III. Der ökonomisch-soziale Generalstreik

III. Der ökonomisch-soziale Generalstreik

Die ausführliche Zergliederung des verallgemeinerten Solidaritätsstreiks im vorigen Kapitel macht, dass wir uns über die Idee des revolutionären, ökonomisch-sozialen Generalstreiks kurz fassen können. Diese Idee ist nur die eines desgleichen riesenhaft verallgemeinerten Streiks; ein Streik, der alle Arbeiterkategorien eines Landes oder darüber hinaus umfasst, und nicht die Erreichung eines besonderen politischen Zieles erstrebt, sondern als das einzig revolutionäre Mittel zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und zu ihrer Ersetzung durch den Sozialismus aufgefasst wird. Diese Auffassung taucht zuerst auf in den Tagen der Internationale.A Der Brüsseler Kongress von 1868 gab in diesem Punkte folgende Erklärung ab:

dass der Gesellschaftskörper nicht existieren könnte, wenn die Produktion während einer bestimmten Zeit unterbunden wäre; dass es also seitens der Produzenten genügen würde, das Produzieren einzustellen, um die Unternehmungen persönlicher und despotischer Regierungen unmöglich zu machen.“

Kurz nachher bemerkte das in Brüssel erscheinende Blatt Die Internationale in dieser Frage:

Wenn die Streiks sich ausbreiten und einander nähern, sind sie wohl nahe daran, ein Generalstreik zu werden, und ein Generalstreik kann bei den heute herrschenden Emanzipationsideen nur in einem die Gesellschaft erneuernden Zusammenbruch endigen.“

Mit der Auflösung der Internationale verschwand die Generalstreikidee, deren Anhängerschaft sich hauptsächlich aus den Anhängern Bakunins rekrutierte, vorläufig von der Tagesordnung der internationalen Arbeiterbewegung. Sie zeigte sich kaum wieder in den Ländern, wo die Arbeitermassen unter dem zunehmenden Einfluss der Sozialdemokratie, sich mehr und mehr dem politischen und gewerkschaftlichen Organisations- und Erziehungswerk zuwendeten.

Dagegen kam diese Idee einige Jahrzehnte nach dem Untergang der Internationale von neuem in verschiedenen Ländern zu Ehren.

Zuerst in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo die Chicagoer Anarchisten diese Idee aufnahmen. Der praktische Sinn der amerikanischen Arbeiter verbot es ihnen jedoch, sie an und für sich zu propagieren. Nur in Verbindung mit der Idee des Achtstundentags, der damals bei der amerikanischen Arbeiterklasse sehr populär war, konnte das Schlagwort des Generalstreiks Anklang finden. Seine Propagierung trug dazu bei, eine Streikbewegung zu entfesseln, in der es einigen Kategorien von Arbeitern gelang, eine gewisse Verkürzung der Arbeitszeit durchzusetzen.

Nicht lange darauf tauchte die Generalstreikidee wieder in Frankreich und Spanien auf, in Ländern, in denen die Schwäche der Gewerkschaften sowie das nationale Temperament die Arbeiter zum verallgemeinerten Sympathiestreik geneigt machen und wo zudem eine noch heute nicht überwundene entschieden antiparlamentarische Gesinnung eines Teils der Arbeiter die Gewerkschaftsbewegung zur alleinigen Trägerin des proletarischen Emanzipationskampfes erhebt.B

Der Kongress der französischen Gewerkschaften zu Bordeaux im Jahre 1888 war der erste, der sich mit dem Generalstreik beschäftigte. Die damals angenommene Resolution bringt den Glauben an den allmächtigen Generalstreik in eine klare Formel, in der die Art und Weise, wie seine Anhänger vorgehen: das Abstrahieren von allen Tatsachen und Verhältnissen des wirklichen Lebens, um eine einzige ihrer Formeln scharf zu beleuchten, sich deutlich zeigt. Die Resolution macht verständlich, wie die ungeschulte Denkweise unwissender Proletarier von der scheinbaren Logik dieser verführerischen Idee bezaubert werden kann. Sie lautet:

In Erwägung, dass die Konzentration der Arbeitsmittel und der Kapitalien in den Händen der Unternehmer ihnen eine Macht gibt, die die Aussichten des partiellen Streiks im gleichen Masse vermindert; dass das Kapital nichts ist, wenn es nicht in Bewegung gebracht wird durch die Arbeit; dass also die Arbeitsverweigerung für die Arbeiter das Mittel bilden würde, mit einem Schlage die Macht ihrer Herren zu vernichten; in Erwägung, dass der partielle Streik bloß ein Mittel der Aufklärung und Organisation sein kann, erklärt der Kongress: dass nur der Generalstreik, das heißt die vollständige Unterbrechung jeder Arbeit, die soziale Revolution, imstande sein wird, die Befreiung der Arbeiterklasse durchzuführen.“

