I. Was ist der Generalstreik?

I. Was ist der Generalstreik?

Der Generalstreik steht seit einigen Jahren für die Sozialdemokratie auf der Tagesordnung. Dreimal hat ein internationaler Kongress sich mit ihm beschäftigt und versucht, die Anschauungen der Sozialdemokratie über den Generalstreik in einer Resolution festzulegen. Nationale Parteitage, unter anderem in Holland und Österreich, haben dasselbe getan; in Deutschland ist seine Erörterung auf dem nächsten Parteitage beschlossen worden. In unsern Tages- sowie unsern wissenschaftlichen Blättern werden ihm zahlreiche Artikel gewidmet. Verschieden sind die Meinungen und groß die Meinungsdifferenzen. Neue Tatsachen drängen zu erneuter Untersuchung, zur Wandlung lang feststehender Ansichten. Aus alledem geht hervor, dass die Sozialdemokratie sich bewusst wird, von welch großer Bedeutung die Frage des Generalstreiks für sie ist. Sie ist ein wichtiges theoretisches Problem, denn sie berührt die verschiedenen Auffassungen innerhalb der Partei über die wahrscheinliche Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Klassengegensätze Sie ist zugleich eine praktisch-wichtige Frage, weil die Arbeiter wissen müssen, ob sie, um den Ansturm ihrer Feinde zum Stehen und zum Weichen zu bringen, in gewissen Lagen von dieser Waffe Hilfe erwarten dürfen oder nicht.

Jede Erörterung über den Generalstreik wird aber bedeutend erschwert durch den unbestimmten Sinn des Wortes. Es ist zu einem Sammelausdruck für gar sehr verschiedene Dinge geworden, dessen Inhalt nach der Zeit und dem Lande wechselt. Das Wort hat einen andern Sinn in Deutschland wie in Frankreich, in Belgien wie in Spanien bekommen. Ein französisches Parteiorgan. der Mouvement Socialiste hat jüngst eine internationale Enquete über den Generalstreik abgehalten, die viel beachtenswertes Material zusammenbrachte. Es nimmt aber nicht wunder, dass die Lektüre des Ganzen einen ziemlich konfusen Eindruck hinterlässt, da der Sinn des Wortes „Generalstreik“ von den einzelnen Teilnehmern ganz verschieden interpretiert wird. Wie elastisch dieser Sinn schon allein in Frankreich ist, geht aus folgender Erörterung des Genossen Lafargue hervor:

Während einer gewissen Zeit bedeutete Generalstreik das Streiken aller Arbeiter einer Gewerkschaft über das ganze Land, zum Beispiel der Bergarbeiter oder Eisenbahner; später bedeutete er den Streik der Arbeiter einer Gewerkschaft in einer Gegend oder in einem Ort; und endlich ist das Wort dahin gelangt, sogar den Streik der Arbeiter einer einzigen Fabrik zu bedeuten. Es wird das Wort Generalstreik jetzt häufig für irgend einen beliebigen Streik gebraucht.“

In derselben Enquete zählt Genosse Iglesias sechs verschiedene Arten von Streiks auf, auf die seines Erachtens der Ausdruck Generalstreik passt. „Es sind dies: erstens der Streik aller Arbeiter eines Gewerbes oder einer Gruppe verwandter Gewerbe in einem Ort. Zweitens: der Streik der Angehörigen aller Gewerbe in einem Ort. Drittens: der Streik der Arbeiter eines oder mehrerer verwandter Gewerbe in einer Gegend oder einem Lande. Viertens: der Streik der Arbeiter aller Gewerbe in einer Gegend oder einem Lande. Fünftens: der Streik der Arbeiter eines Gewerbes in allen Ländern. Endlich: der Streik, der nach der Ansicht gewisser Leute an einem Tage von den Arbeitern aller Gewerbe durchgeführt werden wird in allen Ländern, wo das kapitalistische System herrscht.“

Es ist klar, dass verschiedene Arten von Streiks, die Iglesias unter dem Namen „Generalstreik“ zusammenfasst, diesen Namen nur in beschränktem Masse verdienen. Sie sind sowohl allgemein wie beschränkt; allgemein gegenüber einem beschränkteren, beschränkt gegenüber einem mehr ausgedehnten Streik. Der Streik aller Arbeiter eines Gewerbes in einer Gegend oder einem Lande zum Beispiel ist allgemein gegenüber dem Streik der Arbeiter eines Gewerbes in einem Ort, aber beschränkt gegenüber dem Streik der Arbeiter aller oder einer Anzahl Gewerbe eines Landes.

