kampfes. Immer mehr zeigt es sich, dass der revolutionäre Massenstreik nicht dem einmaligen, gelingenden oder zurückgeschlagenen Ansturme zu vergleichen ist, sondern mehr der Belagerung einer Festung gleicht, wo wiederholte Angriffe, mit denen Position nach Position dem Feinde entrissen wird, mit fortgesetzter Unterwühlung seiner Werke zusammengehen. Diesen Zweck, den Feind zu schwächen, mürbe zu machen, die eigenen Scharen aber zu üben und zu schulen und die Macht ihrer Einmütigkeit Freund wie Feind klar zu machen, erfüllen auch solche Angriffe, bei denen anscheinend nichts gewonnen wird. Ein Angriff dieser Art war unter anderem der fünftägige Proteststreik (15. bis 20. November) der Arbeiter und Bahnangestellten von Petersburg gegen die Proklamierung des Standrechts in Polen und die Todesurteile über die Kronstädter Meuterer. Dieser Streik, der von der ganzen bürgerlichen Presse als „misslungen“ verschrien wurde, weil er kein greifbares Resultat erreichte, war in Wahrheit ein großer Sieg: er bekundete, wie enorm in wenigen Monaten das Gefühl der Solidarität und die Disziplin unter dem russischen Proletariat zugenommen hatte.

Ein zweiter Punkt von hoher Wichtigkeit ist die erstaunliche Ausdauer, die das russische Proletariat im Ertragen körperlicher Entbehrungen beweist. Der Einwand der Gefahr baldiger totaler Erschöpfung, des Kapitulierens vor dem Hunger, wurde noch auf dem Kongresse zu Jena, wie schon so oft vorher von den Gegnern des politischen Massenstreiks, stark betont. Damals schon konnte man ihnen mit vollstem Recht die russischen Ereignisse entgegenhalten, seitdem aber hat eine neue Streikwelle sich erhoben, die alle früheren an Größe, Kraft und Ausdauer übertrifft. Auch diese Frage: wie die Massen, trotz des Hungers, im Streik verharren können, der den Hunger hervorbringt, wird von der Dialektik der Wirklichkeit gelöst; das Unmögliche wird möglich als Bewegung; wenn die Arbeiterschaft vom Kampfe allzu sehr erschöpft ist, stellt sie ihn auf kurze Zeit ein, um ihn, sobald sie sich einigermaßen erholt hat, von neuem zu beginnen. Wie sie dies aber zustande bringt, wie das russische und polnische Proletariat jetzt schon fast ein Jahr ohne regelmäßige Entlohnung aushält, die Organisierung der Hilfe, der Verproviantierung usw. – wie die Organisierung des Streiks überhaupt – das alles bildet für das westeuropäische Proletariat einen Gegenstand des höchsten Interesses. In der revolutionären Atmosphäre hat sich dort, wo das Proletariat so lange in der Organisation zurückbleiben musste, die proletarische Kampforganisation gewerkschaftlicher wie politischer Art so wunderbar schnell entwickelt, dass heute auch in diesem Punkt das westeuropäische Proletariat von seinem russischen Bruder manches lernen kann.

Eine dritte Lehre der russischen revolutionären Streiks, auf die ich noch hinweisen will, ist die innige Verquickung von politischen und ökonomischen Forderungen. Bei der theoretische Analyse, im Gehirn, können und dürfen wir zum Zweck größerer Klarheit die Streiks in Arten sondern und klassifizieren, wie Klassifikation bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung unvermeidlich ist. In der Wirklichkeit, und dies dürfen wir nicht übersehen, sonst wird unsre Arbeit pedantisch und lebensleer, verwischen sich oft die Grenzen. Denn so innig sind politische Knechtschaft und ökonomische Ausbeutung in der modernen Gesellschaft verbunden, dass der Proletarier nicht lange an der einen Kette rütteln kann, ohne das Drücken der andern zu spüren.

Eine letzte Erkenntnis schließlich von außerordentlicher Wichtigkeit, die aus der russischen Revolution zu uns herüber leuchtet, ist die von der allmählichen Aufreibung der Armee durch die Streikbewegung. Ein gewaltiger Vorteil der neuen proletarischen vor der alten bürgerlichen revolutionären Methode macht sich hier bemerkbar. Die frühere bewaffnete Insurrektion verlief schnell, in wenigen Tagen oder höchstens Wochen; in der kürzesten Zeit musste das Durchbrechen, das Mürbemachen der Armee erreicht werden. Der Streikbewegung, die sich über viele Monate ausdehnen kann, bieten sich unendlich günstigere Aussichten, dies Ziel zu erreichen; sie höhlt die militärische Disziplin ebenso sicher aus, wie der Tropfen den Stein, sie gibt der Revolution Gelegenheit und Zeit, ihr Erziehungswerk an dem starren Milieu des Militarismus zu vollbringen. Die stetige Berührung des Militärs mit der Arbeiterschaft ist in den Augen des Staates das allergefährlichste und verderblichste, was geschehen könnte und doch machen die großen Streiks sie unvermeidlich: der zusammenbrechende Staat selbst muss die Armee fortwährend der Gefahr aussetzen, von der revolutionären Gesinnung der Massen angesteckt zu werden, will er nicht seine Machtlosigkeit offen zur Schau tragen. Und die Eindringlichkeit, womit das Proletariat immer wieder von neuem seine Forderungen auf Milderung seiner Ausbeutung erhebt, muss den Soldaten nach kürzerer oder längerer Zeit dazu bringen, über seine eigene Unterdrückung, Rechtlosigkeit und Ausbeutung nachzudenken und selbst Forderungen zu erheben. Dann aber sieht er in den streikenden Scharen nicht länger Meuterer und Aufständische, sondern Brüder.

Die russische Revolution ist noch mitten im Werden; es mögen deshalb diese skizzenhaften Andeutungen über die aus ihr hervorgehenden Lehren für jetzt genügen. Möge es mir gegeben sein, sie später eingehend auszuarbeiten, wenn die Nebel und Dünste, die jetzt über dem Schlachtfeld hängen, verweht sind, die finstere Macht des Absolutismus zu Grabe getragen ist und der siegreiche Held, das russische Proletariat, seine glorreichen Wunden heilt im Glanz der Freiheitssonne, die heute über dem Osten aufgeht und deren erste Strahlen schon die Herzen der Arbeiterschaft aller Länder erwärmen.

Laren, Dezember 1905, Henriette Roland Holst.

Kommentare