Zahlreiche Kongresse der französischen Gewerkschaften haben von 1888 bis heute dieses Glaubensbekenntnis zu der Generalstreikidee wiederholt; sie steht für die französische Gewerkschaftswelt unausgesetzt auf der Tagesordnung. Wenn der Generalstreik in letzter Zeit auch in Frankreich mit dem Kampfe für den Achtstundentag verkettet wird, so kann man darin nur einen gewissen Fortschritt zur Realität begrüßen, wie unmöglich es sich selbstverständlich auch zeigen wird, für alle Arbeiterkategorien eines Landes zu gleicher Zeit die gleiche Arbeitszeit durchzusetzen.

Die Generalstreikidee hat Verbreitung in Spanien, Italien, Holland, sowie in allen Ländern gefunden, wo sozialistisches Empfinden ohne sozialdemokratisches Bewusstsein, Sehnsucht nach Erlösung aus der Hölle des Kapitalismus ohne klare Einsicht in die ökonomischen, politischen und organisatorischen Bedingungen der Umwälzung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus den geistigen Zustand des Proletariats bilden. Diese für den leidenden, erlösungsbedürftigen Proletarier so berauschende Idee, die ihm mit einem Schlage, als Lohn einer einzigen Anstrengung, eine bessere Welt verspricht, ist in den letzten Jahren zum Mittelpunkt aller unklaren, antiparlamentarischen und anarchistischen Strömungen und Stimmungen in den Massen geworden. Für den Anarchismus bildet ihre Propagierung die einzige Möglichkeit, noch Einfluss auf die Arbeiterschaft zu gewinnen oder zu erhalten, sie der Sozialdemokratie fernzuhalten und für seine eigenen Ziele fortzureißen. Die Frage: für oder wider den revolutionären, ökonomisch-sozialen Generalstreik bedeutet fast immer: für oder wider den Anarchismus.

Die Sozialdemokratie ist sich bewusst, dass die Unvereinbarkeit der Produktionsverhältnisse mit der überkommenen Eigentumsordnung die ökonomische Grundlage der sozialen Revolution bildet. Der Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft vollzieht sich nach ökonomischen Grundgesetzen. Die revolutionäre Arbeiterklasse kann die bestehende Gesellschaft nur umwälzen, wenn der Entwicklungsgrad des Produktionsprozesses eine gewisse Höhe erreicht hat, die sie zur sozialistischen Produktionsweise reif macht. Um dem Kapitalismus, ist dieser Reifegrad erreicht, ein Ende machen zu können, muss das Proletariat die Staatsmacht erobern und für seine eigenen Zwecke umändern. Nur die Staatsmacht kann der Hebel sein, die Enteignung der kapitalistischen Klassen und die Neuorganisation der Produktion auf Grundlage der Vergesellschaftung der Produktionsmittel durchzuführen. Der Charakter der modernen Produktionsmittel sowie die weit vorgeschrittene Betriebskonzentration durch Großbetrieb und Kartell machen die Verstaatlichung der wichtigsten Betriebe und die Neuorganisation der wichtigsten Produktionszweige auf nationaler, in einigen Fällen sogar auf internationaler Stufenleiter unentbehrlich. Als für die Verstaatlichung am meisten geeignete Produktionszweige kommen zuerst in Betracht: die Transportmittel, die Produktion der Rohmaterialien und Halbfabrikate sowie der Großhandel. Auf andern Gebieten der Produktion, so bei der Herstellung von Arbeitsprodukten für den persönlichen Konsum und bei dem Kleinhandel werden voraussichtlich die Gemeinden, Gewerkschaften und Genossenschaften eine hervorragende Rolle spielen. Zweifellos aber wird der verstaatlichte Betrieb in einer vom Proletariat beherrschten Gesellschaft die wichtigste Betriebsform sein, das heißt diejenigen Betriebszweige umfassen, die heute schon zu Monopolen geworden sind und das wirtschaftliche Leben in hohem Masse beherrschen.C

Die Entwicklung des Produktionsprozesses bis zu dem Punkte, wo die kapitalistische Wirtschaftsweise für die Gesellschaft zu einer unerträglichen Fessel wird, bildet jedoch nur die Möglichkeit zur Umwälzung. Die Möglichkeit zur Wirklichkeit zu machen, darum bedarf es der Menschen; ihres Willens und ihrer Anstrengungen, ihrer Einsicht und Fähigkeiten, ihrer Energie und Bereitwilligkeit zu wagen und sich einer großen Sache zu opfern.