Aber die Frage des mehr partiellen oder generellen Charakters, das heißt der größeren oder geringeren Ausdehnung, ist es nicht, was die Sozialdemokratie in erster Linie an dem „Generalstreik“ interessiert. Ob es für die Arbeiter eines Gewerbes oder einer Gruppe verwandter Gewerbe zweckmäßig sei, einen Streik so partiell oder so generell als möglich zu führen, ihn auf einen Betrieb zu beschränken oder über einen Ort oder eine Gegend auszudehnen, das ist eine Frage der gewerkschaftlichen Leitung. Will man jeden Streik der Arbeiter eines Gewerbes in einem Ort oder einer Gegend Generalstreik nennen, so ist dagegen in sprachlicher Beziehung nicht viel einzuwenden. Aber bei der Untersuchung des Problems, wie Sozialdemokratie und Generalstreik sich zueinander verhalten, ist vom Generalstreik in diesem Sinne nicht die Rede. Was die Sozialdemokratie unter Generalstreik versteht, ist nicht sowohl ein Streik von besonderer Ausdehnung, wie aus besonderen Gründen und mit besonderen Zielen. Der gewöhnliche Grund des gegen die Unternehmer gerichteten Streiks ist der Wunsch der Arbeiter eines Gewerbes, entweder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durchzusetzen oder ihrer Verschlechterung entgegenzuwirken, dies zu erreichen sein Ziel. Wir nennen diesen einen ökonomischen Streik. Aber es gibt Streiks, deren Grund proletarisches Klassengefühl und Solidarität, deren Ziel die Eroberung ökonomischer Vorteile für Arbeiter eines andern Gewerbes ist: der Sympathie- oder Solidaritätsstreik. Es gibt auch Streiks, deren Grund politisches Klassenbewusstsein, deren Ziel die Hebung der Lage der ganzen Arbeiterklasse, die Eroberung politischer Freiheiten und Rechte, oder der Widerstand gegen Angriffe auf solche ist: der politische Streik. Und endlich gibt es die Idee eines Streiks, dessen Grund die absolute Solidarität aller Proletarier, dessen Ziel der Sturz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sein würde: der absolute Generalstreik als soziale Revolution.

Nicht über die Zweckmäßigkeit des mehr beschränkten oder mehr allgemeinen Charakters des ökonomischen Berufsstreiks, sondern über ihr eigenes Verhalten zum Solidaritäts- und zum politischen Streik, sowie zu der Idee des absoluten Generalstreiks, ist es, worüber die Sozialdemokratie sich klar werden muss.

Wir bemerkten, dass es keine feste Grenzlinie gibt zwischen partiellem und generellem Streik, Aber auch zwischen ökonomischem und politischem Streik gibt es keine solche, kein unverrückbares Hüben und Drüben. Ein ökonomischer, das heißt ein zum Zwecke der Eroberung besserer Arbeitsbedingungen gegen die Unternehmer gerichteter Streik kann politische Wirkungen hervorbringen. Er kann dies, wenn er, entweder durch Ausdehnung oder Eigenart des Gewerbes, worin er stattfindet, sich in seinen Konsequenzen zu allgemein-gesellschaftlicher Bedeutung erweitert, zu einer politischen Angelegenheit wird. Was bleibt also von unsern Betrachtungen ausgeschlossen? Der rein ökonomische Streik von nur lokaler oder sonst im gesellschaftlichen Leben untergeordneter Bedeutung, ob er nun mehr partiell oder mehr generell ist. Die Zahl der Streikenden allein ist hierbei nicht maßgebend: es kann der Streik einiger tausend Eisenbahnarbeiter von größerer gesellschaftlicher Bedeutung sein wie der Streik von einer fünf- oder zehnmal größeren Arbeiterzahl in einem andern Gewerbe. Zwar schlägt auch hier die Quantität in Qualität um, aber der Punkt, wo dies geschieht, hängt ab von der Natur des Gewerbes, seiner Unerlässlichkeit im Produktionsprozess.

Es gehört also meines Erachtens hierher eine Untersuchung der nachfolgenden Arten von Streiks:

Erstens: der Streik aus Solidarität, aus Klassengefühl, weil er undenkbar ist ohne gewisse sozialistische Gesinnung, und aus dieser hervorgeht. Also der verallgemeinerte Sympathie- oder Solidaritätsstreik (grève généralisée).

Zweitens: die Idee eines, mit gewissen Arten des verallgemeinerten Solidaritätsstreiks zusammenhängenden, seine Ausdehnung ins Grenzenlose bildenden, ökonomisch-sozialen Generalstreiks, der von den Anarchisten und revolutionären antiparlamentarischen Gewerkschaften gepredigt wird als die Entscheidungsschlacht zwischen Kapital und Arbeit: die soziale Revolution.

Drittens: der durch seine Tragweite zur öffentlich gesellschaftlichen, also politisch sozialen Angelegenheit werdende ökonomische Massenstreik, der die Produktion von unentbehrlichen Produktions- und Konsumtionsmitteln in hohem Masse beeinträchtigt (Streik der Bergarbeiter, Landarbeiter usw.) oder den Kreislauf des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens lahm legt (Streik der Hafenarbeiter, Eisenbahnarbeiter usw.): also der ökonomische Streik mit politischen Folgen.

Viertens: der Streik, der die politisch-sozialen Verhältnisse bewusst beeinflussen, eine Waffe des Angriffs oder der Verteidigung im proletarischen Emanzipationskampfe gegen den bürgerlichen Staat sein will: der politische Massenstreik.

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