Um das bürgerliche Regiment stürzen und durch ein proletarisches ablösen zu können, muss das Proletariat sich folglich zur unbedingten organisatorischen, intellektuellen und moralischen Überlegenheit über die bürgerlichen Klassen erhoben haben, über eine Summe von Energie, Opfermut, geistiger Kraft, Wissenschaft und Reife verfügen, die es nur durch die tagtägliche Praxis und Wirkung des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes erwerben kann. Um seine Kräfte zu stärken, bedarf es zu seinem Aufstieg dringend der Reformen, die die Sozialdemokratie im parlamentarischen Kampfe dem bürgerlichen Staat abzuringen erstrebt.

Alle diese Bedingungen des proletarischen Sieges werden von den Befürwortern des ökonomisch-sozialen Generalstreiks gründlich verkannt. Er bedeutet für sie das einzige Mittel zur Niederwerfung der Klassenherrschaft, sein Sieg wird mit einem Schlage das Ende der kapitalistischen Ausbeutung herbeiführen. „Am Tage, an dem die Arbeiter gemeinschaftlich die Produktion aufheben und das wirtschaftliche Leben zum Stillstand bringen, werden sie ihre Macht auch einsehen; und statt sich mit Palliativmitteln zu begnügen, wird das Proletariat den einzigen logischen Schluss ziehen, der das Ziel des Generalstreiks ist: die Abschaffung der Lohnsklaverei.D

Die Reorganisation der vom Generalstreik zertrümmerten Gesellschaft wird aber nicht auf dem Wege der Verstaatlichung vor sich gehen: das proletarische Regiment braucht keine Zentralgewalt, um seine gesellschaftliche Ordnung durchzusetzen. Die Arbeiter werden sich hüten, die Ankunft des Messias abzuwarten, bis er in der Form von Ukassen der „öffentlichen Gewalten“ erscheint. Sie werden ohne Säumen die Arbeit selbst in die Hand nehmen. Den Berufsgruppen der Gewerkschaften wird die Aufgabe zufallen, sich die Fabriken und Werkstätten anzueignen: sie sind es, die bei jedem Erwerbszweig die Quantität der Produktion feststellen werden. Die Arbeitsbörsen, die Verkehrsknoten der neuen sozialen Organisation, werden die Bestellungen aufnehmen und sie den interessierten Gruppen überbringen. Der Transport wird von der Föderation der Transportarbeiter besorgt werden.“E

Man sieht: für diese „Sozialisten“ ist nicht die Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel die geschichtliche Aufgabe des Proletariats, das Ziel des proletarischen Klassenkampfes, sondern ihre Aneignung durch die Berufsgruppen. Die alte Lösung „Die Fabrik für die Arbeiter“ scheint ihnen das letzte Wort der ökonomischen Entwicklung. Ihr angeblich äußerst revolutionärer Wille, der sich das proletarische Regiment nicht anders vorzustellen vermag, als mit den hässlichen Zügen der Klassenherrschaft belastet, entpuppt sich als faktischer Rest zünftiger Gesinnung.

Aber die Auffassung, es werden die Produktionsmittel nicht von der ganzen Gesellschaft (mittels der vom Proletariat eroberten, zu seinen Zwecken umgeänderten Staatsmaschinerie), sondern von den Berufsgruppen angeeignet werden, hat noch andre, reaktionäre Konsequenzen. Ihre Anhänger verrichten sowohl auf die Besitzergreifung der wichtigsten, konzentrierten Produktionsmittel als erste Tat der proletarischen Revolution, wie auf jede Regelung der Produktion überhaupt. „Vor allem ist zu verhüten“, heißt es in einer französischen Broschüre über den Generalstreik, „dass die Streikenden auf zwei oder drei Punkten zusammen fluten; sie würden dabei nur verlieren können. Ein jeder sollte in seinem Stadtviertel bleiben und sich daselbst die Produktionsmittel aneignen; anfänglich die kleinen Werkstätten, die Bäckereien; später die größeren Werkstätten; endlich, aber erst nach dem Sieg, die großen industriellen Betriebe. … Die Aneignung der Produktionsmittel würde sich sozusagen von Stadtviertel zu Stadtviertel, von Straße zu Straße, von Haus zu Haus vollziehen. Dies würde das Zustandekommen einer revolutionären Regierung, einer Diktatur des Proletariats unmöglich machen; kein Herd des Widerstands mehr, freie Assoziation jeder Bäckergruppe in jeder Bäckerei, jeder Schlossergruppe in jeder Schlosserei, mit einem Worte: freie Produktion.“F

Man sieht, zu welchen Absurditäten die Generalstreikidee in ihren Konsequenzen führt. Sie macht den Sieg des Proletariats nicht von der immer fortschreitenden Entwicklung des Großbetriebs, von der Konzentration der Produktionsmittel abhängig, sondern im Gegenteil von ihrer Zersplitterung, von der Mehrheit der Klein- und Zwergbetriebe. Je zahlreicher diese, je besser die Aussichten der „allmählichen“ Enteignung. Diese Unzahl unabhängig von einander produzierender Kleinbetriebe macht aber jede vernünftige Regelung der Produktion unmöglich: der Sozialismus verliert seinen Grund in den ökonomischen Bedingungen der modernen Gesellschaft; er wird zum Traumbild, zur Schimäre.

Die revolutionär-ökonomische Generalstreikidee verkennt ebenso wie die wirtschaftlichen und politischen, so auch die organisatorischen Bedingungen der proletarischen Revolution. Wohl suchen ihre Befürworter das Solidaritätsgefühl und das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiter zu erwecken, aber sie sehen nicht ein, dass Erziehung und Organisierung der Massen die unbedingten Voraussetzungen einer Gesellschaftsform sind, die auf der freiwilligen Zusammenschließung der Produzenten beruht. Zur Erziehung und Organisierung der gesamten Arbeiterklasse ist aber der politisch-parlamentarische Kampf unentbehrlich.

Unter den Lobrednern des revolutionär ökonomischen Generalstreiks erwarten viele nicht vom Bewusstsein der Gesamtheit, sondern von der „ausstrahlenden und schöpferischen Kraft der Minderheit“ den Sieg der Revolution.G Die Masse wird sich von der „schöpferischen“ Initiative der Minderheit schon mit fortreißen lassen und ihrer Leitung folgen. Oder auch, sie wird sich führen lassen von einigen hervorragenden Persönlichkeiten, „energische Männer, die auf den Verlauf der Ereignisse einen großen persönlichen Einfluss ausüben werden können.“H So verleitet die Generalstreikidee zu einer Art ökonomischen Blanquismus; wie der Sozialismus dieser Revolutionäre durch ihre Lösung der Frage der Aneignung der Produktionsmittel, fliegt ihre Demokratie durch den Kultus der Minorität und der Persönlichkeit zum Fenster hinaus.

Es ist nicht ziffernmäßig zu beweisen, dass die Generalstreikillusion die normale Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung zurückgehalten hat. Aber es ist wohl nicht zweifelhaft, dass der Geist, mit dem sie die Gewerkschaften erfüllt, diesen für ihre wichtigste Tätigkeit die Besserung der Arbeitsbedingungen der Arbeiter in der kapitalistischen Gegenwart entschieden hinderlich ist. Wenn die Vorbereitung des Generalstreiks die alleinige Aufgabe des gewerkschaftlich organisierten Proletariats sein soll, muss die Tätigkeit der Gewerkschaften darauf gerichtet sein, jeder Streikbewegung einen so allgemein als möglichen Charakter zu geben, sie zum Vorgefecht der letzten entscheidenden Schlacht zwischen Kapital und Arbeit zu machen. Das System des verallgemeinerten Solidaritätsstreiks geht also ebenso logisch aus den Generalstreikillusionen hervor, wie die regelmäßige Anwendung des ersteren zur Idee des letzteren führt. Die erheblichen Nachteile des als regelmäßige gewerkschaftliche Praxis angewendeten Solidaritätsstreiks für die Entwicklung der Gewerkschaften haben wir schon vorher auseinandergesetzt.

Die Generalstreikidee ist aber deshalb am verderblichsten für die gewerkschaftliche Praxis, weil sie auf das Hineinziehen der Massen zur Organisation und auf die tägliche Kleinarbeit keinen Wert legen kann. Wenn eine Minderheit die Trägerin der Revolution sein kann, wozu die mühevolle, unaufhörliche Arbeit zur Organisation und Erziehung der Massen? Wenn das Heil ohne langwierige Schulung und Übung, durch einen gewaltigen Ausbruch des Widerstandes erreichbar ist, wozu die Plage und Not der täglichen Kleinarbeit?

Die Methoden des politischen Kampfes aber flößen den Anhängern der Generalstreikidee nur Verachtung und Widerwillen ein. Die politische Organisation des Proletariats sowie ihre Vertretung im Parlament scheint ihnen vollkommen nutzlos ja gefährlich, da der parlamentarische Kampf das Proletariat dem wirtschaftlichen Kampfesfeld nur entfremde und des Vertrauens auf eigene Kraft beraube.

Man kann sagen, dass die Idee des revolutionär-ökonomischen Generalstreiks einen ähnlichen Einfluss auf den geistigen Zustand der Arbeitermassen hat wie die Lektüre von Sensationsromanen auf den der Jugend. Sie macht sie überspannt, verschließt ihren Sinn für die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, zerstört jedes gesunde Interesse für das tägliche Leben und die tägliche Arbeit; hält sie zurück vom frisch-fröhlichen Kampf des Augenblicks und konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf die Erwartung des zukünftigen Heiles, wenn sie nicht gar die Kraft des Proletariats in ungenügend organisierten und schlecht geleiteten, zum Fehlschlagen im voraus verurteilten Streikversuchen vergeudet. Die Gewerkschaftsbewegung im Banne der Generalstreikillusion hat keine andre Wahl wie die zwischen fieberhaftem Losschlagen und tatenlosem Erwarten der Zukunft, wobei sich ihre Sehnsucht nur in exaltierten Worten äußern kann.

Die Entfremdung der Arbeitermassen von politischer Betätigung und vom politischen Kampfplatz hat wieder einen nachteiligen Einfluss auf die Sozialdemokratie: sie bringt die Gefahr nahe, der Parteibewegung entweder einen sektiererischen Anstrich zu geben oder kleinbürgerliche Tendenzen in ihr aufkommen und sie auf die Bahn des einseitigen Parlamentarismus drängen zu lassen. Generalstreikillusionismus und parlamentarischer Illusionismus wirken einander in die Hand und stärken sich gegenseitig.

So hält die Idee des revolutionär-ökonomischen Generalstreiks, wird sie auch nie in Erfüllung gehen, das Proletariat zurück vom Kampfe, von seiner Organisation als Klasse und von der täglichen Arbeit, die seine Kräfte stärkt und den Zeitpunkt der proletarischen Revolution beschleunigt.

Seine Anhänger werden anführen, dass ihre Propagierung der Solidarität und der Empörung die revolutionäre Energie im Proletariat anfacht. Dies mag zugegeben werden; die revolutionäre Gesinnung und die Solidarität des Proletariats aber entstammen dem Bewusstsein seiner Lage und seiner historischen Aufgaben; sie können in ihm geweckt und bis zum äußersten gesteigert werden, ohne dass es notwendig wäre, Zuflucht zu gefährlichen Träumen zu nehmen.

A Die Befürwortung einer allgemeinen einmonatlichen Arbeitseinstellung von einigen Führern der Chartistenbewegung gehört nicht hierher, da sie den Streik als Mittel zur Durchführung einiger politischer Reformen. nicht aber zum Sturz des Kapitalismus betrachteten, wie der Chartismus überhaupt keinen sozialistischen Charakter besaß. Siehe des weiteren Kap. V.

B Wie sehr die Generalstreikidee mit der Schwäche der Gewerkschaftsbewegung zusammenhängt, beweist auch die Rede des Abgeordneten Briand zugunsten dieser Idee auf dem Parteitag der sozialistischen Organisationen Frankreichs (Dezember 1899), wo „die Machtlosigkeit, zu der der partielle Streik fast immer verurteilt ist“, ausdrücklich als der Grund der Begeisterung für die Generalstreikidee in der französischen Gewerkschaftswelt hervorgehoben wird. (Enquete du Mouvement Socialiste. S. 206.)

D La Grève générale, Comité de propagande de la Grève générale, S. 8.

E Grève générale réformiste et Grève générale révolutionnaire. Paris. Imprimerie Economique 1902, S. 11.

F H. Girard et F. Pelloutier, Qu’est-ce que la Grève générale? S. 9-10.

G Grève générale réformiste et Grève générale révolutionnaire. Paris. Imprimerie Economique 1902, S. 18.

H Op weg naar een nieuwe Maatschappy, door Christiaan Cornelissen, S. 117. Der Satz scheint eher der Auffassung eines Ibsenschen Individualisten wie eines modernen Sozialisten zu entsprechen.

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